Der barmherzige Hirte

Predigt über Jesaja 49,8-10 zum Sonntag Miserikordias Domini

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ein Hirte ist für seine Herde da, und eine Herde ist für ihren Hirten da. Genauso ist das auch mit unserm guten Hirten Jesus und mit uns: Der Herr ist für uns da, und wir sind für ihn da. Er hat gesagt: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ Und er hat auch gesagt: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir.“ (Joh. 10,11.27) So haben wir es heute wieder in der Evangeliums­lesung zum Hirten­sonntag gehört. Jesus hat damit nichts Neues gesagt. Dass der Herr mein Hirte ist, das beten die Gläubigen schon seit König Davids Zeiten mit dem 23. Psalm. Und dass Gottes Sohn Jesus Christus als der gute Hirte erscheint und damit Gottes neue Gnadenzeit anbricht, das haben schon die Propheten des Alten Testaments geweissagt. Eine dieser Prophe­zeiungen haben wir eben als Predigttext gehört. Sie steht im Buch des Propheten Jesaja. Jesaja hat Christus und Gottes Gnadenbund besonders scharf­sichtig voraus­gesehen und besonders schön voraus­gesagt. Die verlesenen Worte gehören zu einem seiner sogenannten Knecht-Gottes-Lieder. Dieser Knecht Gottes ist niemand anders als der gute Hirte Jesus Christus. Treu und willig dient er seinem himmlischen Vater, opfert sich für seine Herde auf und führt sie auf gute Weide. Dabei wird deutlich, wie liebevoll und gnädig Gott sich uns zuwendet. So trägt der Hirten­sonntag mit Recht auch den Namen Miseri­kordias Domini, auf Deutsch: „Barmherzig­keit des Herrn“.

Unser Gotteswort beginnt mit dem Satz: „So spricht der Herr.“ Mit wem spricht er? Mit seinem Volk, seiner Herde? Nein, sondern mit dem Hirten, dem Gottes­knecht, seinem eingeborenen Sohn Jesus Christus. Wir haben hier sozusagen das Protokoll einer himmlischen Dienst­besprechung zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn. Auch das ist Gnade: Dieses Gespräch zwischen zwei Personen der heiligen Dreifaltig­keit ist keine geheime Verschluss­sache, sondern steht öffentlich in der Bibel. Gott gewährt uns diesen Einblick, damit wir erkennen, wie gut er es mit uns meint.

Zuerst redet der himmlische Vater über den Hirten, danach über die Herde. Er sagte seinem Sohn also zuerst das, was ihn direkt selbst betrifft: „Ich habe dich erhört zur Zeit der Gnade und habe dir am Tage des Heils geholfen und habe dich behütet und zum Bund für das Volk bestellt, dass du das Land aufrichtest und das verwüstete Erbe zuteilst.“

Lassen wir uns durch die Redeweise „Ich habe…“ nicht täuschen! Es geht hier nicht um die Vergangen­heit, es geht hier – aus Jesajas Blickwinkel – um die Zukunft. Jesaja hat meistens in dieser Weise prophezeit, so als sei das Angekündigte bereits geschehen. Erinnern wir uns zum Beispiel an die Karfreitags­lesung aus Jesaja 53; da heißt es: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmer­zen…“ Mit dieser Redeweise hat der Prophet deutlich gemacht: Was er ankündigt, wird so gewiss eintreffen, als sei es schon längst geschehen.

Der Auftrag des himmlischen Vaters ist klar: Sein Sohn soll seinem Volk den neuen Bund stiften. Das „verwüstete Erbe“, also die durch Sünde verspielte Gottes­kindschaft, soll wieder­hergestellt werden. Der Knecht Gottes soll Gottes Reich neu aufrichten. Dafür hat der Vater in seinem ewigen Plan einen festen Zeitpunkt bestimmt. „Zeit der Gnade“ nennt er diesen Zeitpunkt und „Tag des Heils“. Die Juden, die damals diese Worte hörten, dachten bei diesen Begriffen sogleich an Gottes Gesetz zum sogenannten Jubeljahr: Alle fünfzig Jahre sollte es ein „Gnadenjahr“ und eine Heilszeit geben; da sollten alle Sklaven freikommen und alle Schulden erlassen werden. Dieses Gesetz und diese Begriffe waren in sich selbst Prophe­zeiung; sie wiesen voraus auf die Gnadenzeit, wo Jesus Mensch wird und Gottes neuen Bund aufrichtet durch seinen Tod und seine Auf­erstehung. Im Neuen Testament hat der Apostel Paulus wiederholt darauf hingewiesen. So hat er zum Beispiel den Galatern geschrieben: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan“ (Gal. 4,4). Und im 2. Korinther­brief hat er die Jesaja-Weissagung sogar ausdrücklich zitiert und dann geschrieben: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe jetzt ist der Tag des Heils!“ (2. Kor. 6,2). Der Tod und die Auferstehung des Gottes­knechts markieren den großen Wendepunkt vom alten zum neuen Bund, von der Gesetzeszeit zur Gnadenzeit.

Für Jesus war das freilich eine schwere Zeit. Er erniedrigte sich selbst, nahm Knechts­gestalt an, wurde menschlich, wurde arm, wurde versucht, verfolgt, gefangen, gefoltert, verurteilt und getötet. Aber sein himmlischer Vater hat ihm bei­gestanden, so wie er es ihm im Jesajawort verheißen hatte: „Ich habe dich erhört und habe dir geholfen und habe dich behütet…“ Er hat seinen Sohn stets erhört, wenn er zu ihm betete. Er sandte seinem Sohn in der großen Not im Garten Getsemane einen Engel, der ihn stärkte. Und er ließ nicht zu, dass sein Sohn im Grab verwest, sondern hat ihn von den Toten herauf­geführt und über alles erhöht.

Der Sohn hat die Barmherzig­keit des himmlischen Vaters also selbst erfahren, und er gibt sie nun weiter an uns Menschen. Davon handelt der zweite Teil unseres Gottes­wortes. Da steht nicht mehr der Hirte im Mittelpunkt, sondern die Herde. Das Ganze ist als Auftrag an den Gottesknecht formuliert. Er soll den „Gefangenen“ sagen: „Geht heraus!“, und zu denen in der Finsternis des Kerkers: „Kommt hervor!“ Befreiung aus Dunkelheit und Knechtschaft – das ist überhaupt Jesajas großes Thema: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht“ (Jesaja 9,1). Und: „Mache dich auf, werde licht, denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir“ (Jesaja 60,1). Christus selbst ist dieses Licht. Er hat ja nicht nur gesagt: „Ich bin der gute Hirte“, sondern er hat auch gesagt: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh. 8,12). Und so wird seine Gnadenzeit zu unserer Gnadenzeit, sein Tag des Heils zu unserem Tag des Heils: Wenn Jesus uns in sein Licht ruft. Mit der Taufe hat er das getan. Wir dürfen nun heraustreten aus der Finsternis unserer Sünde, unserer Angst, unserer Leiden und unserer Sterblich­keit. Jesus hat mit seiner Auferstehung die Tür des Kerkers auf­gesprengt. Nun hören wir seine Stimme, vertrauen ihm, treten zu ihm und stehen im Licht.

Mit dem nächsten Satz ändert sich das Bild. Nun hören wir nicht mehr von Finsternis und Licht, sondern davon, dass der gute Hirte uns auf gute Weide führt. Der himmlische Vater verheißt: „Am Wege werden sie weiden und auf allen kahlen Höhen ihre Weide haben.“ Aber was ist das für eine merkwürdige Weide – „am Wege“ und „auf kahlen Höhen“? Auf dem Weg ist doch alles Gras weg­getrampelt, da wächst kein Hälmchen mehr für die Schafe! Und mit den kahlen Felsen im Gebirge verhält es sich ebenso! Aber hier wird einfach die Situation unserer Welt beschrieben: Da sind wir umgeben von Sünde und Leid und Krankheit und Tod; da merken wir oft kaum etwas von Gottes Barmherzig­keit. Mitten in dieses Elend hinein schickt uns Gott nun seinen Geist, den Tröster. Der erquickt uns mit dem Evangelium, der labt uns mit dem Heiligen Abendmahl, der stärkt uns mit seinem Segen. Im Bild ausgedrückt: Auf wunderbare Weise schafft es der gute Hirte, dass unsere Seele auch an scheinbar völlig kahlen Stellen gute Weide findet. Es ist so, wie es der 23. Psalm ausdrückt: Sogar im finstern Tal spüren wir seine Gegenwart und seinen Trost; sogar im Angesicht unserer Feinde bereitet er uns einen Tisch. Gott hat uns in dieser Welt kein leichtes und sorgloses Leben versprochen, aber er hat uns versprochen, dass er in allem Kreuz und Leid nahe ist und Trost spendet.

Ja, sein Versprechen gilt: „Sie werden weder hungern noch dürsten, sie wird weder Hitze noch Sonne stechen; denn ihr Erbarmer wird sie führen und sie an die Wasser­quellen leiten.“ Das hebräische Wort, das Luther mit „Hitze“ übersetzt hat, bedeutet nicht nur „Glut“, sondern kann auch „Luft­spiegelung“ bedeuten. Wenn es im Sommer sehr heiß ist, dann wirkt die Luft über einer Sandfläche oder auch über Asphalt wie ein Spiegel. Von Weitem glänzt es wie Wasser, aber in Wirklichkeit ist da nichts als Gluthitze. So geht es manchmal im Leben: Wir bilden uns ein, dass wir durch irgendetwas in der Welt Freude, Trost oder inneren Frieden finden können, aber dann stellt sich das als trügerische Hoffnung heraus; wir können damit nicht unseren Lebensdurst stillen. Der „Erbarmer“ jedoch, also der barmherzige gute Hirte Jesus Christus, der kann das und der tut das, wie Jesaja bezeugt hat: „Ihr Erbarmer wird sie führen und sie an die Wasser­quellen leiten.“ Ja, unser Hirte weidet uns auf grüner Aue und führt uns zum frischen Wasser. Hier, im Gottes­dienst, in der Gemeinde der Heiligen, unter Gottes Wort und an seinem Tisch, hier finden wir diese grüne Aue und dieses frische Wasser. Und hier preisen wir nicht nur heute, sondern immer wieder die Miseri­kordias Domini, die Barmherzig­keit des Herrn, unsers guten Hirten. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2018.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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