Ein Gelähmter wird gesund

Predigt über Apostelgeschichte 3,1‑8 zum 12. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

An diesen Tag wird sich der Geheilte sein Leben lang erinnert haben, und er wird immer wieder davon erzählt haben. Vielleicht erzählte er noch seinen Enkeln von diesem Tag und von dem, was vorausging, so wie Großeltern stets gern von Vergangenem berichten. Der Geheilte könnte dann etwa Folgendes gesagt haben.

Ihr Enkel, stellt euch vor, als ich so alt war wie ihr, da konnte ich nicht laufen, denn meine Beine waren gelähmt. Das war schon von Geburt an so gewesen. Ich konnte nicht mit anderen Kindern herum­springen und spielen. Und wenn ich etwas haben wollte, dann musste ich jemanden bitten, es mir zu bringen. Solange meine Eltern lebten, sorgten sie für mein Essen und für die anderen lebens­notwendigen Dinge, aber nach ihrem Tod musste ich mich selbst um meinen Lebens­unterhalt kümmern. Als Gelähmter konnte ich nicht arbeiten, und so blieb mir nichts anderes übrig als zu betteln. Ein paar Freunde trugen mich immer an einen Ort, wo viele Leute vorbei­kamen, und setzten mich dorthin. Ich sprach dann die Leute an und bat sie, mir etwas Geld zu geben. Zwar gaben mir einige etwas, aber sie sahen mich dabei immer ganz komisch an; sie sahen regelrecht auf mich herab. Manche blickten auch verlegen weg. Wieder andere schauten mich verächtlich an, und ich konnte von ihren Blicken ablesen, was sie dachten. Sie dachten: Dieser Mann muss ja ein ganz großer Schurke sein und viel Schuld auf sich geladen haben, dass Gott ihn so gestraft hat. Ich hatte viel zu leiden unter den Blicken der Menschen, aber ich hatte keine andere Wahl, ich musste mich ihnen aussetzen, denn ich war auf ihre Almosen angewiesen.

Liebe Gemeinde, lasst mich an dieser Stelle den Bericht des Geheilten kurz unter­brechen und an euch die Frage richten: Wie seht ihr Leute an, die euch anbetteln? Und spielt es für euch eine Rolle, ob der Bettler durch eigene Schuld in seine betrübliche Lage gekommen ist? Denkt mal darüber nach und beobachtet euch selbst! - Nun soll aber Geheilte wieder zu Wort kommen.

Ihr Enkel, mit der Zeit bekam ich so eine Art Berufs­erfahrung. Ich fand heraus, an welchen Stellen und zu welchen Zeiten ich das meiste Geld einnehmen konnte. Der beste Platz war der Tempel, und zwar der Eingangs­bereich an der sogenannten Schönen Pforte. Dieses wunder­schöne Tor ist ja eine Sehens­würdigkeit, und deshalb kommen die meisten auswärtigen Besucher da vorbei: reiche Juden aus dem Ausland und Freunde des jüdischen Volkes, die sich so eine Pilgerreise nach Jerusalem leisten können. Diese Leute müssen nicht auf den Pfennig achten und sind beim über­wältigenden Anblick der Tempel­anlage auch in Geberlaune. Ich ließ mich zu den üblichen Gebets­zeiten zur Schönen Pforte bringen, wenn die Tempel­besucher von auswärts sowie die Einwohner Jerusalems zum Beten in den Tempel strömten - also meistens morgens, mittags und abends. Ihr wisst ja, dass man dreimal täglich beten soll. Meistens kamen sie mit frommen Gedanken und gingen dann nicht achtlos an einem Bettler vorüber. An dem Tag, als das große Wunder geschah, hatte man mich gegen drei Uhr nachmittags an die Schöne Pforte gesetzt, und es kamen bereits die ersten Juden, um ihr Abendgebet zu verrichten.

Liebe Gemeinde, das regelmäßige Gebet der Juden braucht nicht als über­triebene Frömmelei oder Werk­gerechtig­keit angesehen zu werden; es hat sein gutes Vorbild im Alten Testament, zum Beispiel bei Daniel. Auch die ersten Christen in Jerusalem hielten an der Sitte fest, dreimal täglich zum Beten in den Tempel zu gehen. Gewohnheit ist ja nichts Schlechtes. Wenn wir feste Gebets‑ und Andachts­zeiten haben, dann bekommt unsere geistliche Nahrungs­aufnahme sowie auch unser Gespräch mit Gott eine schöne Regel­mäßig­keit. Solche Regel­mäßig­keit hilft dabei, auch in Zeiten, in denen wir den Glauben nicht so intensiv fühlen, den Kontakt mit Gott nicht zu verlieren. Diese Regel­mäßig­keit hilft uns auch, in hektischen Zeiten nicht am falschen Ende Zeit sparen zu wollen. Wenn wir nun täglich Andachten halten, dann sollten wir dafür ebenfalls eine Art Tempel haben. Das muss kein imposantes Kirch­gebäude sein; ein ungestörter Raum in der eigenen Wohnung tut es auch. Wir sollten dort alles aus unserem Gesichts­kreis verbannen, was uns ablenken könnte, und stattdessen ein Kruzifix oder ein passendes Bild aufstellen, das zur Konzen­tration helfen kann. Wenn wir in diesem unserem „Tempel“ regelmäßig betend vor Gott treten, folgen wir dem Vorbild der Apostel, wie wir gleich im weiteren Bericht des Geheilten hören werden.

Ihr Enkel, an diesem Tag sah ich unter den Juden, die zum Gebet kamen, zwei besondere Männer. Später erfuhr ich, dass es sich um die Jesus-Jünger Petrus und Johannes handelte. Die sahen zwar nicht so aus, als ob sie besonders reich waren, aber sie blickten so gütig, dass ich mir wenigstens eine kleine Gabe von ihnen erhoffte. So sprach ich sie an: Habt Erbarmen und gebt ein Almosen einem, der von Geburt an gelähmt ist! Die beiden blieben stehen. Ich hatte mich nicht getäuscht. Wenn man sein ganzes Leben lang kaum etwas anderes zu tun hat als Leute zu beobachten, dann bekommt man einen Blick für Gesichter. Harte und ver­schlossene Gesichter sprach ich gar nicht erst an. Diese beiden Männer aber sahen mich un­gewöhnlich gütig an; so habe ich selten Menschen blicken sehen. Sie sahen mich so an, dass ich diesmal derjenige war, der verlegen zu Boden blickte. Da sagte mir der eine von ihnen, der Petrus hieß: „Sieh uns an!“ Ich blickte wieder auf zu den beiden. Diese gütigen Augen! Bestimmt würden sie etwas geben, dachte ich, vielleicht sogar eine große Gabe. Petrus redete weiter: „Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir.“ Der machte es vielleicht spannend! Wenn er mir kein Geld geben konnte, was dann? Lebens­mittel vielleicht, oder einen warmen Mantel? „Was ich habe, das gebe ich dir“, sagte Petrus also. Und dann fuhr er fort: „Im Namen Jesu Christi von Nazareth, stehe auf und wandle!“

Liebe Gemeinde, wie schön wäre es, wenn auch wir zu jedem Behinderten sagen könnten: Stehe auf und sei geheilt! Wie schön wäre es, wenn wir immer dann ein Wunder wirken könnten, wenn wir Krankheit und Not sehen. Wieviel Freude könnten wir damit zu den Menschen bringen. Aber wir können es nicht. Wir haben nicht die Gabe, die Jesus seinen Aposteln gegeben hatte und die er darüber hinaus noch ein paar anderen aus­erwählten Menschen gibt. Aber wir können etwas anderes nach­sprechen, was Petrus damals zu dem Gelähmten gesagt hat. Wir können sagen: „Was ich habe, das gebe ich dir.“ Vielleicht hast du ja das Gold und das Silber, das die beiden Apostel damals nicht hatten, dann kannst du damit viel Not lindern. Du kannst damit auch die Mission der Kirche unter­stützen und auf diese Weise dazu beitragen, dass noch mehr Menschen das Evangelium hören. Vielleicht hast du auch bestimmte Begabungen und Talente, die du weitergeben kannst. Vielleicht bist du musikalisch und kannst dich weiter­bilden, sodass du einmal hier in der Kirche die Orgel spielen oder einen Chor leiten kannst. Vielleicht kannst du gut mit Kindern umgehen und beim Kinder­gottes­dienst mithelfen. Vielleicht hast du ein schönes Zuhause und die Gabe der Gast­freund­schaft, dann kannst du einsame Menschen zu dir einladen. Gott hat jedem von uns Gaben und Talente zugeteilt, die wir für die Gemeinde, für die Mission und für bedürftige Menschen investieren können und sollen. Denke darüber nach, welche Gaben Gott dir persönlich geschenkt hat, und dann sage: „Was ich habe, das gebe ich.“ Erwarte dabei aber keinen Dank und keine An­erkennung. Deine Gabe ist ja nicht dein Eigentum, das du nach Belieben verschenken oder auch für dich behalten kannst, sondern sie ist eine Leihgabe, die dir Gott gerade zu dem Zweck anvertraut hat, dass du sie zum Nutzen deiner Mitmenschen einsetzt. Der Herr wird einmal Rechen­schaft von dir fordern, und wie peinlich wäre es dann, wenn du sagen müsstest, dass du dein Talent in der Erde vergraben und nichts damit erreicht hast. Petrus und Johannes waren sich bewusst, dass sie nicht ihre eigene Gabe weiter­geben, und darum sagten sie: „Im Namen Jesu Christi von Nazareth, stehe auf und wandle!“ Als sie dann im Anschluss an das Heilungs­wunder predigten, da sagten sie noch einmal aus­drücklich: „Was seht ihr auf uns, als hätten wir durch eigene Kraft oder Frömmigkeit bewirkt, dass dieser gehen kann?“ (Apostel­gesch. 3,12). Nein die Apostel wissen sich vielmehr selbst in der Situation der beschenkten Bettler. Petrus hatte seinen Herrn einst dreimal verleugnet, aber Jesus hatte ihm vergeben. Dass Petrus hier stehen und Jesu Gabe weitergeben durfte, war allein Jesus zu verdanken. Aus diesem Grund hätte Petrus auch niemals auf einen Kranken verächtlich herab­geschaut und ihn für einen besonders schweren Sünder gehalten. Er wusste vielmehr: Die Sünde keimt auch in meinem Herzen, und wenn sie ohne schwere Folgen bleibt, dann ist das allein Gottes Barmherzig­keit zu verdanken. Lasst uns diese Dinge genauso ansehen wie Petrus. Auch wir sind Behinderte - Herzens­behinderte von Mutterleib an, weil die Erbsünde in uns wohnt. Unser Heilung ist Gottes Geschenk, das wir mit unsere Taufe in Empfang genommen haben und das wir seitdem immer wieder neu zugeeignet bekommen, mit jedem Gottes­dienst, mit jedem Abendmahls­gang, mit jedem christ­lichen Trostwort. Wenn wir das erkennen, werden wir, wenn wir unserer­seits anvertraute Gaben weiter­verschenken, drei Grundregeln beherzigen. Erstens: Wir stellen mit unseren Gaben nie die eigene Person oder die eigene Frömmigkeit zur Schau, sondern geben immer Jesus die Ehre. Zweitens: Wir verlangen keinen Dank, keine Anerkennung und keine Gegen­leistung dafür. Drittens: Wir fragen nicht danach, wer der Beschenkte ist und ob er durch eigenes Verschulden in seine Notlage geriet. Wie Jesus sich für uns zu Tode gelitten hat, als wir noch Gottes Feinde waren, so helfen wir ganz einfach jedem, der unser Nächster ist - gleich ob Freund oder Feind, ob sympathisch oder un­sympa­thisch, ob schuldig oder schuldlos. - Hört nun noch den Schluss vom Bericht des Geheilten.

Ihr Enkel, Petrus sagte also zu mir: „Im Namen Jesu Christi von Nazareth, stehe auf und wandle.“ Ich dachte, ich höre nicht recht! Und dann packte er mich bei der Hand und zog mich in die Höhe. Ehe ich mich versah, stand ich. Ich stand - zum ersten Mal in meinem Leben! Die Knie und Knöchel knickten nicht ein, auch nicht, als Petrus mich losließ. Ich machte vorsichtig ein paar Schritte - ich konnte gehen! Ich hüpfte ein wenig auf der Stelle - ich konnte springen! Ich rannte umher und machte immer größere Luft­sprünge. Ich war rasend vor Freude. Wie herrlich: Ich war gesund, ich konnte nun arbeiten, ich konnte eine Familie ernähren, ich konnte Wanderungen unter­nehmen, ich konnte… ich konnte… Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich war in einem regel­rechten Freuden­taumel. Doch dann sagte ich mir: Halt, zuerst musst du dich bei dem bedanken, der dich gesund gemacht hat. Und so ging ich zusammen mit Petrus und Johannes durch die Schöne Pforte in den Tempel. Zum ersten Mal in meinem Leben trat ich durch dieses Prachttor ein, das ich so viele Jahre immer nur von außen gesehen hatte. Im Tempel bedankte ich mich dann bei Gott und bei Jesus Christus, der, wie mir die beiden Männer erklärten, Gottes Sohn ist. Ich lobte Gott. Ich sang einen Halleluja-Psalm nach dem anderen. Das, liebe Enkel, war der schönste und wichtigste Tag in meinem Leben - nicht nur, weil ich seitdem gehen kann, sondern vor allem, weil ich an diesem Tag Jesus kennen­gelernt habe.

Und wir, liebe Gemeinde, wollen uns mitfreuen mit dem Geheilten und ebenfalls Gott danken. Vor allem wollen wir seinen Sohn Jesus Christus preisen dafür, dass er unsere Herzen geheilt hat und in unser Leben getreten ist. Und immer, wenn uns etwas besonders Gutes geschieht so wie dem Geheilten damals, wollen wir seinem Beispiel folgen und uns zuallererst bei Gott bedanken. Auch bei Menschen können wir uns bedanken, aber davon sagt die Bibel wenig, das ist zweit­rangig. Eigentlich gebührt aller Dank, alles Lob und alle Ehre dem dreieinigen Gott, der Menschen mit ihren jeweiligen Gaben zu Über­bringern seiner Gnade und Barmherzig­keit macht. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1982.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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