Der Zweig am Baumstumpf

Predigt über Jesaja 11,1‑2 zum 2. Weihnachtsfeiertag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Jedes Jahr singen wir mit einem der ältesten und be­kanntesten Weihnachts­lieder: „Es ist ein Ros entsprungen / aus einer Wurzel zart; / wie uns die Alten sungen: / Von Jesse kam die Art, / und hat ein Blümlein bracht / mitten im kalten Winter / wohl zu der halben Nacht.“ So hat es auch unser Chor seit einigen Wochen geübt und am Heiligen Abend zur Ehre Gottes vor­getragen. Bei einer der letzten Übungs­stunden erzählte unsere Chor­leiterin, dass sie einmal auf dem Weihnachts­programm einer Gemeinde diese Strophe abgedruckt gesehen hatte mit dem Text: „Es ist ein Ross ent­sprungen.“ Offenbar konnte sich derjenige, der den Text abgetippt hat, unter einem „Ros“ nichts vorstellen. Wenn eine Rose gemeint ist, wie sollte die denn ent­springen? Nun, es ist weder ein Ross noch eine Rose gemeint, sondern „Ros“ bedeutet „Reis“ im Sinne von „Zweig“.

Wenn wir uns das Bild vor Augen führen wollen, das diese Strophe malt, müssen wir uns eine Winternacht auf freiem Feld vorstellen. Es ist schneidend kalt, der Wind bläst. Auf diesem Feld steht ein Baumstumpf. Wenn wir an ihn herantreten und ihn genau betrachten, dann entdecken wir da ein kleines Wunder: Mitten im Winter, mitten in der Nacht hat sich da eine kleine Knospe gebildet mit jungen grünen Blättern, die im Begriff ist, zu einem Zweiglein heranzuwachsen, zu einem „Ros“. Dieses Bild ist viel älter ist als das Lied. Gott selber hat uns dieses Bild durch den Propheten Jesaja gegeben, der damit die Geburt des Erlösers viele Jahr­hunderte im Voraus ankündigte: „Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.“ Der Baumstumpf, nämlich der Rest des Stammes mit den Wurzeln, das ist in diesem Bild die menschliche Vorfahren­reihe von Maria und Joseph; das ist die Sippe, in die Jesus hinein­geboren wurde. Wir hören ja jedes Jahr in der wohl­vertrauten Weihnachts­geschichte, dass Josef und Maria „vom Hause und Geschlechte Davids“ waren. Es war ein vornehmes Geschlecht, eine königliche Familie, die direkte Nachfahren­reihe der berühmten und mächtigen Dynastie Davids. Weil König Davids Vater Isai hieß, wird die Familie in dem Propheten­wort „Stamm Isai“ genannt, und in dem Lied – etwas abgewandelt – „Wurzel Jesse“.

Dieses Bild vom winterlich-nächtlichen Baumstumpf, aus dem – o Wunder! – eine grüne Knospe hervor­bricht, passt so recht in unsere weihnacht­liche Stimmung. Was daran so fasziniert, das ist der Kontrast zwischen der rauhen, kalten, dunklen Umgebung und dem neuen, zarten, jungen Leben, das sich allen Natur­gewalten zum Trotz zeigt. So sehen wir auch gern in Gedanken den Stall von Bethlehem: Eine rauhe, dunkle, kalte Nacht, und inmitten dieser Nacht eine kleine Oase, eine Idylle, eine von warmem Lampenlicht erhellte Krippe, bei der in trauter Harmonie Maria und Josef stehen. Selbst die Tiere, die da gemütlich Stroh und Hafer fressen, tragen zu dieser warmen Atmosphäre bei. Bei diesem Bild darf man durchaus bezweifeln, ob es der damaligen Wirklich­keit entspricht, ob es also wirklich so harmonisch und gemütlich war, als Maria sich in einer Not­unterkunft von den Strapazen der Geburt erholte und gleich­zeitig auch schon für das Kind sorgen musste; als Josef sorgenvoll an die Kälte der Nacht, an den Ölvorrat in der Lampe und an die nächste Zukunft seiner jungen Familie dachte. Aber eines stimmt auf alle Fälle an dem Bild, das wir uns machen, weil es mit Jesajas Bild überein­stimmt: Da ist das zarte Pflänzchen eines jungen Lebens im Kontrast zu einer rauhen, feindlichen Wirklich­keit, die es umgibt.

Liebe Gemeinde, wir wissen, dass es zu Weihnachten nicht in erster Linie um Christ­bäume, Geschenke, Kerzen­schein und gutes Essen geht. Wir wissen, dass die Hauptsache das Christkind ist, und deshalb ist es gut und richtig, wenn wir uns vor unseren geistigen Augen mit diesen Weihnachts­bildern be­schäftigen: mit Jesajas Bild vom Baumstumpf und mit dem Bild vom Kind in der Krippe. Aber immer noch würden wir den Sinn von Weihnachten verfehlen, wenn wir beim zarten Reis und beim neu­geborenen Jesus stehen­bleiben würden, wenn wir den Blick nicht weiter richteten und fragten: Was wird denn nun aus diesem Reis, das da zu so einer unmöglichen Jahreszeit entspringt? Muss es nicht eingehen, erfrieren? Jesajas Wort bleibt darum nicht beim Reis stehen, sondern redet gleich an­schließend davon, dass der Zweig aus dieser Wurzel Frucht bringen wird. Das Reis geht nicht ein, sondern wird zu einem aus­gewachsenen Ast, der zu seiner Zeit blühen und Frucht bringen wird.

Wenn wir die Knospe in der Winternacht und das Kind in der Krippe vor unserem geistigen Auge sehen, dann sollen wir zugleich daran denken, dass in diesem zarten Leben bereits die ganze Fülle seiner Entfaltung angelegt ist. Von den Pflanzen wissen wir: In den Zellkernen auch der winzigsten Knospe ist bereits der ganze Bauplan für die ausgewachsene Pflanze vorhanden. Und in jeder kleinen Knospe steckt auch eine ungeheure Lebens­kraft! Ein Gemeinde­pfarrer erzählte mir einmal folgendes: Auf seinem Pfarr­grundstück wurde eine Fläche asphal­tiert, damit die Autos dort besser parken können. Nach wenigen Wochen jedoch bekam der Asphalt Risse und Beulen. Was war geschehen? Unter der Asphalt­decke waren Löwenzahn­samen gewesen. Sie waren auf­gegangen, und nun drängten die jungen Pflänzchen mit aller Gewalt nach oben, ans Licht. So stark war ihre Lebens­kraft, dass sie sogar die Asphalt­decke durch­brachen!

Auch im neu geborenen Jesuskind lag bereits die ganze Fülle seiner Lebens­kraft. Es ist eine Geistes­kraft. Deshalb prophezeite Jesaja: „Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit uns des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.“ Zwar wurde dieser Geist erst zu Jesu Taufe offenbar, nämlich in Gestalt einer Taube; zwar erkannte man das Wirken dieses Geistes erst in den darauf folgenden Jahren an der Wirksamkeit des inzwischen erwachsenen Jesus von Nazareth. Aber bereits in dem kleinen hilflosen Baby schlummerte dieser Geist.

Ich rede von einem Geist; waren es nicht aber in Wahrheit sieben Geister, die auf Jesus ruhten? Sehen wir uns den Vers im Einzelnen genauer an: Der „Geist des Herrn“ ist Gottes Geist, der eine Heilige Geist, den wir im Glaubens­bekenntnis als dritte Person der Dreieinig­keit bekennen. Von ihm heißt es, dass er auf dem kommenden Erlöser ruhen wird. Hinter dieser Aussage müssen wir uns einen Doppelpunkt denken, denn nun weissagt Jesaja, was das bedeutet, was also die Gaben dieses Geistes beim Messias sind. Sie sind dabei in drei Begriffs­paare geordnet. Es geht hier also nicht um sieben Geister, die auf dem Messias ruhen, sondern es ist der eine Gottes­geist, dessen Eigen­schaften in drei Begriffs­paaren beschrieben werden! Das erste Paar lautet: „Geist der Weisheit und des Ver­standes“. Weisheit und Verstand muss einer haben, der andere unterweisen und geistig führen will, wie es Jesus mit seinen Reden, Predigten und Gleich­nissen getan hat. Jesus trat damit als ein Prophet auf. Das Wort Prophet bezeichnet in der Bibel all jene Menschen, die, von Gott geleitet, weise und verständig lehren. Das zweite Paar lautet: „Geist des Rates und der Stärke“. Guten Rat gute Pläne muss eine Regierung haben, das merken wir wieder besonders in einer Zeit, in der guter Rat teuer ist. Eine Regierung muss darüber hinaus auch die politische Stärke haben, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Früher war der König die Regierung. Jesus Christus is unser König – auch wenn sein Reich nicht von dieser Welt ist. Aber als König des Himmel­reichs hat er Rat und Stärke, und er beweist dies unter denen, die getauft sind und an ihn glauben, die also gewisser­maßen die Staats­bürger­schaft in seinem Reich haben. Das dritte Paar lautet: „Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn“. Mit Erkenntnis ist Gottes­erkenntnis gemeint; die Erkenntnis dessen, was Gottes Wille ist. Diese Erkenntnis zeichnet zusammen mit Gottes­furcht einen frommen Menschen aus. Aber nur einer war in seiner Frömmigkeit vollkommen: Jesus selbst, dem der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn verheißen wurde. Und nur deshalb konnte er sich selbst als Opfer bringen für unsere Sünden, für unsere Un­frömmigkeit und Gott­losigkeit, für unsere mangelnde Erkenntnis – und sogar mangelnde Kenntnis! – von Gottes Wort sowie auch für unsere mangelnde Gottes­furcht. Damit ist Jesus zum Priester des neuen Gottes­volkes geworden, der sich ein für allemal für alle Sünden geopfert hat. Wer im Konfirmanden­unterricht gut aufgepasst hat, erkennt nun: Die drei Begriffs­paare, die die Gaben des Heiligen Geistes be­schreiben, die stimmen mit den drei Ämtern überein, die Christus innehatte: Prophet, König und Priester!

Wir haben gesehen, dass wir zu Weihnachten nicht beim niedlichen Jesuskind stehen­bleiben dürfen, weil in diesem Zweiglein schon die Geistes­kraft des aus­gewachsenen Astes Jesus Christus angelegt ist. Wir haben weiter gesehen: Die Frucht dieses Astes, die Jesaja prophe­zeite, das ist die Lehre des Propheten Jesus Christus, die Herrschaft des Königs Jesus Christus und vor allem das Opfer des Priesters Jesus Christus, das alle Glaubenden vollkommen von Sünde reinigt. Wir können aber noch weiter gehen und sagen: Die Frucht sind wir selber! Denn wir hören ja auf die weise Lehre des Propheten Jesus Christus, wir sind in der Taufe in den Herrschafts­bereich des gnädigen Königs Jesus Christus gekommen, wir haben durch das Opfer des Priesters Jesus Christus die Vergebung Sünden! Mit dem Geburtstag Jesu feiern wir letztlich unseren eigenen geistlichen Geburtstag! Da liegt der eigentliche Sinn von Weih­nachten: Jesu Geburt ist der Anfang unserer geistlichen Geburt, also unserer Geburt zum ewigen Leben. Und mit dieser geistlichen Geburt, die sich an jedem einzelnen von uns in der Taufe vollzogen hat, sind wir selber zu einem Ros, einem Reis, einer Knospe und einem Zweiglein geworden, in dem schon die ganze Fülle und die ganze Kraft der aus­gewachsenen Pflanze angelegt ist. Ja, auch wir haben den Heiligen Geist, auch wir haben einen Gutteil von seinen Gaben abbekommen, auch, wenn unser Glaubens­leben vielfach noch in einem Knospen­stadium ist und wir herzlich wenig von unseren Geistes­gaben sehen. Selbst viele alte Christen sind in dieser Beziehung oft noch wie Neu­geborene!

So möchte ich uns Glaubens­knospen am Ast Jesus Christus zum Schluss zu drei Dingen ermuntern. Erstens: Haben wir Mut zur Kleinheit! Verzagen wir nicht an unserer eigenen Glaubens­schwäche und daran, dass in unserem Leben und in unserer Kirche oft so wenig vom Wehen des Geistes zu sehen ist! Eine Knospe ist noch keine aus­gewachsene Pflanze! Aus­gewachsen werden wir erst im Paradies sein. Zweitens: Haben wir Mut zum Wachsen! So klein eine Knospe auch ist, sie wächst. Sie wächst dadurch, dass sie vom Ast, an dem sie ist, den lebens­wichtigen Saft erhält. Unser Ast ist Jesus Christus. Lasst uns reichlich von seinem Lebenssaft Gebrauch machen; lasst uns nicht müde werden, mit unserem Christen­leben weiter­zukommen, die Lehre Christi zu studieren, die Gottes­dienste zu besuchen, das Abendmahl zu feiern, ernsthaft und intensiv zu beten! Drittens: Haben wir Geduld! Eine Pflanze braucht Zeit, bis sie aus­gewachsen ist. Haben wir Geduld mit unseren kleinen Fort­schritten sowie auch mit den Rück­schlägen im Glaubens­leben! Haben wir Geduld, bis wir aus­gewachsen sind und Christus wieder­kommt! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1982.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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