Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Ähnlich wie die Spaltung Deutschlands in zwei Staaten war das Volk Israel im 8. Jahrhundert v. Chr. zweigeteilt. Da gab es erstens das Südreich, das Reich Juda, mit seiner Hauptstadt Jerusalem und dem Tempel darin. Und da gab es zweitens das Nordreich mit der Hauptstadt Samaria, das den Namen Israel trug. Eines der Heiligtümer des Nordreiches befand sich in Bethel. Auf diesen Staat und diesen Ort wollen wir nun unser Augenmerk richten.
Die Bürger des Nordreichs erlebten damals eine wirtschaftliche Blüte. Clevere Geschäftsleute hatten es in der Landwirtschaft zu Großgrundbesitz und im Handel zu ansehnlichen Vermögen gebracht. Die Frauen der High Society profitierten auf ihre Weise von der Hochkonjunktur: Sie schwelgten in Luxus und verbrachten ihre Zeit damit, exklusive Parties zu feiern. Ihre Männer aber, vom Virus der Habgier angesteckt, versuchten am Rande der Legalität und auch jenseits dieses Randes das Wachstum ihres Wohlstandes zu beschleunigen. Kaufleute fälschten Gewichte für Münzen und versagten Angestellten eine gerechte Bezahlung. Durch Bestechung hatten sich die Reichen auch bald eine Lobby unter den Beamten Israels erkauft, die sich erstaunlich schnell dem allgemeinen Trend anpassten, um ihrerseits ein Stück vom großen Kuchen abzubekommen. Wie man es in allen Kulturen beobachten kann, war diese Oberschicht grundsätzlich konservativ eingestellt, und da es nun einmal zur Tradition Israels gehörte, Gott den Herrn zu verehren, so ließen sie sich dabei nicht lumpen. Aus diesem Grund war am Heiligtum in Bethel viel Betrieb. Es gab ein reichhaltiges Kirchenjahr mit vielen Festen und Versammlungen, zu denen die Menschen gepilgert kamen. Auch an den gewöhnlichen Sabbaten und alltags war dort Betrieb, denn täglich brachten Menschen Tiere und Teilerträge ihrer Ernte als Opfer, um damit ihre Frömmigkeit unter Beweis zu stellen. Sie meinten, wenn sie auf diese Weise Gottes kultische Gebote erfüllten, dann würde Gott ihnen wohlgesonnen sein, ihr Wohlleben segnen und die eine oder andere nicht ganz legale Sache gnädig übersehen. Und genau wie heute viele Kirchen zu regelrechten Kulturtempeln geworden sind, war auch damals Bethel ein Zentrum der sakralen Musik. Große Chöre beamteter Sänger und Berufsmusiker verliehen allen Feiern und Festen einen würdigen Rahmen. Die Priester, die in Bethel arbeiteten, gingen im Opfer‑, Feier‑ und Musikbetrieb voll auf und gehörten als königliche Beamte selbst zur Oberschicht.
In dieses schöne bunte Treiben in Bethel mischt sich eines Tages ein Fremdkörper, ein Störenfried, ein Dahergelaufener aus Juda, dem anderen Staat Israels. Es ist der Prophet Amos. Er sieht die aufwändigen gottesdienstlichen Feiern und sagt im Namen Gottes: „Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag euere Versammlungen nicht riechen.“ Er sieht die Spenden‑ und Opferfreudigkeit der Reichen und sagt im Namen Gottes: „Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen.“ Er hört die geschulten Stimmen des Levitenchores sowie die zarte Harfenbegleitung und sagt im Namen Gottes: „Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!“ Welch ein Störenfried!
Liebe Brüder und Schwestern, lasst uns einmal im Geist ausprobieren, wie sich dieser Amos hier und heute in unserer Kirche ausnehmen würde! Was würde er wohl zu uns sagen? Würde er sagen: „Ich habe dieses Weihnachten‑, Ostern‑ und Pfingst-Gefeiere satt“? Würde er sagen: „Wenn ihr auch noch so großzügige Kollekten und Kirchenbeiträge gebt, habe ich doch keinen Gefallen daran“? Würde er sagen: „Euer liturgisches Gesinge und das Spielen der Orgel geht mir auf die Nerven“? Und wenn er so spräche, würden wir dann nicht denken: Der macht ja alles kaputt, was in vielen Jahren gewachsen ist? Der unterwandert ja all unsere Mühen und Bestrebungen, im Gottesdienst und im Gotteshaus alles so schön und würdig wie möglich zu gestalten? Der lädt ja aus, wo wir einladen? Hat denn Gott nicht selbst geboten, zu singen, zu spielen, Gottesdienste zu feiern und Dankopfer zu bringen? Warum denn, Amos, soll ihm das plötzlich nicht mehr gefallen?
Amos sah die fragenden Gesichter der Menschen in Bethel. Aber nun hatte Gott ihm mehr offenbart als seinen Unwillen über den Gottesdienst. Amos hatte noch diese Mahnung zu überbringen: „Es ströme das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ Wer bei diesen Worten genau hinhört, der merkt: Gott kritisiert ja eigentlich nicht den Aufbau des Kirchenjahres, die Menge der Opfer oder die musikalische Qualität des Gesanges als solche. Gott kritisiert etwas ganz anderes: Er kritisiert die Beugung des Rechts um des eigenen Vorteils willen. Er kritisiert die ungerechte Behandlung derjenigen, die sich nicht wehren können – der Witwen, Waisen und Fremdarbeiter sowie der verarmten Bürger ohne Grundbesitz, die sich ihren Lebensunterhalt als Tagelöhner verdienen müssen. Er kritisiert den üppigen Luxus der Wohlstandsgesellschaft angesichts schreiender Armut. Und er kritisiert, dass die Bürger Israels bei so offen bekundetem Desinteresse an Gottes Geboten noch die Frechheit besitzen, in das Heiligtum zu kommen, hier Gottesdienste zu feiern, sich durch großzügige Spenden mit Gott gut zu stellen und sich an den lieblichen Klängen des Gotteslobes zu ergötzen. Man könnte es so ausdrücken: Die Adressaten des Amos singen feiertags im Heiligtum den Choral des Gotteslobs und alltags mit ihrem unsoziales und ungerechten Verhalten den Song der Gottlosigkeit. Das klingt zusammen so, als wenn man ein Lied in C-Dur singt und in Fis-Dur begleitet; das ist Geplärr in Gottes Ohren.
Da hat es der Amos aber diesen dekadenten Menschen gegeben! Er musste es ja auch tun, denn Gott hatte ihn dafür beauftragt. Seine Botschaft blieb jedoch ohne Resonanz. Man gab ihm zu verstehen, dass er ein unerwünschte Person war, erteilte ihm Hausverbot in Bethel und schob ihn nach Juda ab. So verachtete man Gottes warnende Stimme und musste die Konsequenz, die Amos bei gleicher Gelegenheit angekündigt hatte, einige Jahrzehnte später bitter zu spüren bekommen: Der Staat Israel wurde ausradiert, der größte Teil der Bevölkerung vertrieben.
Was wird nun aber aus dem Amos, der in unserer Fantasie den heutigen Frömmigkeitsbetrieb kritisiert hat? Hat er auch recht? Und wenn ja, stößt er auch bei uns auf taube Ohren? Und wenn ja, ist auch unser Strafgericht schon beschlossen? Diese Frage muss letztlich sich jeder selbst beantworten. Ja, jeder mache für sich den Amos-Test: Wie passt mein alltägliches Leben mit meinem Gotteslob am Sonntag zusammen? Gebe ich in allem, was ich tue, genauso Gott die Ehre wie im Gottesdienst? Nicht umsonst wird in der Heiligen Schrift das Wort „Gottesdienst“ immer auf den ganzen Lebensvollzug der Gläubigen bezogen, auf die sieben Tage der Woche und auf die 24 Stunden jedes Tages. Alltags‑ und Sonntagsleben sollen miteinander harmonieren; beides soll unter dem Satz stehen: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Wenn das nicht der Fall ist, dann klingt es zusammen wie C-Dur und Fis-Dur, dann ist es Geplärr in Gottes Ohren.
Ich möchte jetzt nur ein Beispiel dafür nennen, wo es in unserem Leben einen Missklang mit unserem sonntäglichen Gotteslob geben könnte. Wie es damals im Staate Israel viele Fremdarbeiter gab, so sehen auch wir uns heute in unserem Land mit vielen Menschen ausländischer Herkunft konfrontiert. Wie gehen wir mit ihnen um? Machen wir es wie die Israeliten, die sie als billige Arbeitskräfte nutzten, ohne ihnen Gerechtigkeit zukommen zu lassen und sie menschenwürdig zu behandeln? Gönnen wir es ihnen überhaupt, dass sie an unserem Wohlstand Anteil haben – an einem Wohlstand, den Gott letztlich auch uns nur als Leihgabe zur verantwortlichen Verwaltung in die Hände gelegt hat? Wären wir bereit, zugunsten der Ausländer in unserem Land Abstriche zu machen von unserem Wohlstand und von mancher Annehmlichkeit? Versteht mich nicht falsch: Ich will hier keine Patentlösung anbieten zur Lösung der Probleme, die aus dem Zusammenleben verschiedener Völker und Kulturen nun einmal erwachsen. Mit Amos und mit Gottes Wort wende ich mich aber gegen eine Haltung, die sagt: Wir Deutschen haben uns unseren Wohlstand sauer erarbeitet; nun sollen auch nur wir Deutschen etwas davon haben. Nein, als Kinder Gottes sollten wir uns vielmehr darüber freuen, wenn möglichst viele Menschen an unserem Wohlergehen Anteil haben, aus welchem Land sie auch immer kommen. Vor allem sollten wir uns freuen, dass Gott uns auf diese Weise ein Missionsfeld sozusagen frei Haus schickt, dass wir also nun bei Kontakten mit Andersgläubigen die Möglichkeit haben, die befreiende Botschaft von Jesus weiterzusagen. Nun ist es aber leider so, dass zum Beispiel viele Muslime durch ihre moralischen Werte mitunter eher uns beschämen und dass sie durch den Lebenswandel, den wir ihnen zeigen, einen denkbar schlechten Eindruck von der christlichen Kultur bekommen. Und selbst da, wo in unserm Volk noch Reste christlicher Werte übrig sind, zeigt sich daran oft genug nur der Missklang zum alltäglichen Leben.
Wo stehen wir nun bei dem allen? Machen wir den Amos-Test! Ist unser Leben ein Missklang? Ist der Glaube für uns nur ein kleines Schubfach in der Lebenskommode, das wir bei Bedarf aufziehen? Lassen wir uns täglich mit Haut und Haaren ein auf den Herren, der sich für uns dahingegeben hat? Sind wir wirklich offen, seine Verheißungen ernst zu nehmen und unser Leben danach auszurichten? Wie gut, dass es die Beichte gibt und die Vergebung der Sünden für alle, die ehrlich bereuen und sich durch Gottes Geist erneuern lassen wollen! Amen.
PREDIGTKASTEN |