Nur wenige Eltern nennen heutzutage ihren Sohn Walter. Vielleicht liegt das an der Bedeutung des Namens. „Walter“ kommt von „walten“, ein altes Wort für „herrschen“, und „herrschen“ klingt heute für viele negativ; es klingt nach bevormunden, unterdrücken und Gewalt ausüben. Da ist es übrigens wieder, unser Wort „walten“, es steckt auch in „Gewalt“ drin. Bei Gewalt denkt man meistens an etwas Negatives, an häusliche Gewalt zum Beispiel, an körperliche Gewalt, an Brutalität. Dabei gibt es durchaus auch eine positive Bedeutung dieses Wortes: Väter und Mütter üben verantwortlich elterliche Gewalt aus, und der Staat hat ein Gewaltmonopol, das im Rechtsstaat mit einer sinnvollen Gewaltenteilung einhergeht. Auch im Verb „verwalten“ hat „walten“ einen guten und ordnenden Klang. Wir sehen: Gewalt kann Zweierlei meinen, und beides müssen wir sauber voneinander trennen: auf der einen Seite die brutale Macht der Stärkeren (auf Englisch „violence“), auf der anderen Seite die verantwortungsvolle Macht der Leitenden (auf Englisch „leadership“).
Gottes Geist lehrt uns, dass Gewalt im zweiten Sinn etwas Gutes ist, eine gute Einrichtung des Schöpfers. Gott ist ein Gott der Ordnung, und darum hat er für das menschliche Zusammenleben verfügt, dass Macht, Gewalt und Verantwortung sinnvoll verteilt werden sollen. Dabei sollen nicht alle gleich viel Macht haben. So sollen zum Beispiel Eltern über Kinder walten, Chefs über ihre Angestellten und Regierende über die ihnen anbefohlenen Bürger. Es soll nach Gottes Willen also ein Oben und ein Unten geben in der Gesellschaft, Obrigkeiten und Untertanen, wie es in früheren Zeiten formuliert wurde. Die Obrigkeit ist „Gottes Dienerin, dir zugut“, heißt es in unserem Schriftwort. Der geistliche Mensch hört es, akzeptiert es und erkennt Gottes wunderbare Weisheit in dieser Ordnung. Der von Sünden verseuchte fleischliche Mensch dagegen lehnt das ab, denn er wittert Unterdrückung und Schikane. Der fleischliche Mensch will sich um jeden Preis selbst behaupten und steht jeder Einschränkung der persönlichen Freiheit misstrauisch gegenüber. Schon bei Kindern ist das so ihren Eltern gegenüber – zuerst im Trotzalter, später in der Pubertät. Schüler begehren auf gegen ihre Lehrer, Angestellte gegen ihre Chefs und Bürger gegen ihre Regierungen.
Dabei ist das mit dem Oben und Unten wunderbar geordnet von Gott. „Hierarchie“ nennt man es auch, „heilige Herrschaft“. Da braucht sich nicht jeder um alles zu kümmern, sondern da gibt es klar umrissene Verantwortlichkeiten, wahrgenommen von Menschen, die dafür qualifiziert und mit einem entsprechenden Dienst betraut worden sind. Was geschähe zum Beispiel mit einem Schiff, wenn alle an Bord Kapitän sein wollen? Wie könnte ein Brand gelöscht werden, wenn der Löscheinsatz in langwierigen Diskussionen von allen Feuerwehrleuten gemeinsam geplant werden müsste? Wie könnte eine Armee ein Land verteidigen ohne Offiziere, Hauptleute und Generäle? Ein Chaos wäre die Folge, eine Anarchie – das Gegenteil der Hierarchie! Gott will aus gutem Grund, dass die menschliche Gesellschaft hierarchisch geordnet ist, uns allen zum Segen. Darum werden wir in der Heiligen Schrift auch nie die Aufforderung finden, uns gegen rechtmäßige Autoritäten aufzulehnen, aber wir finden an ganz vielen Stellen das grundsätzliche Gebot, uns unterzuordnen, also uns in Gottes gute Gesellschaftsordnung einzufügen. Darum heißt es auch in unserem Bibelwort: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.“
Diese göttliche Hierarchie hat etwas Entlastendes, denn klar umrissene Verantwortungsbereiche bedeuten, dass man viele Entscheidungen getrost anderen überlassen kann und sich nicht um alles kümmern muss. Aber leider begehrt auch dagegen die Sünde in uns auf. Wieviele Bürger meinen, selbst besser zu wissen, was die Regierenden tun sollten. Martin Luther hat dafür das Wort „Faulwitz“ erfunden und 1534 in seiner Auslegung zu Psalm 101 gesagt: „Ich will’s Faulwitz nennen, und ist auch der Erbsünde Früchtlein eins, und natürlich angeboren und anhangend, dass ein jeglicher bald überdrüssig wird dessen, was ihm befohlen ist, mengt und schlägt sich in andere Sachen, um die er sich besser nicht kümmerte und die ihm nicht befohlen sind, will klug und geschäftig in fremden Sachen sein.“
Der größte Segen der hierarchischen Gesellschaftsordnung besteht jedoch darin, dass sie uns etwas von Gottes Wesen anschaulich macht. An der Spitze aller Hierarchie steht nämlich der höchste Herr, der allmächtige Gott. Ihm sollen sich alle unterordnen, auch die mächtigsten Machthaber der Welt. Die menschlichen Leitungsämter auf den verschiedenen Hierarchiestufen aber machen anschaulich, wie Gott ist. Wenn ein guter Vater seine Kinder versorgt, beschützt und erzieht, dann bildet er damit etwas vom Walten des himmlischen Vaters ab, wenn auch unvollkommen. Wenn ein guter Chef mit seinem Unternehmen der Gesellschaft dient und zugleich für seine Angestellten sorgt, dann bildet er etwas vom Walten des himmlischen Herrn ab, dessen Diener wir sind, wenn auch unvollkommen. Und wenn eine gute Regierung sich darum müht, zum Wohl des Volkes aktiv zu sein, dann bildet sie etwas vom Walten des Königs aller Könige ab, wenn auch unvollkommen. Bemerkenswert ist dabei, dass der himmlische Vater den Spitzenplatz in seiner Hierarchie an seinen Sohn Jesus Christus übergeben hat. „Ich aber habe meinen König eingesetzt auf meinem heiligen Berge Zion“, heißt es im zweiten Psalm vom Messias, und der Auferstandene hat dann bestätigt: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ (Matth. 28,18). Wie gut und segensreich! So können wir gewiss sein: Nicht irgendein nebulöses Schicksal steht an der Spitze der universalen Machtpyramide, sondern der uns wohl bekannte Heiland Jesus Christus, der uns so sehr liebt, dass er sich für uns aufgeopfert hat.
Martin Luther hat in seinen Katechismen deutlich gemacht, dass sich alle obrigkeitliche Autorität letztlich vom vierten Gebot herleiten lässt, also von Gottes Verfügung, dass Kinder ihre Eltern ehren sollen. So heißt es im Kleinen Katechismus: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen…“ Und im Großen Katechismus heißt es: „Zu diesem Gebot gehört auch der Gehorsam gegenüber obrigkeitlichen Personen, die zu gebieten und zu regieren haben. Denn von der Autorität der Eltern leitet sich alle andere Autorität ab.“ Das ist ganz im Sinne von Jesus Christus gesprochen, der verfügte: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist…“ (Mt. 22,21), und auch ganz im Sinne des Apostels Paulus, der lehrte: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat“, und: „So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid.“
Wenn wir uns den Regierenden unterordnen und uns an die Gesetze unseres Landes halten, bekommen wir tatsächlich sehr viel zu spüren von dem Segen, dass die Obrigkeit „Gottes Dienerin uns zugute“ ist. Polizisten beschützen uns, Feuerwehrleute helfen in Not, Gerichte sorgen für Gerechtigkeit, gute Verkehrswege stehen zur Verfügung, junge Menschen können kostenlos zur Schule gehen und studieren, hilfsbedürftigen Personen und Unternehmen wird von staatlicher Seite unter die Arme gegriffen, und wenn jemand im Ausland in Not gerät, bekommt er Hilfe von der Botschaft seines Staates in dem betreffenden Land. Auch dass Übeltäter bestraft werden, kommt der Allgemeinheit zugute, denn die Obrigkeit „trägt das Schwert nicht umsonst“, wie Paulus formulierte (wobei das Schwert heute nur noch symbolisch für eine wehrhafte Justiz steht).
Zum Schluss muss ich nun aber noch zwei Fragen oder Probleme ansprechen, die sich beim Hören von Römer 13 bei vielen einstellen: erstens die Frage nach der Legitimität böser Regierungen, zweitens die Frage nach der Demokratie.
Also erstens: Gilt das, was die Bibel von der Obrigkeit lehrt, auch für böse Regierungen, etwa für Autokraten und Tyrannen? Paulus schrieb den Römerbrief unter dem berüchtigten Kaiser Nero; trotzdem hat Paulus seine Aussage nicht eingeschränkt. Ausgehend von Nero können wir bis hin zum heutigen Tag eine Spur von mehr oder weniger bösen Regierungen entdecken, die sich durch die Weltgeschichte zieht. Und bei der bevorstehenden Präsidentenwahl in den USA haben nur eine Kandidatin und ein Kandidat realistische Chancen, von denen die Kandidatin ein Recht auf Tötung ungeborener Kinder durchsetzen will, der Kandidat aber vor allem durch dreiste Lügen und menschenverachtende Äußerungen auffällt. Ich erinnere mich an eine Bibelstunde, die ich vor etlichen Jahren mal über den Text aus Römer 13 gehalten habe. Unter den Teilnehmern war auch eine lebenskluge Historikerin, die meinte: „Paulus hat hier idealtyptisch gesprochen.“ Idealtypisch – das heißt so, wie es nach Gottes Willen sein sollte, aber oft eben nicht ist, und auch in einem guten Rechtsstaat nie zu hundert Prozent sein kann. Keine reale Regierung ist vollkommen, wie auch kein Elternpaar vollkommen ist und kein Chef. Das berechtigt freilich niemanden dazu, Gottes gute Gesellschaftsordnung grundsätzlich in Frage zu stellen. Gottes Ordnung bleibt gut, auch wenn die Menschen, die in ihr Führungsaufgaben haben, Sünder sind. Selbst unter einer wirklich schlechten Regierung wird es wenigstens ein paar Gesetze geben, die ein Mindestmaß an Ordnung aufrecht erhalten – und das ist immer noch besser als die totale Anarchie. Niemand sollte meinen, dass er keine Gesetze mehr zu befolgen braucht, wenn die Herrschenden Schurken sind. Wenn zum Beispiel im Straßenverkehr eines Schurkenstaates Rechtsverkehr herrscht, sollte niemand sich die Freiheit herausnehmen, immer links zu fahren. Es gibt allerdings eine Grenze der Unterordnung unter die Obrigkeit, die auch in unserem lutherischen Bekenntnis ganz klar mit einem Bibelwort beschrieben ist: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg. 5,29; CA16). Bevor aber jemand meint, er müsse sich gegen die Herrschenden erheben, sollte er sehr sorgfältig sein Gewissen prüfen und dabei nicht außer Acht lassen, dass die Obrigkeit grundsätzlich eine gute und zu ehrende Einrichtung Gottes ist – so wie es Dietrich Bonhoeffer getan hat, bevor er sich dem Widerstand gegen Hitler anschloss.
Und die zweite Frage: Wer ist denn in einer Demokratie eigentlich die Obrigkeit, wenn da laut der Verfassung alle Macht vom ganzen Volk ausgeht? Sind dann zum Beispiel in Deutschland alle Deutschen ihre eigene Obrigkeit? Und wäre dann nicht das amerikanische Volk selbst schuld, wenn es keine vernüftige Regierung bekäme? Nein, so ist es nicht. Es ist ein Missverständnis zu meinen, dass in einem demokratischen Staat idealerweis alle über alles gemeinsam entscheiden. Abgesehen davon, dass man nicht gut über jede politische Frage Volksabstimmungen durchführen lassen kann, braucht es doch für viele Entscheidungen auch besonderen Sachverstand und besondere Weisheit, die man bei der Mehrheit nicht voraussetzen kann. So eine Jeder-entscheidet-über-alles-Demokratie wäre eine ziemlich fragwürdige Ideologie; ich würde sie Demokratismus nennen. In einer richtigen Demokratie geht es vielmehr darum, dass die Bürger Volksvertreter wählen, zu denen sie Vertrauen haben und die dann nach bestem Wissen und Gewissen regieren. Aber was ist, wenn man zu keinem der zur Wahl stehenden Kandidaten Vertrauen hat? Dann kann man immer noch versuchen, das sogenannte kleinere Übel zu wählen. Und man kann auch Regierende wieder abwählen, wenn sie sich als unfähig erweisen oder ihre Macht missbrauchen. Demokratie bedeutet also einfach ein Stück Mitverantwortung – wie sie übrigens nicht erst im modernen Rechtsstaat ausgeübt wird, sondern auch bereits in uralten Staatsformen wie zum Beispiel im afrikanischen Häuptlingswesen. Unter den Bantus ist es schon immer ein ungeschriebenes Gesetz gewesen, dass jeder in der Volksversammlung seine Meinung äußern darf, ohne Ansehen der Person. Vom Häuptling aber wird erwartet, dass er gut zuhört, die Stimmen aus dem Volk berücksichtigt und am Ende eine entsprechende Entscheidung fällt.
Egal, wie ein Gemeinwesen im einzelnen verfasst ist – in jedem Fall verdienen die Regierenden den Respekt und die Unterordnung des Volkes, und – ganz wichtig! – auch unsere Fürbitte. Denn die Obrigkeit ist ja Gottes Dienerin, von Gott eingesetzt. Amen.
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