Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Zwei Christen diskutieren heftig miteinander. Es geht darum, was das Christsein ausmacht. Christ A meint: Das Entscheidende ist die Freiheit, darum ist ein Christ ein völlig freier Mensch und niemandem untertan. Christ B widerspricht: Nein, das Entscheidende am Christentum ist die Liebe, denn das zentrale Gebot lautet: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Darum ist ein Christ in jeder Beziehung ein Diener; er opfert sich für seine Mitmenschen auf und ist ihnen grundsätzlich untertan. Stellt euch vor, ihr solltet Schiedsrichter sein: Wer von beiden Recht hat – Christ A oder Christ B?
Christ A hat recht. Ein Christ ist in der Tat ein völlig freier Mensch und niemandem untertan. Darüber lässt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Galater nicht den geringsten Zweifel. Er schreibt: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ Nun ist allerdings das Wort „Freiheit“ heute durch wiederholten Missbrauch zu einer leeren Worthülse geworden; sie muss erst wieder mit Inhalt gefüllt werden. Dazu hilft uns der Zusammenhang, in dem dieses Bibelwort steht. Paulus schrieb für Christen, die in der Gefahr standen, ihre Freiheit zu verlieren. Er warnte: „Lasst euch nicht wieder in das Joch der Knechtschaft fangen!“ Das „Joch der Knechtschaft“ bestand darin, dass die Galater sich von dahergelaufenen Menschen Vorschriften machen ließen, was sie als Christen zu tun hätten. Man forderte sie auf, alle möglichen jüdischen Vorschriften zu beachten und sich beschneiden zu lassen; nur so könnten sie bei Gott Wohlgefallen erlangen und gerettet werden. Paulus wehrt diese Ansicht entschieden ab und weist auf ihre Gefährlichkeit hin. Er schrieb: „Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.“
Nun hatte Paulus keineswegs etwas gegen die Beschneidung als solche. Er selbst war als Jude beschnitten, und er hatte auch noch nach seiner Bekehrung aus bestimmten Gründen befürwortet, dass sein Mitarbeiter Timotheus beschnitten wird. Wenn Paulus hier so allergisch auf die Beschneidung reagiert, dann hat das einen bestimmten Grund. In der geschilderten Situation war die Beschneidung zum Kennzeichen für eine Haltung geworden, die dem Evangelium widersprach – die Haltung nämlich, dass ein Mensch auf dem Wege des Gesetzes selig werden will.
Die Bibel zeigt uns ja grundsätzlich zwei Wege auf, wie man am Jüngsten Tag mit weißer Weste von Gott dastehen und das ewige Leben im Paradies erlangen kann. Der eine Weg ist eben dieser Weg des Gesetzes. Wer auf ihm das Ziel erreichen will, der muss hundertprozentig nach Gottes Geboten leben und darf keine einzige Sünde begehen. Wer nur einmal ein klein wenig lieblos ist oder ein klein wenig unehrlich, der macht sich damit bereits unheilig und ist es nicht wert, in Gottes ewigem Reich zu leben. Wir merken: Auf diesem Weg kann kein Mensch zum Ziel kommen. Der zweite Weg ist da aussichtsreicher. Es ist der Weg des Glaubens an Jesus Christus. Jesus hat ja auf Golgatha all unsere Unheiligkeit auf sich genommen – mit allen Konsequenzen bis hin zum bitteren Tod. Wer das glaubt, dem sind die Sünden vergeben, und er steht rein und heilig vor Gott da, auch wenn sein Lebenswandel nicht rein und heilig ist.
Genau diesen Glauben drohten die Galater zu verlieren. Sie hatten sich beschwatzen lassen, es doch wieder auf dem Weg des Gesetzes zu versuchen, und das Kennzeichen dieses Weg war für sie die Beschneidung. Jetzt merken wir, warum Paulus so allergisch reagierte. Wer auch nur eine einzige Sache aus dem Grund tut, weil er sich damit die Seligkeit verdienen will, der betritt damit den Weg des Gesetzes und verlässt den Weg des Glaubens. Zugleich verachtet er das, was Christus für ihn getan hat. Paulus schrieb: „Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen.“
Jetzt erkennen wir auch, was Paulus mit Freiheit meint. Es ist die Freiheit vom Zwang, Gottes Gesetz erfüllen zu müssen, um nicht mit ewiger Verdammnis bestraft zu werden. Die ganze Gewissenslast, die Angst vor Gottes Strafe und vor der Hölle, ist uns abgenommen. Auch wenn wir in Gottes Augen noch so große Versager sind (und vielleicht auch in den Augen von anderen Menschen und in unseren eigenen Augen), bleiben wir dennoch Gottes geliebte Kinder. Auch wenn noch so viel schief geht in unserem Leben und wenn wir im Kampf gegen die Sünde noch so oft versagen, steht uns der Himmel offen. Das haben wir Christus zu verdanken. Wenn wir an ihn glauben, sind wir gerettet. Wir sind frei davon, uns vor Gott und den Menschen rechtfertigen zu müssen, weil wir durch Christus gerechtfertigt sind.
Diese Freiheit und dieses Aufatmen hat vor 500 Jahren ein Mönch in ganz wunderbarer Weise erfahren. Er hieß Martin Luther. Er lebte in einer Zeit, als der Weg des Gesetzes noch viel heftiger gepredigt wurde als bei den Galatern. Der ganze römische Katholizismus und das Papsttum waren damals von der Predigt des Gesetzesweges verseucht. Und wie zu Zeiten des Paulus die Beschneidung das Kennzeichen der Gesetzesgerechtigkeit war, so war es zu Luthers Zeiten der Ablasshandel. Der Ablasshändler Tetzel predigte mit dem Segen der Papstkirche: „Wenn das Geld im Kasten klingt, gleich die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel springt.“ Die Leute glaubten das. Sie meinten, wenn sie für teures Geld Ablassbriefe kauften, dann könnten sie damit für sich und auch für ihre Angehörigen Sündenstrafen tilgen. Luther erkannte bald: Wer Ablass zahlt und und denkt, damit vor Gott gerecht zu werden, der hat Jesus und den Weg des Glaubens verloren. Ja, Luther erkannte, welche seelenverderbende Irrlehre sich da ausgebreitet hatte. Deshalb konnte er nicht schweigen, sondern reagierte wie einst Paulus mit klaren Worten auf diesen Missstand. Luther wollte seine Kirche zur Vernunft bringen, so wie es Paulus damals bei den Galatern versuchte. Leider waren die Vertreter der Papstkirche blind für das Wort Gottes; überdies waren sie geldgierig. Sie waren zu sehr jahrhundertealten Irrtümern und Missständen verfallen, als dass sie der von Luther wieder entdeckten christlichen Freiheit neues Hausrecht in der Kirche gewährt hätten. So verurteilten sie Luther als Ketzer. Es entstanden dann evangelische Kirche, von denen die lutherische am konsequentesten das Banner der christlichen Freiheit auf dem Weg der Glaubensgerechtigkeit hochhielt.
Und wie sieht es heute aus? Wird heute allerorten die christliche Freiheit verkündigt, geglaubt und gelebt? Die römisch-katholische Kirche verkauft zwar keine Ablassbriefe mehr (oder jedenfalls nicht mehr so öffentlich wie damals), aber bis heute nennt sie in ihren offiziellen Lehrdokumenten Luthers Lehre Ketzerei. Bis heute legen römisch-katholische Priester den Beichtenden bestimmte Bußübungen auf, von denen sie die Gültigkeit der Vergebung abhängig machen. Für einen Ehebruch oder für eine Lüge müssen dann zum Beispiel soundsoviele Rosenkränze gebetet werden. Es ist übrigens ein unerträglicher Missbrauch des Gebets, wenn es als Strafe auferlegt wird – wo es doch eigentlich ein großes Vorrecht ist, mit allen Anliegen vor Gott kommen dürfen. Beschneidung, Ablass, Rosenkranz als Bußübung – das liegt alles auf einer Linie. Wer diese oder andere Dinge tut, um vor Gott besser dazustehen, der hat damit bewusst oder unbewusst den Weg des Gesetzes beschritten und den Weg des Glaubens verlassen. Er traut dann nämlich dem Opfer Jesu Christi nicht mehr zu, dass es die vollständige Genugtuung für alle Sünden darstellt. Bei aller berechtigten Sehnsucht nach Ökumene, also nach gelebter Einheit der Kirche, muss heute am Reformationsfest deutlich auf solche Missstände hingewiesen werden dürfen, wie auch Paulus und Luther es in ihren Zeiten taten.
Allerdings dürfen wir nicht bei den Katholiken stehenbleiben, wenn wir überall dort mahnen wollen, wo die christliche Freiheit unter allerlei Gesetzesforderungen verloren zu gehen droht. Der Mensch hat offensichtlich einen unseligen inneren Trieb, aus eigener Kraft etwas vor Gott darstellen zu wellen. So wird der Weg des Gesetzes heutzutage unter den verschiedensten Kennzeichen beschritten. Da pflegen manche eine Werkgerechtigkeit des umweltfreundlichen Verhaltens oder der vegetarischen Ernährung und behaupten, wer da nicht mitmache, der sei kein richtiger Christ. Da gibt es auch das Kennzeichen einer gewissen bürgerlichen Frömmigkeit, die in der Kirche eine Art Seelen-Versicherung sieht. Geldspenden, ein gelegentlicher Gottesdienstbesuch und das Bemühen, ein anständiger Mensch zu sein, wird dann als Weg der Erlösung angesehen. Gegen solche und andere Tendenzen der Gesetzlichkeit will ich noch einmal klar bezeugen: Erst wenn ein Mensch erkennt, dass er mit seinem Denken, Reden und Handeln keine Pluspunkte bei Gott sammeln kann, ist er frei vom „Joch der Knechtschaft“ und vom Fluch der Sünde. Hüten wir uns davor, irgendetwas zu tun mit der Absicht, Gott gnädig zu stimmen. Er ist uns gnädig – aber nicht wegen unseres Verhaltens, sondern allein wegen Christus. Unser Hauptproblem, die Sünde, ist gelöst, und das ewige Leben ist uns sicher, wenn wir nur an Christus festhalten. Wir sind frei und können aufatmen.
Christ A hat in der Diskussion behauptet: Das Entscheidende am Christsein ist die Freiheit. Er hat recht. Aber Christ B hat deswegen nicht Unrecht. Wir erinnern uns: Christ B hat der Liebe den entscheidenden Platz eingeräumt und daraus gefolgert, dass ein Christ grundsätzlich jedem Menschen untertan ist. Paulus machte das den Galatern im letzten Vers unseres Gotteswortes ganz nebenbei deutlich – mit einem Satz, den man leicht überliest. Er schrieb: „In Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“ Wo man an Christus glaubt, da herrscht auch Liebe, denn wer erfahren hat, was Christus für ihn tat, der weiß, wie wunderbar segensreich aufopfernde Liebe sein kann. Dann bekommt man Lust, seinerseits zu lieben. Man macht sich dann zum Knecht der anderen Menschen; oder besser: zu ihrem Diener. Ja, der Glaube dient aus Liebe. Diese Liebe gehorcht Gottes Gesetz – demselben Gesetz, das im Hinblick auf den Weg der Gesetzesgerechtigkeit von Paulus so scharf abgelehnt wurde. Der große Unterschied ist aber: Auf dem Weg der Gesetzesgerechtigkeit steht der Mensch unter dem Muss des Gesetzes, auf dem Weg der Glaubensgerechtigkeit dagegen unter dem Dürfen. Die Seligkeit hat der Glaubende ja schon geschenkt bekommen und braucht sie sich nicht mehr zu verdienen. Wenn er nun das Gesetz tut, dann deshalb, um auf diese Weise anderen Menschen etwas von der Liebe Christi weiterzugeben.
Zum Schluss möchte ich euch noch verraten, dass die beiden Aussagen, die ich anfangs den Christen A und B in den Mund gelegt habe, in Wirklichkeit von ein und demselben Mann stammen. Er heißt – wie könnte es anders sein – Martin Luther. Im Jahre 1520, als die Reformation in vollem Gang war, verfasste er eine Schrift mit dem Titel „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Darin hat er diese beiden Sätze entfaltet: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“ Und: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Amen.
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