Bis das Maß voll ist

Predigt über Kolosser 1,24-27 zum Epiphaniasfest

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Das ist unerhört: Die königlichen Besucher knien in der ärmlichen Hütte auf dem Fußboden! Sie knien vor einem Säugling nieder, dem Sohn armer Leute. Reich sind sie, gebildet sind sie, von weit her gereist sind sie, aus einem fernen heidnischen Land. Trotzdem knien sie vor dem Kind in der Hütte in Bethlehem und beten es an als den göttlichen Herrscher. Dann öffnen sie ihre mit­gebrachten Schatztruhen und lassen sich nicht lumpen: Sie schenken dem Baby Gold, Weihrauch und Myrrhe. Was für ein Kontrast: Hier die Herrlichkeit der reichen Weisen, dort die Niedrigkeit des armen Kindes. Dass dieses Kind in Wirklichkeit viel herrlicher ist als die Weisen und als alle Herrlichkeit der Welt, ist äußerlich nicht zu erkennen; allein der Glaube der klugen Männer nimmt es wahr. Wie geheimnis­voll!

Die äußere Ärmlichkeit Christi gehört zu den Leiden dazu, die er als Mensch auf sich genommen hat. Aber sie ist noch nicht alles; das Maß seiner Leiden ist längst noch nicht voll. Er muss erst noch ein Flüchtling werden, muss vor den mörderischen Nach­stellungen des Herodes fliehen und mit seinen Eltern jahrelang im Ausland leben. Später, als er erwachsen ist, zieht er ohne festen Wohnsitz durchs Land, hungert, friert und lebt gemeinsam mit seinen Jüngern von milden Gaben. Immer noch nicht ist das Maß voll. Feinde greifen ihn an – teils listig mit Fallen und Fangfragen, teils brutal mit Hass und Steinwürfen. In den Hinter­zimmern der Mächtigen werden Mordpläne gegen ihn geschmiedet. Aber das Maß seiner Leiden ist immer noch nicht voll. Einer seiner engsten Vertrauten verrät ihn heim­tückisch. Jesus wird fest­genommen, verhört, gefoltert und ohne Grund zum Tode verurteilt. Man nagelt ihn ans Kreuz, man lässt ihn da stundenlang hängen und qualvoll sterben. Erst da, als sich die Sonne verfinstert und der Vorhang im Tempel zerreißt, ist das Maß voll. „Es ist vollbracht“ ruft Jesus und stirbt. Wie geheimnis­voll!

Ebenso wie die weisen Männer in Bethlehems ärmlicher Hütte sehen alle, die an Jesus glauben, tiefer. Auch wir wissen mehr, als dass Jesus nur das Maß seiner Leiden voll gemacht hat. Denn auf dem gesamten Leidensweg von der Krippe bis hin zum Kreuz hat sich zugleich seine Herrlichkeit erfüllt, die Herrlichkeit des „ein­geborenen Sohns vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Johannes 1,14). Ja, so hat er die Welt erlöst, so hat er allen Völkern das Tor zum Himmel geöffnet. Erst zu Ostern wurde sichtbar, was er da mit seinem Leiden und Sterben vollbracht hat: Er hat dem Tod die Macht genommen und ist voraus­gegangen zu seinem himmlischen Vater, um uns Wohnungen zu bereiten in Gottes neuer Welt. Wie geheimnis­voll!

Der Apostel Paulus hat uns einen Brief geschrieben, darin steht: „Ich soll euch sein Wort reichlich predigen , nämlich das Geheimnis, das verborgen war seit ewigen Zeiten und Ge­schlechtern, nun aber ist es offenbart seinen Heiligen.“ Die klügsten Menschen der Welt können dieses Geheimnis nicht fassen und die reichsten Menschen der Welt können diese Information nicht kaufen, die da sagt: Jesus musste das Maß seiner Leiden voll machen, Jesus musste den bitteren Kelch des Leids ganz austrinken, Jesus musste den steinigen Weg nach Golgatha ganz zuende gehen, damit wir Sünder selig werden. Gottes Geist aber offenbart dieses Geheimnis allen, die es hören wollen und ihm vertrauen. Auch die Armen, auch die Einfältigen, auch die Kinder können dieses Geheimnis hören und darüber staunen lernen. Paulus fährt fort: „Nun aber ist es offenbart seinen Heiligen, denen Gott kundtun wollte, was der herrliche Reichtum dieses Geheimnisses unter den Heiden­völkern ist, nämlich Christus in euch, die Hoffnung der Herrlich­keit.“

Es gehört noch etwas anderes zu diesem Geheimnis, das Gott durch Christus offenbart hat und das der Apostel Paulus verkündigt: Wer getauft ist und an Christus glaubt, der ist mit ihm auf geheimnis­volle Weise verbunden. Christus lebt in ihm, und er lebt in Christus. „Christus ist in euch“, so hat Paulus geschrieben. Wer getauft ist und an Christus glaubt, der ist dadurch ein Glied am Leib Christi. Die Bibel nennt diesen Leib, der aus allen Gottes­kindern besteht, Ekklesia, das heißt Kirche und Gemeinde. Dieser Leib Christi folgt nach auf dem Heilsweg, den der Herr selbst voraus­gegangen ist. Es braucht uns darum nicht zu wundern, dass der Weg der Kirche ein Leidensweg ist, ein Weg unter dem Kreuz. Jedes Gotteskind trägt sein Päckchen Leid mit auf diesem Weg – solange bis das Maß voll ist und die Gotteskinder genug gelitten haben in dieser Welt. Wem das bewusst ist, für den ist das Kreuz auf seinem Lebensweg keine Anfechtung, sondern im Gegenteil eine Bestätigung dafür, dass er auf dem richtigen Weg hinter Christus her ist – auf dem Weg, der zu Gottes neuer Welt und zur ewigen Herrlichkeit führt. Und wer in solchem Glauben geistlich gereift ist, kann sich sogar über sein Kreuz freuen. Darum heißt es in dem bekannten Choral: „In dir ist Freude in allem Leide.“ Dabei müssen die Wörter „in dir“ dick unter­strichen werden, denn die Freude im Leide hängt ja ganz wesentlich damit zusammen, dass wir mit Christus verbunden sind und dass wir durch sein Leiden erlöst sind.

Der Apostel Paulus hat das nicht zu knapp am eigenen Leib erfahren. Als er den Kolosser­brief schrieb, saß er unschuldig im Gefängnis. Das war nur eines von vielen Leiden, die sein aposto­lisches Wirken begleiteten. Aber Paulus war so reif im Glauben, dass er im Blick auf sein persönliches Kreuz schreiben konnte: „Nun freue ich mich in den Leiden, die ich für euch leide, und erstatte an meinem Fleisch, was an den Leiden Christi noch fehlt, für seinen Leib, das ist die Gemeinde.“ Paulus wusste also: Das Maß ist noch nicht voll; wir Christen sind noch nicht im Himmel angekommen. Er wusste aber auch: Mit jedem Leid, das er an seiner eigenen Person erträgt, wird das Maß ein wenig mehr gefüllt – das Maß der Leiden der Kinder Gottes insgesamt, also das Maß der Leiden der ganzen Kirche bis hin zum Jüngsten Tag. Darum konnte er sich über sein Leiden freuen, denn es war für ihn selbst und für die anderen Christen eine Bestätigung, dass sie sich unaufhaltsam dem Tag der endgültigen Erlösung nähern.

Liebe Brüder und Schwestern, das ist auch für uns ein starker Trost. Denn auch wir kennen ja dieses von Gott offenbarte Geheimnis, dass Christus uns durch Leiden erlöst hat und dass wir darum in seiner Nachfolge durch Leiden dem Himmel näherkommen. Vielleicht sind wir noch nicht so weit wie Paulus, dass wir uns über diese Leiden freuen können. Aber wie dem auch sei: Wir sollten zumindest nüchtern akzeptieren, dass das Maß der Leiden von uns Christen noch nicht voll ist. Gott weiß, wann es voll sein wird, wie es im Psalmwort heißt: „Sammle meine Tränen in deinem Krug; ohne Zweifel, du zählst sie“ (Psalm 56,9). Unsere Tränen sind die Saat, und Gottes Herrlichkeit ist die Ernte. Wie bei Jesus selbst das Leiden einst vollbracht war und seine Herrlichkeit zum Durchbruch kam, so wird auch bei uns einmal das Maß der Leiden voll sein, und Gott wird alle Tränen abwischen von unseren Augen. Das gilt für jedes einzelne seiner Kinder und das gilt auch für die Christenheit insgesamt, für den Leib Christi.

Wenn ich mit meinem Auto an der Tankstelle stehe, dann warte ich geduldig, bis der Tank voll ist. Es wäre schlimm, wenn ich losfahren würde, solange noch der Tankschlauch in meinem Wagen steckt. Und wenn ich mit meinem Computer eine große Datei aus dem Internet herunter­lade, dann warte ich geduldig, bis der blaue Balken das ganze angezeigte Wartefeld ausfüllt. Würde ich den Vorgang vorschnell abbrechen, dann wäre die ganze Datei verloren. Und wenn ich, erlöst durch meinen Herrn Jesus Christus, auf die Herrlichkeit des ewigen Lebens zugehe, dann will ich auch geduldig das Kreuz in Kauf nehmen und abwarten, bis das Maß der Leiden nach Gottes Willen voll ist. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2018.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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