Von der Schuld

Predigt über Psalm 51,16 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Vor einiger Zeit haben zwei junge Männer mit ihren Autos eine Wettfahrt unternommen – und zwar mitten im nächtlichen Berlin, mitten auf dem Kurfürsten­damm. Sie fuhren dabei bis zu 170 Kilometer pro Stunde und missachteten mehrere rote Ampeln. Schließlich geschah ein Unfall, bei dem ein unschuldiger Autofahrer ums Leben kam. Er hatte Grün gehabt. Ein Gericht verurteilte die Rennfahrer wegen Mordes zu lebenslanger Haft und begründete das so: Wer derart leichtsinnig handelt, dem muss bewusst sein, dass er damit jemanden umbringen kann. Ein anderes Gericht hat dieses Urteil allerdings wieder aufgehoben; die Sache muss nun neu verhandelt werden. Die meisten Menschen werden dem ursprüng­lichen Urteil zustimmen und sagen: Wer mutwillig ein Menschen­leben auslöscht, der muss hart bestraft werden; das Strafmaß muss der Schwere seiner Schuld entsprechen. In früheren Zeiten hat man sogar gefordert, dass Mörder hingerichtet werden. Man hielt es für gerecht, wenn jemand sein Leben hergeben muss für das Leben, das er einem anderen weggenommen hat.

König David hatte auch solches Gerechtig­keits­empfinden. Weil er zugleich der oberste Richter in Israel war, fällte er manche Todes­urteile. Aber einmal machte er sich selbst des Mordes schuldig. Um seinen Seitensprung mit Batseba zu vertuschen, schickte er ihren Ehemann Uria in den sicheren Tod. Später bereute er das bitter. Der 51. Psalm gibt Zeugnis von dieser Reue. David war sich nach seinem eigenen Gerechtig­keits­empfinden bewusst: Jetzt habe ich selbst mein Recht auf Leben verwirkt, weil ich unschuldiges Blut vergossen habe. Er sprach von seiner „Blut­schuld“.

Das Gerechtig­keits­prinzip „Leben für Leben“ ist uralt, noch viel älter als Davids Schuld und Reue. Gott selbst hat es den Menschen verkündet und ins Gewissen geschrieben. Gleich nach der Sintflut sagte er Noah und den anderen Über­lebenden: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden“ (1. Mose 9,6). Solange es noch keine Gerichte gab, herrschte die Blutrache: Wenn jemand ermordet wurde, dann durfte seine Familie den Mörder töten. Später wurde dieses Prinzip in staatliche Gesetze gefasst; wir finden es auch im Gesetz des Mose für das Volk Israel. Jesus und die Apostel hielten an diesem Prinzip fest. Als Jesus im Garten Gethsemane gefangen genommen wurde und Petrus einen Soldaten mit dem Schwert bedrohte, da mahnte Jesus ihn: „Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen“ (Matth. 26,52).

An manchen Gerichts­gebäuden ist eine Frau mit einer Balkenwaage abgebildet. Sie ist ein Sinnbild der Gerechtig­keit. Zuerst stellt das Gericht die Schuld fest und legt sie in die eine Waagschale, dann verhängt das Gericht eine Strafe und legt sie in die andere Waagschale. Das bedeutet: Genauso schwer wie die Schuld soll auch die Strafe sein. Das gilt nicht nur bei Mord und Blutschuld, sondern auch bei jedem anderen Vergehen: Körper­verletzung, Diebstahl, Beleidigung oder was auch immer es sei. So entspricht es dem menschlichen Rechts­empfinden seit eh und je: Wer Böses tut, muss entsprechend bestraft werden; Schuld und Strafe müssen ausgewogen sein. Im Prinzip gilt das bis heute – im Großen wie im Kleinen.

Wenn wir ein intaktes Gewissen haben, dann wird es uns ähnlich wie David gehen. Nicht, dass wir jemanden um­gebracht hätten. Aber wir verhalten uns immer wieder so, dass Mitmenschen darunter zu leiden haben. Das ist dann jedesmal eine Einbuße an Lebensfreude und Lebens­qualität. Wir nehmen niemanden das Leben gänzlich, aber wir brechen gewisser­maßen kleine Stücke davon weg. Indem wir das tun, werden wir nicht nur am Nächsten schuldig, sondern auch an Gott. Denn wenn wir den Mitmenschen wehtun, dann tut das auch Gott weh, der alle Menschen liebt. Wir stehlen damit auch etwas von Gottes Ehre, denn wir missachten sein Gebot der Nächsten­liebe. Selbst wenn es keine Blutschuld ist: Schuldig sind wir allzumal, sowohl den Menschen als auch Gott gegenüber. Wir spüren in unserem Gewissen das alte Gerechtig­keits­prinzip: Jede Schuld verlangt nach einer angemessenen Strafe. Da merken wir, wie schlimm es um uns steht – genauso wie König David es damals merkte. Und dann ist die Reue nicht weit.

Davids Reue führte ihn zu einer Bitte. Der 51. Psalm ist ja ein Gebet. David bat Gott: „Errette mich von Blutschuld, Gott, der du mein Gott und Heiland bist, dass meine Zunge deine Gerechtig­keit rühme.“ Wenn wir so eine Bitte zum ersten Mal in unserm Leben hören würden, dann würde sie uns ganz ungewöhnlich vorkommen, ja geradezu unerhört. David möchte, dass ihm die fällige Strafe für seine Blutschuld erspart bleibt. Er möchte also, dass in seinem Fall das uralte Gerechtig­keits­prinzip außer Kraft gesetzt wird. Er hofft, dass Gott ihm diese Bitte gewährt. Und das Aller­merkwürdig­ste ist: Er würde dieses Handeln Gottes dann als Gerechtig­keit rühmen. Wie sagte er doch am Schluss seiner Bitte? „… dass meine Zunge deine Gerechtig­keit rühme.“ Sollte Gott wirklich so ungerecht sein, dass er Davids Blutschuld ungestraft lässt? Und sollte David das dann wirklich als Gerechtig­keit rühmen dürfen?

Wir Menschen wären an dieser Stelle mit unserem Latein am Ende. Aber bei Gott ist kein Ding unmöglich. Und so hat Gott es tatsächlich geschafft, Davids Bitte zu erhören und dennoch ganz gerecht zu bleiben. Dasselbe bringt Gott mit unserer Schuld fertig, wenn wir sie ihm bekennen und reumütig um Rettung bitten. Die besondere Art und Weise, wie Gott das schafft, ist bereits in Davids Bitte enthalten – wenn auch versteckt. Bei Davids Anrede an Gott finden wir Worte, die auf den ersten Blick etwas umständlich klingen: „Errette mich von Blutschuld Gott, der du mein Gott und Heiland bist.“ Auf das Wort „Heiland“ kommt es aber an! Im Hebräischen ist es dasselbe Wort, das auch im Namen „Jesus“ drinsteckt: Heiland, Retter, Seligmacher – das bedeutet der Name Jesus. Jesus ist der Schlüssel dazu, wie Gott dem reumütigen Sünder die gerechte Strafe ersparen und dennoch gerecht bleiben kann. Denn Jesus hat stell­vertretend die Strafe für alle Sünden auf sich genommen, als er am Kreuz starb. So ist das uralte Gerechtig­keits­prinzip gewahrt, aber der Sünder muss nicht mehr an seiner Schuld zugrunde gehen.

„… der du mein Gott und Heiland bist“, betete David. Der Heiland ist Jesus Christus, der Nachkomme Davids, den Gott durch seine Propheten in dieser Zeit anzukündigen begann. Wenn David hier Gott bittet, dann bittet er also bereits den Davidssohn, der zugleich Gottes Sohn ist und tausend Jahre später am Kreuz die Sünden der Welt trägt. Auch die Strafe für Davids Blutschuld hat er da getragen und die Strafe für Davids Ehebruch. Und er trug die Strafe für alle, die direkt an seinem Tod schuldig geworden sind: für die Mitglieder des Hohen Rats und für Pontius Pilatus und für die Soldaten, die ihn ans Kreuz schlugen, und für die Menge, die vor Pilatus brüllte: „Kreuzige ihn!“

Als Pilatus keine Ver­antwortung für Jesu Todesurteil übernehmen wollte, da rief die Menge: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Matth. 27,25) Sie sagten das im Sinne des alten Gerechtig­keits­prinzips und brachten damit zum Ausdruck, dass sie eine angemessene Strafe auf sich nehmen würden, falls sie mit dem Tod Jesu eine Blutschuld auf sich laden. Natürlich fühlten sie sich dabei nicht schuldig, sondern im Recht. Aber ihr Wort erfüllte sich dann in ganz anderer Weise, als sie gedacht hatten. Das Blut Jesu floss in die Straf-Waagschale, bis sie ebenso schwer war wie die Sünden-Waagschale der Menschheit. Auch die Blutschuld, die die Menschen damals an Jesus auf sich geladen hatten, wurde durch Jesu Blut aufgewogen.

Und auch unsere Schuld hat das Blut des Heilands aufgewogen, egal wie klein oder wie groß sie ist. So ist der Gerechtig­keit Genüge getan – und zugleich der Barmherzig­keit. So erhört Gott unsere Bitte und tilgt unsere Schuld. Ja, das ist die großartige, liebevolle, unfassbare Gottes­gerechtig­keit, die der Heiland am Kreuz erworben hat. Da ist alles in Ordnung gekommen zwischen uns und Gott. Freilich: Unter den Menschen gilt noch weiter das alte Gerechtig­keits­prinzip, dass jeder Übeltäter selbst seine Schuld durch eine gleich schwere Strafe sühnen soll. Dieses Prinzip muss auch weiter gelten, sonst würde unsere sünden­verseuchte Welt im Chaos versinken. Aber bei Gott ist all unsere Schuld schon längst gesühnt durch das Blut des Davidssohns. Darum rühmen unsere Zungen Gottes Gerechtig­keit in Ewigkeit. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2018.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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