Der gerechte Spross

Predigt über Jeremia 33,14-16 zum 1. Weihnachtsfeiertag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Heute feiern wir den Geburtstag von Jesus Christus, dem Davidssohn, dem Spross aus Davids Königs­geschlecht. Freilich haben heute auch noch viele andere Menschen Geburtstag, und ein paar hundert­tausend Sprösslinge werden gerade an diesem Tag neu geboren. Was ist so besonders an dem Kind in der Krippe, dass seine Geburt mehr Auf­merksamkeit erfährt als die Geburt aller anderen Kinder? Der Prophet Jeremia antwortet so: „der soll Recht und Gerechtig­keit schaffen im Lande.“ Einen „gerechten Spross“ nennt er ihn, und: „der Herr, unsere Gerechtig­keit“. Gottes Wort betont hier also die Gerechtig­keit, die Jesus bringt – und nicht nur hier, in dieser einen Weissagung beim Propheten Jeremia, sondern in ganz vielen Weissagungen und Aussagen der Heiligen Schrift. Vom Weihnachts­evangelium haben wir es ein bisschen anders im Ohr: „Ich verkündige euch große Freude!“ heißt es da, und: „Friede auf Erden!“ (Lukas 2,10.14). Diese Freude und dieser Friede sind aber nicht zu haben ohne die Gerechtig­keit, die mit dem Gottessohn auf die Welt kommt. Lasst uns darum in dieser Weihnachts­predigt bedenken, wie der Spross aus Davids Stamm, der Mensch gewordene Gottessohn, Gerechtig­keit schafft.

Was ist das überhaupt: Gerechtig­keit? Das ist gar nicht zu einfach zu beschreiben. Und oft gehen die Meinungen darüber weit auseinander. Aber ich denke, jeder kann folgendem Satz zustimmen: Gerecht ist es, wenn jeder das bekommt, was ihm zusteht. Aber was steht einem Menschen zu? Zunächst einmal das, was er sich selbst erarbeitet hat. Es ist zum Beispiel gerecht, wenn ein Schafhirte sich mit der Wolle seiner Schafe kleiden und mit ihrem Fleisch ernähren kann. Es ist gerecht, wenn einer das Getreide ernten darf, das er selbst gesät hat. Und es ist gerecht, wenn ein Angestellter für seine Arbeit angemessen bezahlt wird. Ungerecht ist es dagegen, wenn man einen Menschen beraubt oder ihm vorenthält, was er sich erarbeitet hat. Ungerecht waren zum Beispiel die Steuern, die die römische Besatzungs­macht in den Tagen der Geburt Jesu auf die Bewohner der Provinz Syrien legte und für die sie die bekannte „Schätzung“ beziehungs­weise Volkszählung ver­anstaltete. Mit diesen Steuern haben die Römer nämlich nicht Schulen oder Kranken­häuser gebaut, sondern mit diesen Steuern haben sie ihren Militär­apparat finanziert, um das Volk der Juden noch mehr unterdrücken zu können. Als ungerecht empfinden viele es auch, wenn einige Leute mehr bekommen, als ihnen zusteht. Wenn jeder gerade das bekommt, was ihm zusteht, wenn also niemand bevorzugt und niemand be­nachteiligt wird, dann herrscht Gerechtig­keit, und die ist die beste Voraus­setzung für Frieden und glückliches Leben. Die Bibel beschreibt ein gesegnetes Miteinander unter anderem damit, dass „Gerechtig­keit und Friede sich küssen“ (Psalm 85,11). Wie aber kann Davids Spross solche Gerechtig­keit bringen? Geduld, ich komme gleich darauf zurück!

Wir müssen nämlich noch bedenken, dass nicht alle Menschen die Möglichkeit haben, sich etwas zu erarbeiten; trotzdem steht ihnen etwas zu. Manche sind darauf angewiesen, dass andere für sie arbeiten, zum Beispiel kleine Kinder. Ihnen steht zu, dass sie in ihren Familien versorgt werden. Gerecht ist es, wenn Kinder alles Lebens­notwendige bekommen: sauberes Wasser, Nahrung, Kleidung, Bildung, medizinische Versorgung und vor allen Dingen liebevolle Zuwendung. Eltern tragen Ver­antwortung dafür, dass es auch innerhalb der Familie gerecht zugeht. Normaler­weise sorgen sie gewissenhaft dafür, dass keines ihrer Kinder bevorzugt oder be­nachteiligt wird, sondern dass jedes Kind bekommt, was ihm zusteht. Zu Weihnachten achten Eltern darauf, dass die Weihnachts­geschenke für jedes Kinder ungefähr gleich wertvoll sind; auch beim Schenken soll ja niemand bevorzugt oder be­nachteiligt werden. Nach außen hin bildet die Familie eine Einheit, für die das bereits genannte Gerechtig­keitsprinzip gemeinschaft­lich gilt: Die ganze Familie soll das bekommen, was ihr zusteht beziehungs­weise was sie sich erarbeitet. Wie aber kann der eingeborene Sohn des himmlischen Vaters solche Gerechtig­keit bringen? Geduld, ich komme gleich darauf zurück!

Wir wollen erst noch einen Blick auf größere Gemein­schaften werfen wie zum Beispiel Wirtschafts­betriebe, bestimmte Bevölkerungs­gruppen sowie auch das ganze Volk eines Landes. Auch da gilt dasselbe Gerechtigkeits­prinzip wie beim einzelnen Menschen und in der Familie: Jedes Volk, jede Bevölkerungs­schicht, jeder Betrieb und jede Belegschaft soll das bekommen, was ihnen zusteht – nämlich das, was sie sich einzeln oder gemeinschaft­lich erarbeiten. Man kann Völker oder Teile davon nämlich durchaus als erweiterte Familien betrachten. Im Blick auf die Kinder ist es dann nicht nur gerecht, wenn Eltern ihnen das geben, was ihnen zusteht, sondern wenn sich auch der Staat um sie kümmert und ihnen zum Beispiel allen dieselben Bildungs­chancen ermöglicht. Dabei können wir feststellen, dass Steuern in einem Rechtsstaat keineswegs etwas Ungerechtes sind: Da wird nämlich einfach ein Teil vom gemeinsam erarbeiteten Besitz so zum Wohl aller verwendet, wie es den mehrheitlich be­schlossenen Ordnungen und Gesetzen entspricht. Die Regierenden sind dafür ver­antwortlich, dass jeder das bekommt, was ihm zusteht, und dass dabei niemand bevorzugt oder be­nachteiligt wird. Schon in ältesten Zeiten sollten Häuptlinge und Könige Gerechtig­keit schaffen – nach innen durch Recht­sprechung, nach außen durch die Landes­verteidi­gung. Auf diese Weise sorgte ein gerechter König dafür, dass jede Familie und jeder Bürger das haben und behalten konnte, was sie sich erarbeitet hatten. Im alten Israel wurden solche Häuptlinge und Könige ursprünglich „Richter“ genannt – also Leute, die für Gerechtig­keit und Frieden sorgen sollten. Noch heute gehört das zu den Haupt­aufgaben jeder Regierung. Wenn es einer Regierung gelingt, Gerechtig­keit zu schaffen, dann ist dem Volk „geholfen“ und es wird „sicher wohnen“, wie Jeremia es formulierte. Und der weise König Salomo meinte: „Gerechtig­keit erhöht ein Volk“ (Sprüche 14,34). Wie aber kann das Kind in der Krippe so ein König sein? Geduld, ich gehe jetzt wirklich gleich darauf ein!

Wir wollen uns nur noch etwas vor Augen führen, das heutzutage ganz offen­sichtlich ist, das aber immer noch leicht übersehen wird: Wir sind auch als Menschheit insgesamt eine Gemein­schaft. Für diese große Völker­familie können wir ebenfalls die Gerechtigkeits­frage stellen: Was steht uns zu, und wer ist dafür ver­antwortlich? Manche neigen dazu, Gott für alles ver­antwortlich zu machen und die berühmte Theodizee­frage zu stellen, also die Frage nach Gottes Gerechtig­keit: Gott, warum hast du die Menschen in der Welt ungleich geschaffen, mit ungleichen Chancen? Gott, warum gibst du nicht allen in aus­reichender Menge, was ihnen unserer Meinung nach zusteht? Gott, warum mutest du uns stattdessen Leid und Schmerzen zu? Gott, warum verhungern auch Kinder, oder sterben an Krebs?

Liebe Brüder und Schwestern, was steht uns Menschen denn nun wirklich von Gott zu? Allgemeiner gefragt: Was steht Geschöpfen von ihrem Schöpfer zu? Die Heilige Schrift antwortet: „Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so?“ (Römer 9,20). Müssten wir da nicht die Frage umkehren und sagen: Was steht denn dem Schöpfer von seinen Geschöpfen zu? Oder noch anders gefragt: Was steht Sündern von ihrem Gott zu? Was steht Menschen zu, die Gottes Ehre nicht ganz oben auf ihrer Prioritäten­liste haben? Was steht Menschen zu, die zwar vor allem darauf achten, dass andere nicht mehr bekommen, als ihnen zu steht, denen es aber ziemlich egal ist, wenn sie weniger bekommen? Gott antwortet in seinem Gesetz: Zorn, Strafe und Tod steht solchen Sündern zu. Forderst du also, dass Gott die Menschen im Sinne seines Gesetzes gerecht behandelt, dann rechne mit seinem Straf­gericht.

Aber nun – endlich! – kommt der gerechte Spross Davids ins Bild, nun wird es Weihnachten. Was geschieht da? Gott wechselt die Seiten. Christus kommt nicht in die Welt, um als Gottessohn den Forderungen des Schöpfers Nachdruck zu verleihen, sondern er kommt, um als Menschensohn die Forderungen des Schöpfers zu erfüllen. Christus schlägt sich auf die Seite der Menschheit und wird ein Teil von ihr. Er tut es, um alle Gerechtig­keit zu erfüllen: Er verhält sich in allen Dingen so, wie es dem himmlischen Vater zusteht, und er trägt die Strafe für all das, womit Menschen gegen Gottes Recht verstoßen haben – einer für alle, der Menschensohn für alle Menschen­kinder! Er tut das im vollen Einvernehmen mit dem himmlischen Vater. Und so wird Gottes Gerechtig­keit zu etwas, das Gott uns unverdienter­weise mit dem Kind in der Krippe schenkt. Unverdienter­weise macht er uns durch den Heiland gerecht, schenkt uns seine Gerechtig­keit, rechtfertigt den Sünder. Gottes Gerechtig­keit ist nun nichts anderes mehr als Heil und Gnade. Ja, das haben wir dem Gottessohn zu verdanken, dem gerechten Sproß Davids, der uns Recht und Gerechtig­keit schuf und auf diese Weise dafür sorgte, dass uns Menschen geholfen wird, dass wir sicher wohnen. Ja, wir haben es dem zu verdanken, der freiwillig in unserer un­friedlichen Welt lebte, um unsere Un­gerechtig­keit auf sich zu nehmen. Eigentlich müsste man dies die größte Un­gerechtig­keit nennen, denn nichts stünde dem Gottessohn weniger zu als ein kümmerliches Leben in unserer Welt. Einige Verse in unseren Weihnachts­liedern machen das zum Thema: „O dass doch so ein lieber Stern / soll in der Krippe liegen! / Für edle Kinder großer Herrn / gehören güldne Wiegen.“ Oder: „Und wär die Welt vielmal so weit, / von Edelstein und Gold bereit’, / so wär sie doch dir viel zu klein, / zu sein ein enges Wiegelein.“

Die Gerechtig­keit, die uns der gerechte Spross aus Davids Stamm bringt, macht uns uns zu neuen Menschen. Wenn wir an den Heiland glauben, zieht Gottes Friede in unsere Herzen ein, und so wird dann Friede auf Erden. Wo Menschen mit diesem Frieden im Herzen zusammen­leben, da werden Gottes Gerechtig­keit und Friede auch in ihrer Gemeinschaft spürbar – in Familien, in Völkern und vor allem in Gottes Volk der Christen­heit, das die ganze Welt umspannt. Denn wer mit Gottes Gerechtig­keit sein Leben neu geschenkt bekommen hat, der braucht nicht mehr egoistisch darüber zu wachen, ob er selbst alles bekommt, was ihm zusteht. Vielmehr wird er im Geist des Heilands darauf achten, dass seine Mitmenschen bekommen, was ihnen zusteht. Und er wird ihnen auch sagen, wie sie die Schuld und Strafe loswerden, die ihnen als Sünder von Rechts wegen zusteht – nämlich durch Christi Gerechtig­keit und den Glauben an ihn.

Wir feiern heute den Geburtstag von Jesus Christus, dem Davidssohn, dem Spross aus dem Königs­geschlecht Davids und seines Vaters Jesse. Er ist der „gerechte Spross“, von dem Jeremia und die anderen alten Propheten in herrlichen Versen geweissagt haben. In der heiligen Nacht brach dann mit ihm Gottes Gerechtig­keit hervor wie ein kleines, kaum beachtetes Zweiglein aus dem Stamm Davids, wuchs und wächst immer noch und wird erst in Gottes neuer Welt ausgewachsen sein. Mit dieser Freude und Hoffnung singt die Christenheit auch dieses Jahr wieder: „Es ist ein Ros entsprungen / aus einer Wurzel zart, / wie uns die Alten sungen, / von Jesse kam die Art.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2017.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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