Der heilige Kuss

Predigt über Römer 16,16a zum 7. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Dass in der Kirche zum Küssen aufgefordert wird, ist un­gewöhnlich. Wir kennen das eigentlich nur bei kirchlichen Trauungen, wenn der Pastor nach der Einsegnung einer Ehe sagt: „Das Brautpaar darf sich jetzt küssen.“ Ich selbst habe diese Aufforderung übrigens nie gegeben, wenn ich Paare getraut habe. Ich frage mich nämlich: Wieso brauchen Eheleute eine pfarr­amtliche Erlaubnis zum Küssen? Und durften sie sich vorher etwa nicht auch schon küssen, als Brautleute? Aber so ist das mit Traditionen und Ritualen: Ihr Sinn bleibt manchmal im Dunkeln. Nicht ganz so alt ist übrigens ein ähnliches Ritual bei der an­schließenden Hochzeits­feier: Die Gäste schlagen mit Löffeln an ihre Weingläser, und dann müssen sich Braut und Bräutigam küssen. Auch da frage ich mich: Ein Kuss auf Bestellung – was soll das?

Dieselbe Frage kann ich natürlich auch an die Aufforderung in unserem Predigtwort stellen, wo es heißt: „Grüßt euch unter­einander mit dem heiligen Kuss!“ Wobei aber gleich ein bedeutender Unterschied ins Auge springt: es geht hier nicht um einen erotischen Kuss, sondern um einen heiligen Kuss. Wenn wir heutzutage von Küssen hören, dann fallen uns zuerst immer erotische Küsse ein. Dabei gibt es eine ganze Reihe anderer Küsse: den Handkuss, den Gutenacht­kuss, den Bruderkuss und eben den heiligen Kuss – ganz zu schweigen vom Schaumkuss und vom Pferdekuss. Um unser Bibelwort richtig zu verstehen, benötigen wir also eine Vorstellung vom Küssen, die über das Verhalten Verliebter hinausgeht.

Wenn wir im Alten Testament nach dem Kuss forschen, dann finden wir da am häufigsten den Kuss von Familien­mitgliedern. Als Josef in Ägypten sich endlich nach vielen Wirrungen seinen Brüdern zu erkennen gab, da heißt es: „Er küsste alle seine Brüder.“ Damit zeigte er ihnen: Wir gehören zusammen – trotz allem, was zwischen uns vorgefallen ist. Man findet in der Bibel weitere Beispiele dafür, dass Brüder und Schwestern, Eltern und Kinder, Großeltern und Enkel sich mit einem Kuss begrüßen oder ver­abschiedenen und damit bezeugen: Wir gehören zusammen, wir gehören zu einer Familie! Auch heute noch gibt es diesen familiären Kuss, vor allem zwischen Eltern und kleinen Kindern.

Auf diesem Hintergrund können wir am besten verstehen, was es mit dem heiligen Kuss auf sich hat. Paulus hat nicht nur im Römerbrief dazu auf­gefordert, sondern auch in seinen Briefen an die Korinther und an die Thessa­lonicher. Und Petrus hat am Ende seines ersten Briefes geschrieben: „Grüßt euch unter­einander mit dem Kuss der (christ­lichen) Liebe!“ (1. Petrus 5,14) Für „Kuss“ steht da immer dasselbe griechische Wort, das man auch allgemein mit „Liebes­erweis“ übersetzen kann. Ob ein richtiger oder nur angedeuteter Kuss gemeint ist oder auch nur eine liebevolle Umarmung, lässt sich nicht genau sagen; auf alle Fälle handelt es sich um ein äußeres Zeichen der Liebe unter Glaubens­geschwis­tern.

Auch Jesus und seine Jünger haben sich geküsst. Sie haben ja wie eine Familie zusammen­gelebt; wie Brüder. Die Verbunden­heit durch den himmlischen Vater war ihnen sogar wichtiger als die natürliche Verwandt­schaft. Der Kuss war das damals übliche äußere Zeichen, mit dem man sich bei der Begrüßung und beim Abschied gegenseitig versicherte: Wir gehören zusammen; wird sind in herzlicher Liebe miteinander verbunden; wir bilden eine Familie. Auf diesem Hintergrund kann man verstehen, wie gemein der Judaskuss war, der Kuss des Verräters: Judas hatte das Vertrauens­verhältnis und die herzliche Liebe bereits einseitg gebrochen, aber er tat noch so, als würde er dazugehören – und machte ausgerechnet diesen Kuss zum Erkennuns­zeichen für seinen Verrat!

Trotzdem haben die Apostel den Kuss als Zeichen der Verbunden­heit beibehalten, und die ersten Christen haben ihn übernommen. So wurde er zum heiligen Kuss – also zum Zeichen dafür, dass Menschen zu Gottes Familie gehören, die durch Jesu Opfer am Kreuz heilig geworden ist. Die heilige Begrüßung fand bald Einzug in den Gottesdienst und wurde zu einer liturgischen Tradition. Ab dem 3. Jahrhundert hat man dabei auf Geschlechter­trennung Wert gelegt, damit aus dem heiligen Kuss nicht doch heimlich ein erotischer wird. In der Ostkirche, also in der späteren orthodoxen Kirche, ist diese Tradition als sogenannter Bruderkuss beibehalten wurden; darum begrüßen sich Russen heute noch mit einem richtigen Kuss, wenn sie herzliche Verbunden­heit zum Ausdruck bringen wollen. Und noch heute findet der heilige Kuss seinen Niederschlag in vielen Gottesdienst­ordnungen. In der römisch katholischen Kirche ist es üblich, dass sich die Gemeinde­glieder vor dem Empfang des Heiligen Abendmahls ein sogenanntes „Zeichen des Friedens“ geben“ – meistens ein Händedruck und ein Segens­wunsch; das geht auf den heiligen Kuss der Urchristen zurück. Bei uns in der lutherischen Kirche gibt es wenigstens noch den liturgischen Gruß zwischen Pastor und Gemeinde: „Der Herr sei mit euch!“ – „Und mit deinem Geist!“ All das will zum Ausdruck bringen: Wir gehören zusammen; wir sind Brüder und Schwestern; wir gehören zu Gottes Familie.

Zu Gottes Familie – das bedeutet: wir haben alle denselben Vater. Es ist der Vater im Himmel. Und wir stehen in herzlich-liebevoller Gemeinschaft mit ihm; wir sind nicht mehr von ihm entfremdet. Wir vertrauen darauf, dass er uns durch Jesus Christus aufgenommen hat in sein Reich, in die Gemeinschaft der Gottes­kinder. Wir dürfen uns fühlen wie der Verlorene Sohn nach seiner Heimkehr und nach seiner Wieder­aufnahme in den Schoß der Familie. Als Jesus im Gleichnis davon erzählte, sagte er an dieser Stelle: „Der Sohn machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ (Lukas 15,20) Der Vater gabe seinem wieder­gefundenen Sohn einen Begrüßungs­kuss und zeigte ihm damit: Wir gehören jetzt wieder zusammen; du gehörst zu mir, zu deinem Vater, und du sollst es hier gut haben. Wenn wir das Gleichnis auf unsere Erlösung übertragen, dann bedeutet das: Der himmlische Vater küsst uns! Er begrüßt uns herzlich in seinem Reich und versichert uns, dass wir dazugehören. Nichts kann uns mehr von seiner Liebe scheiden, nicht einmal der Tod.

Den göttlichen Begrüßungs­kuss gibt es wirklich – dieses äußere Zeichen von Gottes herzlicher Liebe. Es ist die Heilige Taufe. Da hat der himmlische Vater uns gezeigt: Du gehörtst dazu! Und auch das Heilige Abendmahl ist so ein Kuss der göttlichen Liebe. Da zeigt der Herr Jesus Christus uns immer wieder: Ihr gehört dazu, weil ich für euch mein Blut vergossen und meinen Leib in den Tod gegeben habe. „Kommunion“ wird das Heilige Abendmahl auch genannt, auf Deutsch „Gemein­schaft“. Gott bestätigt uns damit, dass wir zu seiner Familie dazugehören. Und so ist das Heilige Abendmahl zugleich auch ein Zeichen dafür, dass wir unter­einander zusammen­gehören als Brüder und Schwestern.

„Grüßt euch unter­einander mit dem heiligen Kuss“, hat der Apostel Paulus den Christen in Rom geschrieben. Nun wissen wir, wie er es gemeint hat: Zeigt euch unter­einander, dass ihr zusammen­gehört, weil ihr gemeinsam zu Gottes Familie gehört. Es ist nicht nötig, das wörtlich zu nehmen und zu erwarten, dass alle Christen sich gegenseitig küssen müssen, und sei es auch nur auf die Hand. Ein Hände­schütteln tut es auch, manchmal eine liebevolle Umarmung, ein freundlicher Gruß, ein Lächeln, ein Segenswunsch zu besonderem Anlass oder was es sonst noch für Möglich­keiten gibt, die gegenseitige Wert­schätzung und christliche Liebe zum Ausdruck zu bringen. Wer den Mitchristen und die Mitchristin wirklich liebt, der wird schon darauf achten, dass er dabei nicht übergriffig oder aufdringlich wird. Denn es geht ja nicht um den Kuss an sich oder um irgend ein anderes äußeres Zeichen, sondern es geht darum, dass wir uns gegenseitig spüren lassen: Wir gehören zusammen – durch den himmlischen Vater und durch unsern Heiland Jesus Christus. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2018.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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