Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Wer Apfelsinen mag, hat sie bestimmt schon mal gegessen: die leckeren Jaffa-Orangen, eine süße Sorte fast ohne Kerne. Ihren Namen haben diese Apfelsinen von der israelischen Hafenstadt Jaffa; dort werden sie überwiegend angebaut. Um diesen Ort geht es im heutigen Predigtext. Das heutige Jaffa ist nämlich dieselbe Stadt wie das biblische Joppe.
In Joppe war eine kleine christliche Gemeinde entstanden. Glieder der Jerusalemer Urgemeinde hatten das Evangelium ins Umland getragen und auf diese Weise dafür gesorgt, dass es immer mehr Orte mit kleinen Hausgemeinden gab. Zu den treusten Seelen in Joppe gehörte Tabita (in älteren Bibelausgaben wird sie auch Tabea genannt). Diese Jüngerin war vor allem für ihre Liebesdienste an Armen und Bedürftigen bekannt sowie für ihre großzügigen Spenden.
Jawohl, eine Jüngerin wird sie in der Apostelgeschichte des Lukas genannt. Wir würden heute sagen: eine Christin. Aber das Wort „Christ“ war zu der Zeit noch gar nicht erfunden worden. So nannte man diejenigen, die getauft waren und an Jesus glaubten, einfach Jünger beziehungsweise Jüngerinnen. So entspricht es auch dem Missionsbefehl unsers Herrn, wo es heißt: „Macht zu Jüngern alle Völker; tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe“ (Matth. 28,19‑20). Wer getauft ist und die Lehre des Evangeliums gläubig annimmt, der ist ein Jünger Jesu, beziehungsweise eine Jüngerin – so einfach ist das. Vielleicht sollten auch wir uns öfter mal als Jünger bezeichnen und uns daran erinnern, was christliches Leben eigentlich bedeutet: nämlich dem Herrn und Meister Jesus Christus nachfolgen.
Tabita war, wie gesagt, eine vorbildliche Jüngerin, ein Muster an Nächstenliebe und Opferbereitschaft. Umso mehr war die Christengemeinde in Joppe geschockt, als Tabita plötzlich starb. Wie konnte es sein, dass Gott gerade diese Leuchte der Gemeinde auslöschte? Es ist jedoch nicht überliefert, dass jemand sich darüber bei Gott beschwerte. Man nahm das Unabänderliche aus seiner Hand an und tat der toten Tabita den letzten Liebesdienst, den damals Angehörige für ihre Verstorbenen zu tun pflegten: Man machte den Leichnam schön zurecht und bahrte ihn auf. Und dann holten zwei Jünger aus Joppe Petrus, der sich gerade im Nachbarort Lydda aufhielt. Sie wollten, dass er die Gemeinde tröstet.
Jawohl, nicht zuletzt auch dafür ist ein Pastor da, dass man ihn kommen lässt, wenn Beistand und Hilfe nötig sind. Lange Zeit war das selbstverständlich in der Christenheit: Wenn jemand schwer erkrankte, rief man den Seelsorger, und der leistete Beistand mit Gottes Wort und Sakrament. Und wenn jemand zu Hause gestorben war, dann rief man ihn für eine Aussegnung. Und wenn man den Toten zu Grabe trug, dann hielt der Pastor mit der ganzen Gemeinde einen Beerdigungsgottesdienst. Es ist noch gar nicht so lange her, da blieben viele kirchenferne Menschen nur deshalb formal Mitglieder, weil sie christlich bestattet werden wollten. Heutzutage ändert sich das. Viele Kirchglieder halten es nicht mehr für nötig, den Pastor zu einem schwer Kranken oder Sterbenden zu rufen; oft wird er nicht einmal informiert. Und was Beerdigungen anbetrifft: Vielen ist es egal, ob da ein Gottesdienst mit Pastor und Gemeinde gefeiert wird oder ob das Bestattungsinstitut einen Redner vermittelt – Hauptsache, es ist irgendwie stimmungsvoll. Überhaupt werden Pastoren anscheinend immer überflüssiger: Kinder werden nicht mehr zur Taufe gebracht, Schüler werden nicht mehr zum Konfirmandenunterricht angemeldet, und was den Gottesdienstbesuch betrifft, halten viele den Heiligen Abend für ausreichend. Es wäre gut, wenn da wieder ein Umdenken stattfände und alle ernsthaften Christen sich dafür einsetzten – nach dem Vorbild der Jünger in Joppe, die beim plötzlichen Tod der Tabita den Petrus holen ließen.
Petrus war ein guter Pastor und Seelsorger. Er ließ sich nicht lange bitten, sondern ging gleich mit den Boten mit. Sie waren etwa einen halben Tag lang zu Fuß unterwegs. Schließlich kamen sie zum Haus der Tabita. Der Leichnam war im Obergemach aufgebahrt, also in dem separaten Raum, der sich auf dem Flachdach der meisten Häuser befand. Im Haus der Verstorbenen hielten sich viele Menschen auf – nicht nur Verwandte, sondern auch Nachbarn und Gemeindeglieder. Petrus stieg die schmale Steintreppe an der Außenwand des Hauses hinauf und betrat das Obergemach. Auch dort herrschte dichtes Gedränge. Die Witwen der Gemeinde waren da versammelt und sangen Klagelieder; das war damals ein fester Bestandteil des Trauerrituals. Bei Nichtchristen taten das oft bezahlte Klageweiber, aber in diesem Fall übernahmen die Witwen der Gemeinde diesen Dienst. Hier und an anderen Stellen des Neuen Testaments können wir erkennen, dass der Witwenstand zugleich mit einem besonderen Status beziehungsweise Amt in der Kirche verbunden war. Die Witwen wurden zu mancherlei diakonischen Diensten herangezogen, wie hier zum Beispiel zur Totenbeweinung. Es tat den Witwen gut, eine sinnvolle Aufgabe zu haben, wo sie nun nicht mehr für ihre Männer und ihre inzwischen erwachsenen Kinder sorgen mussten. Als Petrus die Dachkammer betrat, verstummte der Gesang. Die Witwen begrüßten den Apostel, erzählten ihm von Tabita und zeigten ihm Handarbeiten, die die Verstorbene zu Lebzeiten angefertigt hatte. Petrus schaute sich alles an und wird dabei tröstende Worte gefunden haben.
Jawohl, christliche Verkündigung und christlicher Trost sind nie abgehoben, sondern immer auf die tatsächliche Situation bezogen sowie auf die Gewohnheiten des jeweiligen Landes und der jeweiligen Zeit. Die Witwen der Gemeinde und andere Mitchristen standen den Hinterbliebenen so bei, wie man es damals bei Verwandten, Nachbarn oder guten Freunden tat. Sie ließen die Trauernden nicht im Stich, sondern waren in diesen schweren Stunden an ihrer Seite – und sei es auch nur mit dem üblichen Singen von Klageliedern. So leisteten sie auch für sich selbst Trauerarbeit und erinnerten sich mithilfe von Tabitas Handarbeiten dankbar an deren Leben und Wirken. Auch Petrus interessierte sich nicht nur für Theologie und fromme Worte, sondern hörte zu und ließ sich alles zeigen. Zugegeben, das ist nicht die Hauptbotschaft dieses biblischen Berichts; trotzdem können wir daraus folgendes mitnehmen: Wie schön und wohltuend ist es, wenn Mitchristen, sowohl der Gemeindepastor als auch Gemeindeglieder, bei Todesfällen lebendig Anteil nehmen, gemeinsam die Trauer bewältigen und den Angehörigen zur Seite stehen.
Nun aber kommen wir zur Hauptbotschaft der Geschichte. Irgendwann fand Petrus, dass genug geklagt war. Schließlich ist Christus auferstanden und hat dem Tod die Macht genommen! Kurzerhand schob Petrus den Witwenchor zur Tür hinaus. Er wollte einen Moment allein sein und in der Stille beten. Er kniete nieder und betete. Dabei muss etwas geschehen sein, das wir im biblischen Text nicht direkt überliefert finden: Gott muss Petrus die Gewissheit geschenkt haben, dass Tabita noch einmal in das irdische Leben zurückkehren wird – zum Zeichen und Zeugnis für die Macht des auferstandenen Christus, an den sie geglaubt hatte und dem sie gedient hatte. Mit dieser von Gott geschenkten Überzeugung wandte Petrus sich der Totenbahre zu und sprach: „Tabita, steh auf!“ Wenn das nur menschliche Worte gewesen wären, hätten sie nichts bewirken können. Ja, es wäre geradezu makaber, einen Toten aufzufordern, er möchte bitteschön aufstehen. Aber es waren eigentlich nicht die Worte von Petrus, sondern die Worte von Jesus selbst im Mund des Petrus: „Tabita, steh auf!“ Der Apostel war in diesem Augenblick ganz Werkzeug seines Herrn. Und wie schon manches Mal zuvor Gottes Wort einem Toten das Leben neu geschenkt hat, und wie Gottes Wort die ganze Welt in ihr Dasein gerufen hat, so erwies sich auch in diesem Fall die Macht von Gottes Wort: Tabita öffnete die Augen und richtete sich auf ihrer Totenbahre auf. Petrus half ihr, ganz aufzustehen, und rief dann die Witwen und alle im Haus vesammelten Christen nach oben, damit sie sich von dem Wunder überzeugen können. „Heilige“ werden die Christen an dieser Stelle genannt, was dasselbe bedeutet wie Jünger – Heilige, weil sie durch das Blut Christi geheiligt und in der Taufe von ihren Sünden reingewaschen worden sind. Die Auferweckung der Tabita verbreitete sich in ganz Joppe wie ein Lauffeuer und hatte eine große Erweckung zur Folge. Viele Bürger der Stadt, die bisher noch keine Christen waren, kamen zum Glauben und vergrößerten die Gemeinde der Heiligen vor Ort enorm. Petrus aber blieb längere Zeit in Joppe und kümmerte sich um diese Gemeinde als Pastor und Seelsorger: Er predigte Gottes Wort und betete.
Jawohl, das sind die Hauptaufgaben eines Pastors: Predigen und Beten. Petrus hatte im Obergemach bei der toten Tabita gebetet und dann vollmächtig Gottes Wort gesagt – im Namen und Auftrag des auferstandenen Herrn Jesus Christus. Immer wenn ein Pastor tauft, das Abendmahl verwaltet oder in der Beichte die Vergebung der Sünden zuspricht, geschieht dasselbe: Er handelt in der Vollmacht des Auferstandenen, beziehungsweise: Der Auferstandene handelt durch ihn, er ist sein Werkzeug. Allerdings stehen dabei in der Regel keine Toten auf. Das ist für manche Christen ein Problem. Einige von ihnen ziehen daraus den Schluss, dass es auch damals keine echten Totenauferweckungen gegeben hat, und sie halten Geschichten wie die mit der Tabita nur für fromme Legenden. Andere ziehen daraus den Schluss, dass es heute kaum noch echte Gläubige gibt, schon gar nicht unter den Pastoren, denn sie meinen, wenn jemand echt glaubt, dann müsse er doch wie Petrus Tote auferwecken können. Beide Gruppen irren, denn beide Gruppen vermischen menschliche Erwartungen mit Gottes Wort. Bleiben wir lieber ganz schlicht am Wort und setzen es mit unserem Leben in Beziehung. Wir stellen dann fest: Auch damals in der Urkirche war eine Totenauferweckung wie die der Tabita etwas ganz Besonderes; deshalb steht sie ja auch in der Bibel. Es war ein ganz besonderes Zeichen Gottes, mit dem er in der damaligen Missionssituation wirkte und Menschen zum Glauben rief. Natürlich ist Tabita dann irgendwann noch einmal gestorben und wird erst am Jüngsten Tag wieder auferstehen, aber mit ihrer außerordentlichen Rückkehr in die irdische Welt hatte Gott der noch jungen Christenheit ein eindrucksvolles Zeichen der Macht des auferstandenen Christus geschenkt. Auch heute gibt es viele Zeichen der Macht Christi. Es sind andere Zeichen, aber wer die Augen vor ihnen nicht verschließt, der kann sie erkennen. Es gehört zu einem demütigen und nüchternen Christenglauben hinzu, dieses Handeln Gottes zu akzeptieren: Gott erweist seine Macht nicht immer und an allen Orten gleich, auch nicht immer gemäß unseren Wünschen und Erwartungen, sondern er handelt auf verschiedene Weisen. Trotzdem ist die Totenauferweckung der Tabita auch noch für uns heute ein machtvolles und Glauben stärkendes Zeichen, denn wir können immer wieder diesen Bericht aus dem Neuen Testament hören und darüber den Auferstandenen für seine Macht loben. Amen.
PREDIGTKASTEN |