Gegenwärtige Trübsal und zukünftige Herrlichkeit

Predigt über 2. Korinther 4,16‑18 zum Sonntag Jubilate

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ich habe euch heute eine Sanduhr mit­gebracht. Sie ver­anschau­licht sehr gut, was uns dieses Gotteswort sagen will. Der obere Teil des Glasgefäßes ist der „äußere Mensch“, der untere Teil der „innere Mensch“. Nun heißt es im 2. Ko­rinther­brief: „Ob auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.“ Das obere Sand­häufchen nimmt ab, das untere bekommt ständig neuen Sand hinzu. Und weil der äußere, alternde, verfallende Mensch in seiner Vergänglich­keit und in der Erwartung des Todes Schmerzen, Sorgen und Trübsal hat, können wir das obere Häufchen auch „Trübsal­häufchen“ nennen, das untere hingegen „Herrlich­keits­häufchen“. Der Apostel Paulus schrieb den Korinthern: „Unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlich­keit in uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Un­sichtbare.“ Nur dadurch, dass das Trübsal­häufchen zerrinnt, also zeitlich ist, kommt ein Herrlich­keits­häufchen zustande, das bleibt und nicht zerrinnt. Ein drittes Begriffspaar kommt hinzu für unsere beiden Sanduhr­hälften: Die obere Hälfte (also der äußere Mensch, der unter Trübsal und Ver­gänglich­keit leidet) ist das Sichtbare, nämlich das, was jedermann ständig vor Augen hat; die untere Hälfte (also der innere Mensch, der ständig an Herrlich­keit zunimmt) ist unsichtbar und wird deshalb von vielen geleugnet, die meinen, der Sand rinne ins Leere, ins Nichts. Mit den Augen des Glaubens jedoch können wir auch diese untere Hälfte erkennen. Der letzte Satz unseres Predigt­textes bekräftigt: „Was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“

Richten wir nun zunächst unser Augenmerk auf das obere Gefäß, auf den äußeren Menschen, auf das Trübsal­häufchen. Damit ist nicht nur unsere äußere Hülle gemeint, also unser Leib, sondern auch unser Denken und Fühlen bezüglich der Dinge dieser Welt – unsere Sehnsüchte, unsere Sorgen, unsere Freude an materiellen Dingen. Je länger ich lebe, um so mehr fällt mir auf, wie un­vollkom­men, vergänglich und mit Trübsal behaftet die Angelegen­heiten des äußeren Menschen sind. Ich nehme an, dass die Älteren unter uns, die über eine größere Lebens­erfahrung verfügen, das bestätigen können. Da sind die Verfalls­erscheinun­gen am Körper, zum Beispiel an Zähnen, Haaren, Augen und Gehör, sowie manche chronischen Leiden. Da sind die Verfalls­erscheinun­gen am Geist; die Gedächtnis­leistung und die Konzen­trations­fähigkeit lassen nach. Und dann merkt man auch, dass alle guten Gedanken und Erkennt­nisse, alle Lebens­erfahrung und Weisheit nur zu einem sehr geringen Teil anderen Menschen weiter­vermittelt werden können, muss doch jeder seine eigenen Erfahrungen machen; also ist auch unser Wissen ver­gänglich. Da ist dann noch dein Hab und Gut – Dinge, mit denen du gern umgehst, vielleicht dein Auto, dein Haus, dein Garten, deine Hobby­geräte: Das alles wird alt und reparatur­bedürftig. So hat auch unser materieller Besitz am Verfall des äußeren Menschen Anteil. Selbst das, was für viele in dieser Welt das Liebste ist (der Ehepartner, die Familie, gute Freunde) gehört in den oberen Teil der Sanduhr: Menschen verändern sich, verlassen uns, sterben. Unser ganzes Leben ist ein Abschied­nehmen. Da helfen alle Versuche nichts, das Rinnen des Sandes auf­zuhalten. Ein Mensch kann zu einem Dutzend Ärzten gehen, sich liften lassen, seine Haare färben und seine Falten zu­schminken, er wird dennoch mit jeder Minute älter. Er kann seine Weisheit und seine Erfahrungen in Büchern und Auf­zeichnungen festhalten, aber er muss dennoch damit rechnen, dass diese seine Gedanken bald veraltet sind und von kommenden Gene­rationen nicht mehr beachtet werden. Er kann sein Vermögen gut und sicher anlegen und ein einwand­freies Testament machen, aber die Geschichte lehrt, dass auch sicherste Anlagen in kurzer Zeit wertlos werden können. Er kann mit Fotoalben und Erinnerungs­stücken das Andenken an liebe Menschen wach halten und wird doch nicht das Rad der Zeit zurück­drehen können. Wenn jemand nur diesen oberen Teil des Glases im Auge hat, wird er entweder auf solche Weisen sein Leben fest­zuhalten suchen (und dabei immer nur darauf stoßen, dass des ihm wie Sand zwischen den Händen zerrinnt), oder er wird resig­nieren.

Wir aber dürfen wissen: Der Sand zerrinnt nicht vergeblich und ins Leere, sondern er wächst zu einer neuen Herrlichkeit im unteren Gefäß heran. Dieses Wachsen merken wir als Christen dadurch, dass wir im Glauben und in der Erkenntnis von Gottes wunderbarem Tun immer mehr zunehmen. Wir merken immer mehr, wie wichtig Christus für uns ist. Wir merken, wie er die Sünde vergibt, die ja letztlich die Ursache für den Verfall und die Trübsal in der oberen Hälfte ist, und so aus dem alten, vergehenden Leben ein neues Leben erwachsen lässt – zunächst noch klein und unvollkommen: das Leben der Herrlich­keit, das Leben im Hören auf Gottes Wort, das Leben im Gebet, das Leben in der Liebe, das Leben in der Gelassen­heit angesichts von vielen schreck­lichen Dingen in der sichtbaren Welt. Gerade weil der alte Mensch verfällt und das obere Sand­häufchen abnimmt, werden wir hingewiesen auf die neue, noch unsichtbare Herrlich­keit, die einmal, wenn die obere Glashälfte leer ist, in der unteren Glashälfte ganz und vollkommen sein wird, dann auch sichtbar, dann auch in einem voll­kommenen und un­vergäng­lichen Leib. Darum brauchen wir nicht zu resig­nieren, wenn wir den Verfall des äußeren Menschen am eigenen Leib erfahren, und wir brauchen auch nicht krampfhaft zu versuchen ihn auf­zuhalten. Kümmern wir uns lieber um die untere Hälfte der Uhr – die Hälfte, die Zukunft hat – ‚ und nehmen wir Gottes Angebote im Gottes­dienst, im Abendmahl, in der Bibelstunde und im christ­lichen Gespräch wahr, den Glauben und damit den inneren Menschen wachsen zu lassen.

Nun lässt sich das Bild unserer Sanduhr und im weiteren Sinne auch unser Textwort auf den Leib Christi beziehen, also auf die Kirche und Gemeinde. Auch das Äußere beziehungs­weise das Sichtbare der Kirche ist ja dem Verfall unterworfen und wird von vielerlei Trübsal heim­gesucht. Gerade in unserer kleinen Kirche und gerade in unserer Diaspora-Situation wird das deutlich. Da sind Gemeinden überaltert, und man fragt sich, wie lange sie noch existieren können. Viele junge Menschen wenden sich halb oder ganz von der Kirche ab. Da werden Kirch­gebäude reparatur­bedürftig, und es stellt sich die Frage: Wo kommt das Geld für alle nötigen Aufgaben und Arbeiten her? Da fressen Klein­glaube, Angst, Streit, Misstrauen, Lauheit, Routine und Bequem­lich­keit wie Krebs­geschwüre an Kirche und Gemeinde. Das öffentliche Ansehen schwindet immer mehr. Blickten wir allein auf diesen sichtbaren Verfall im Trübsal­häufchen der Sanduhr, dann könnten wir nur resignieren oder krampfhaft versuchen, den Sand auf­zuhalten. Wir wollen aber viel lieber daran denken, dass wir als Kirche nur vorüber­gehend in dieser Welt sind und dass die äußere Gestalt der Kirche daher am äußerlichen Verfall dieser Welt Anteil hat. Das Mittelalter und besonders das Papsttum der Renaissance haben gezeigt: Große äußerliche Pracht bekommt der Kirche nicht. Blicken wir also nicht so ängstlich und resig­nierend auf das obere Glas der äußeren Kirche, sondern kümmern wir uns mit Glauben und Vertrauen ieber um das Herrlich­keits­häufchen der unsicht­baren geistlichen Kirche, nämlich der Gemeinde derer, die durch das Blut Jesu geheiligt sind. Wenn da nur Gottes Wort gehört und sein Sakrament gefeiert wird, wenn da nur von Herzen gesungen und gebetet wird, wenn da nur echte brüderliche Liebe herrscht, wenn da nur jeder Mensch angenommen und ernst genommen wird, wenn da nur mit gegen­seitiger Vergebung ernst gemacht wird, dann wird das Äußere zur Nebensache. Ob wir uns dann in einer Kirche oder in einer Privat­wohnung treffen, ist dann Nebensache. Ob wir eine riesige Schar junger dynamischer Leute sind oder ein kleines über­altertes Häufchen, sollte uns dann nicht so wichtig sein. Wir wissen: Die neue Kirche, die Kirche der Zukunft, hat hier begonnen und wächst hier heran – die neue Kirche, die einst, wenn das Glas der oberen Kirche leer sein wird, in der Herrlich­keit des unteren Glases vollkommen mit ihrem Herrn Jesus Christus in Ewigkeit jubilieren wird. Wenn wir das nicht vergessen, dann können wir auch in noch so armseligen kirchlichen Verhält­nissen fröhlich sein, denn das Auge des Glaubens erkennt ja, was für eine herrliche und un­vergäng­liche Sache hier heran­wächst.

Schließlich sind unsere Sanduhr und unser Text in ihrer weitesten Übertragung auch ein Abbild der Welt. Dass unsere alte Erde verfällt und unter immer größeren Trübsalen zugrunde­geht, das hat nicht nur Jesus voraus­gesagt, sondern das erleben wir auch täglich um uns herum. Auch Menschen mit dem besten Willen können nicht verhindern, dass die „Herrlich­keit“ dieser Welt wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt. Wir aber sehen im Glauben wieder auf die untere Hälfte der Sanduhr: Ein neuer Himmel und eine neue Erde wächst bereits bei Gott heran und wartet darauf, in ihrer Vollendung zur neuen, voll­kommenen, ewigen Heimat von Gottes Volk zu werden – dann nämlich, wenn die Zeit der alten Erde abgelaufen ist. Einen kleinen Vor­geschmack darauf gibt uns der Jesaja mit diesem Propheten­wort: „Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berg, denn das Land wird voll Erkenntnis des Herrn sein, wie Wasser das Meer bedeckt.“ (Jesaja 11,6‑9)

Das Vergehen dieser Welt braucht uns also nicht zu erschrecken und nicht resignieren lassen, sondern es weist uns zusammen mit Gottes Vor­ankündi­gungen darauf hin, dass die herrliche neue Welt un­aufhalt­sam näherkommt. Wollen wir dieser ver­gänglichen Welt etwas Gutes tun, dann lasst uns nicht unsere Kraft in den hoffnungs­losen Versuch stecken, ihren Verfall auf­zuhalten, sondern lasst uns den Menschen, die nichts von der kommenden Herrlich­keit und dem Weg dorthin wissen, davon Zeugnis geben. Aus diesem Grund schenkt Gott uns Leben in dieser Welt; ja, allein aus diesem Grund gibt es diese Welt überhaupt noch, wie der Apostel Petrus schrieb: „Der Herr verzögert nicht die Verheißung, sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde“ (2. Petrus 3,9). Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1982.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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