Warum Leid?

Predigt über 2. Korinther 6,4‑6.10 zum Sonntag Invokavit

Lieber Bruder, liebe Schwester in Christus!

Wenn du von Kriegen, Hunger, Flugzeug­abstürzen, Erdbeben und Lawinen­unglücken hörst, wenn Krebs­kranke, Behinderte, Depressive, Süchtige und Verelendete in ein Leben treten, wenn es unter deinen Verwandten und Bekannten zu Ehestreit oder Selbstmord kommt, dann drängt sich die Frage auf: Warum lässt Gott das alles zu? Und wenn du gar direkt selbst betroffen bist, wenn du Schmerzen ertragen musst, wenn dir liebe Menschen genommen werden, wenn dich die Einsamkeit erdrückt oder wenn dein Alltag dich zermürbt, dann steht dieses Warum in drohenden Groß­buchstaben da, mit dickem Frage­zeichen und Ausrufungs­zeichen: WARUM?! Warum, Gott, denn gerade ich? Du klagst ihn an, du lehnst dich in hilfloser Ohmacht gegen ihn auf: Warum? Und es mag sein, dass du dann an seiner Liebe und Allmacht zweifelst und sagst: Gott, wenn du allmächtig bist und mich liebst, kannst du mir das doch nicht antun!

Lieber Bruder, liebe Schwester, was soll ich dir und mir darauf antworten? Sollte ich versuchen, Gott zu verteidigen oder zu ent­schuldigen? Soll ich einer Antwort ausweichen und sagen: Leide und frage nicht, Gott wird schon wissen? Ich möchte stattdessen auf Paulus verweisen, das große Vorbild des Glaubens, einen Mann, der wie kaum ein anderer Leiden ertrug und mittrug. Für Paulus war die Frage des Leids keineswegs eine peinliche Anfrage an Gottes Güte, die Christen in die Enge treibt. Es ging Paulus auch nicht darum, mit großen Sprüchen und weisen Rezepten eine geistige Haltung zu finden, bei der der Mensch über den Dingen steht und mit der ihm das Leid als eine Angelegen­heit der profanen Leiblich­keit letztlich egal ist. Nein, Paulus war das Leid keineswegs egal, auch keine Randfrage des Glaubens, sondern es nahm eine ganz zentrale Stellung ein. Wenn Paulus im eben gehörten Textwort davon berichtet, wie sich sein Dienst an Gott ausgewirkt hat, dann berichtet er da erstaun­licherweise an erster und aus­führlich­ster Stelle von seinen Leiden. Ja, das Leid ist ein ganz wesent­licher Bestandteil seines Lebens. Er nimmt es erstaunlich positiv auf, denn er sagt: „… als die Traurigen (also die durch mancherlei Leid Betrübten), aber allezeit fröhlich.“ An anderer Stelle sagt er sogar: „Wir rühmen uns der Bedräng­nisse“ (Römer 5,3). Die Apostel Petrus und Jakobus hauen in dieselbe Kerbe, wenn sie in ihren Briefen auffordern: „Freut euch, dass ihr mit Christus leidet“ (1. Petrus 4,13), und: „Erachtet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallt“ (Jak. 1,2).

Damit wir das besser verstehen lernen, was dem einen oder anderen Leidenden wie blanker Hohn klingen mag, wollen wir nun in fünf Punkten betrachten, was die Heilige Schrift über das Leid zu sagen hat.

Zuerst erfahren wir etwas über den Ursprung des Leids. Und da müssen wir fest­stellen, dass alles Leid ein­schließlich der Ver­gänglich­keit und des Todes Aus­wirkungen unserer Sünde sind. Gott hat sein Volk durch Mose un­missver­ständlich wissen lassen, was die Missachtung der Gebote für Folgen hat: „Wenn du nicht gehorchen wirst der Stimme des Herrn, deines Gottes, und wirst nicht halten und tun alle seine Gebote und Rechte, die ich dir heute gebiete, so werden alle diese Flüche über dich kommen und dich treffen… Der Herr wird unter dich senden Unfrieden, Unruhe und Unglück in allem, was du unter­nimmst, bis du vertilgt bist und bald unter­gegangen bist um deines bösen Treibens willen“ (5. Mose 28,15.20). Es kann nicht anders sein: Die Sünde hat unselige Konse­quenzen für alle Menschen der Welt. Diese Konse­quenzen hören auch nicht dadurch auf, dass unsere Sünden vergeben werden: Das Mordopfer wird nicht wieder lebendig, wenn Gott dem Mörder vergibt. Vergebung bedeutet aber, dass die Sünde nicht mehr zwischen Gott und uns steht, und deswegen ist die Konsequenz der Sünde, also das Leid, nicht mehr Gottes Strafe im Zorn; die hat er seit Christi Kommen für den Jüngsten Tag aufgespart für diejenigen, die seine Vergebung nicht annehmen. Für uns, die wir durch Christus Gottes geliebte Kinder sind, macht Gott aus dem Fluch seines Zorns einen Segen seiner Liebe, so wie auch bei Christus aus Leiden und Tod Leben entsprossen ist.

Darum dürfen wir – das ist der zweite Punkt – unser Leid als eine liebevolle Erziehungs­maßnahme Gottes ansehen. Es steht ge­schrieben: „Wen der Herr lieb hat, den weist er zurecht, und hat doch Wohl­gefallen an ihm wie ein Vater am Sohn“ (Spr. 3,12). Gott nimmt uns mit dem Leid in eine harte Schule, aber gerade das ist ein Ausdruck seiner väterlichen Liebe. Zuerst ist es eine Schule des Gebets – Not lehrt beten, voraus­gesetzt, man vertraut auf den Einen, der alle Not abwenden kann. Paulus berichtet am Anfang des 2. Ko­rinther­briefs von einem Erlebnis, das er in Kleinasien hatte. Dort waren er und seine Reise­gefährten in so große Bedrängnis geraten, dass sie meinten, ihre Todesstunde wäre herbei­gekommen. In solchen Situationen der Lebens­gefahr lernt man, dass man nichts von sich selber aus kann, sondern dass man völlig von Gott und seinem Erbarmen abhängig bist. Es bleibt einem da nur die Wahl, entweder zu verzweifeln oder sich darauf zu verlassen, dass auch noch auf dem Grund des tiefsten und dunkelsten Abgrunds Gottes Hand einen festhält. Wenn du diese zweite Möglichkeit wählst, dann wirst du im Nachhinein fest­stellen, wie wunderbar Gott dich durch­getragen und dir durch diese harte Schule den Glauben gestärkt hat. So kannst du im Leid seine liebevolle väterliche Erziehung erkennen und das für lauter Freude erachten. Außerdem erzieht Gott durch das Leid noch in einer anderen Hinsicht: Er macht uns auf diese Weise fähig, andere Menschen in ihrem Leid besser zu verstehen und zu trösten. Deshalb sieht Paulus die Trübsale als einen wichtigen Bestandteil seines Dienstes an. Die Lebens­gefahr in Kleinasien, von der er den Korinthern berichtete, ließ ihn den Trost Gottes erfahren, der, wie er daraus lernte, „uns tröstet in aller unsrer Trübsal, damit wir trösten können, die da sind in allerlei Trübsal, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott“ (2. Kor. 1,4).

Was wir eben über das Leid als Erziehung und Zurüstung zu unserem christ­lichen Dienst erfahren haben, führt uns zum dritten Punkt: Das Leid ist ein Zeichen der Nachfolge Christi – einer Nachfolge, in die alle Christen durch die Taufe hinein­gerufen sind. An dieser Stelle muss ein Irrtum aufgeklärt werden: Wir sind nicht deshalb Christen, damit es uns in diesem Leben äußerlich gut geht. Das wäre die Gesinnung des Heidentums, wo die Götzen durch Opfer und untadeliges Leben dafür gewonnen werden sollen, dass sie irdische Gesundheit, Wohlstand und Frieden schenken. Diese Dinge hat Christus denen, die ihm nachfolgen, nicht verheißen. Er sagte vielmehr: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich“ (Markus 8,34). Und: „Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden“ (Matth. 5,4). Wer Christus seinen Herrn nicht nur nennt, sondern auch wirklich sein lässt, der sei sich darüber im Klaren, dass er sich auf ein gerüttelt Maß an Leid und Trübsal einlässt. Er vergesse dabei aber nicht, dass er sich in diesem Leid auf Gottes Kraft und Trost verlassen kann, sodass er letztlich dahin kommt, es für lauter Freude zu erachten. Aber warum muss Christus-Nachfolge mit Leid verknüpft sein? Das Wort „Nachfolge“ erklärt es aus sich selbst, denn der, dem wir nachfolgen, ist den Weg schwersten körper­lichen und seelischen Leids gegangen – daran denken wir besonders wieder jetzt, in der Passions­zeit. Die Jünger, so prophezeite Jesus, können nicht erwarten, es besser zu haben als ihr Meister. Paulus wusste, dass es letztlich die Leiden Christi sind, die sich im Leben Jünger abbilden. So schrieb er den Galatern: „Ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leibe“ (Gal. 6,17). Die Leiden der Nachfolger machen deutlich, dass Gott sich in dieser durch Sünde verkehrten Welt im Gegenteil dessen offenbart, was er ist und will: Der Starke offenbart sich in mensch­licher Schwach­heit; die Herrlich­keit kommt durch Leid, das Leben kommt durch den Tod, die Herrschaft durch den Dienst; die Botschaft von Gottes höchster Weisheit klingt wie Torheit in den Ohren der Welt. Ja, Gott gefällt es, sich auch bei uns unter dem Gegenteil seiner Kraft und Herrlich­keit zu offenbaren. So zeigt sich seine Macht durch Jesu Leiden und auch in unseren Leiden.

Diese Tatsache könnte kein Mensch akzep­tieren, wenn sie sich nicht auf unser Leben in dieser Welt be­schränkte. Aber nun hat Paulus auch gesagt: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Gott, so sind wir die elendesten aller Menschen“ (1. Kor. 15,19). Hier kommt nun unser vierter Punkt ins Spiel: Das Leid ist ein Hinweis auf das Paradies, auf Gottes neue Welt, die mit Christi Wieder­kommen anbrechen wird. Wenn du merkst, wie du älter wirst, wie du Falten bekommst, wie dir Haare und Zähne ausfallen, wie Augen, Ohren und Gedächtnis schlechter werden, dann zeigt dir Gott damit, dass dein Leben auf dieser Welt nur ein Gastspiel ist und dass das ewige Leben im Paradies auf dich wartet. Darauf kannst und sollst du dich freuen. Ja, erst mit dieser Hoffnung und Vorfreude im Herzen kannst du darauf verzichten, deinen ganzen Lebens­hunger schon in dieser Welt stillen zu wollen. Wie arm sind doch die Menschen dran, die diese Glaubens­hoffnung nicht haben! Sie müssen das Leid als eine quäle­rische, feindliche Macht empfinden, die sie ihres Lebens beraubt. Wir aber können uns im Leid freuen, weil es uns auf das ewige Reich Gottes weist, wo das wahre Leben ist. Wer sagt, dies sei nur eine Vertröstung auf das Jenseits, der hat nicht begriffen, dass erst dort, im Jenseits, Gottes Reich zur Vollendung kommt. Diese Erkenntnis fällt heute auch vielen Christen schwer, denn in der heutigen Zeit scheinen das Jetzt, das Hier und das Heute das allein Maßgebliche zu sein. Wenn ich jedoch die christliche Auf­erstehungs­hoffnung habe, dann fallen das Jetzt, das Hier und das Heute von allein an ihren rechten Platz. Wenn ich akzeptiere, dass diese Welt ein Jammertal und nicht meine Heimat ist‘ dann kann ich tatsächlich meine Leiden für lauter Freude erachten – nämlich in der Vorfreude auf das Paradies. Dann weiß ich mit Paulus, „dass dieser Zeit Leiden der Herrlich­keit nicht wert sind, die an uns soll offenbart werden“ (Römer 8,18), und kann auch mit ihm sagen: „Unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlich­keit in uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Un­sichtbare“ (2. Kor. 4,17).

Bei allem Licht, das die Heilige Schrift auf unser Leid wirft, müssen wir fünftens und letztens aber auch zugeben, dass wir den Sinn des Leides in seiner letzten Ursache und Konsequenz nicht ergründen können. Und selbst wenn die Bibel uns das offenbaren würde, wäre unser mensch­licher Verstand zu begrenzt und zu sehr von der Sünde verdunkelt, um es zu fassen. Nur wer meint, so klug wie Gott zu sein, kann es daher wagen, Gott wegen des Leids anzuklagen und zur Rechen­schaft zu ziehen. Wer sich aber als das erkennt, was er wirklich ist, nämlich als Gottes Geschöpf, das seinerseits von Gott zur Rechen­schaft gezogen und zur Rede gestellt wird, der wird angesichts seines Leids letztlich nur wie Hiob sagen können: „Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt“ (Hiob 1,21).

Seien wir froh und loben wir Gott, dass er uns nicht in das aller­tiefste Leid der ewigen Verdammnis stößt, wie wir es verdient haben! Freuen wir uns, dass unser Leid zeitlich und leicht ist, auch wenn es uns im Augenblick höllisch schwer vorkommt! Seien wir froh, dass Gott uns durch unser Leid erzieht, am Ergehen seines Sohnes Anteil haben lässt und auf die vor uns liegenden ewigen Freuden hinweist! Die Lektion, sein Leid fröhlich zu tragen, kann man freilich nicht mit einer Predigt lernen. Paulus und viele Christen sind einen langen Weg zu dieser Freude geführt worden, der sehr dornig und steinig war. Falls du gerade auf so einem dornigen und steinigen Weg bist, dann gibt es nur eine Möglichkeit, zum freudigen Akzeptieren dieses Leides zu kommen und keinen Schaden an deiner Seele zu nehmen: Halte dich an das Wort Gottes, das dich Leiden lehrt! Halte dich an deine Vorgänger auf diesem Weg und an ihr Beispiel! Und halte dich an deine Gemeinde! Denn wenn du selbst zu schwach und zu verzweifelt zum Beten und zum Bibellesen bist, brauchst du Brüder und Schwestern, die mit dir und für dich beten und die dich mit dem Trost trösten, den sie selber im Leid empfangen haben. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1982.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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