Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Heute feiern wir den Geburtstag von Jesus Christus, dem Davidssohn, dem Spross aus Davids Königsgeschlecht. Freilich haben heute auch noch viele andere Menschen Geburtstag, und ein paar hunderttausend Sprösslinge werden gerade an diesem Tag neu geboren. Was ist so besonders an dem Kind in der Krippe, dass seine Geburt mehr Aufmerksamkeit erfährt als die Geburt aller anderen Kinder? Der Prophet Jeremia antwortet so: „der soll Recht und Gerechtigkeit schaffen im Lande.“ Einen „gerechten Spross“ nennt er ihn, und: „der Herr, unsere Gerechtigkeit“. Gottes Wort betont hier also die Gerechtigkeit, die Jesus bringt – und nicht nur hier, in dieser einen Weissagung beim Propheten Jeremia, sondern in ganz vielen Weissagungen und Aussagen der Heiligen Schrift. Vom Weihnachtsevangelium haben wir es ein bisschen anders im Ohr: „Ich verkündige euch große Freude!“ heißt es da, und: „Friede auf Erden!“ (Lukas 2,10.14). Diese Freude und dieser Friede sind aber nicht zu haben ohne die Gerechtigkeit, die mit dem Gottessohn auf die Welt kommt. Lasst uns darum in dieser Weihnachtspredigt bedenken, wie der Spross aus Davids Stamm, der Mensch gewordene Gottessohn, Gerechtigkeit schafft.
Was ist das überhaupt: Gerechtigkeit? Das ist gar nicht zu einfach zu beschreiben. Und oft gehen die Meinungen darüber weit auseinander. Aber ich denke, jeder kann folgendem Satz zustimmen: Gerecht ist es, wenn jeder das bekommt, was ihm zusteht. Aber was steht einem Menschen zu? Zunächst einmal das, was er sich selbst erarbeitet hat. Es ist zum Beispiel gerecht, wenn ein Schafhirte sich mit der Wolle seiner Schafe kleiden und mit ihrem Fleisch ernähren kann. Es ist gerecht, wenn einer das Getreide ernten darf, das er selbst gesät hat. Und es ist gerecht, wenn ein Angestellter für seine Arbeit angemessen bezahlt wird. Ungerecht ist es dagegen, wenn man einen Menschen beraubt oder ihm vorenthält, was er sich erarbeitet hat. Ungerecht waren zum Beispiel die Steuern, die die römische Besatzungsmacht in den Tagen der Geburt Jesu auf die Bewohner der Provinz Syrien legte und für die sie die bekannte „Schätzung“ beziehungsweise Volkszählung veranstaltete. Mit diesen Steuern haben die Römer nämlich nicht Schulen oder Krankenhäuser gebaut, sondern mit diesen Steuern haben sie ihren Militärapparat finanziert, um das Volk der Juden noch mehr unterdrücken zu können. Als ungerecht empfinden viele es auch, wenn einige Leute mehr bekommen, als ihnen zusteht. Wenn jeder gerade das bekommt, was ihm zusteht, wenn also niemand bevorzugt und niemand benachteiligt wird, dann herrscht Gerechtigkeit, und die ist die beste Voraussetzung für Frieden und glückliches Leben. Die Bibel beschreibt ein gesegnetes Miteinander unter anderem damit, dass „Gerechtigkeit und Friede sich küssen“ (Psalm 85,11). Wie aber kann Davids Spross solche Gerechtigkeit bringen? Geduld, ich komme gleich darauf zurück!
Wir müssen nämlich noch bedenken, dass nicht alle Menschen die Möglichkeit haben, sich etwas zu erarbeiten; trotzdem steht ihnen etwas zu. Manche sind darauf angewiesen, dass andere für sie arbeiten, zum Beispiel kleine Kinder. Ihnen steht zu, dass sie in ihren Familien versorgt werden. Gerecht ist es, wenn Kinder alles Lebensnotwendige bekommen: sauberes Wasser, Nahrung, Kleidung, Bildung, medizinische Versorgung und vor allen Dingen liebevolle Zuwendung. Eltern tragen Verantwortung dafür, dass es auch innerhalb der Familie gerecht zugeht. Normalerweise sorgen sie gewissenhaft dafür, dass keines ihrer Kinder bevorzugt oder benachteiligt wird, sondern dass jedes Kind bekommt, was ihm zusteht. Zu Weihnachten achten Eltern darauf, dass die Weihnachtsgeschenke für jedes Kinder ungefähr gleich wertvoll sind; auch beim Schenken soll ja niemand bevorzugt oder benachteiligt werden. Nach außen hin bildet die Familie eine Einheit, für die das bereits genannte Gerechtigkeitsprinzip gemeinschaftlich gilt: Die ganze Familie soll das bekommen, was ihr zusteht beziehungsweise was sie sich erarbeitet. Wie aber kann der eingeborene Sohn des himmlischen Vaters solche Gerechtigkeit bringen? Geduld, ich komme gleich darauf zurück!
Wir wollen erst noch einen Blick auf größere Gemeinschaften werfen wie zum Beispiel Wirtschaftsbetriebe, bestimmte Bevölkerungsgruppen sowie auch das ganze Volk eines Landes. Auch da gilt dasselbe Gerechtigkeitsprinzip wie beim einzelnen Menschen und in der Familie: Jedes Volk, jede Bevölkerungsschicht, jeder Betrieb und jede Belegschaft soll das bekommen, was ihnen zusteht – nämlich das, was sie sich einzeln oder gemeinschaftlich erarbeiten. Man kann Völker oder Teile davon nämlich durchaus als erweiterte Familien betrachten. Im Blick auf die Kinder ist es dann nicht nur gerecht, wenn Eltern ihnen das geben, was ihnen zusteht, sondern wenn sich auch der Staat um sie kümmert und ihnen zum Beispiel allen dieselben Bildungschancen ermöglicht. Dabei können wir feststellen, dass Steuern in einem Rechtsstaat keineswegs etwas Ungerechtes sind: Da wird nämlich einfach ein Teil vom gemeinsam erarbeiteten Besitz so zum Wohl aller verwendet, wie es den mehrheitlich beschlossenen Ordnungen und Gesetzen entspricht. Die Regierenden sind dafür verantwortlich, dass jeder das bekommt, was ihm zusteht, und dass dabei niemand bevorzugt oder benachteiligt wird. Schon in ältesten Zeiten sollten Häuptlinge und Könige Gerechtigkeit schaffen – nach innen durch Rechtsprechung, nach außen durch die Landesverteidigung. Auf diese Weise sorgte ein gerechter König dafür, dass jede Familie und jeder Bürger das haben und behalten konnte, was sie sich erarbeitet hatten. Im alten Israel wurden solche Häuptlinge und Könige ursprünglich „Richter“ genannt – also Leute, die für Gerechtigkeit und Frieden sorgen sollten. Noch heute gehört das zu den Hauptaufgaben jeder Regierung. Wenn es einer Regierung gelingt, Gerechtigkeit zu schaffen, dann ist dem Volk „geholfen“ und es wird „sicher wohnen“, wie Jeremia es formulierte. Und der weise König Salomo meinte: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“ (Sprüche 14,34). Wie aber kann das Kind in der Krippe so ein König sein? Geduld, ich gehe jetzt wirklich gleich darauf ein!
Wir wollen uns nur noch etwas vor Augen führen, das heutzutage ganz offensichtlich ist, das aber immer noch leicht übersehen wird: Wir sind auch als Menschheit insgesamt eine Gemeinschaft. Für diese große Völkerfamilie können wir ebenfalls die Gerechtigkeitsfrage stellen: Was steht uns zu, und wer ist dafür verantwortlich? Manche neigen dazu, Gott für alles verantwortlich zu machen und die berühmte Theodizeefrage zu stellen, also die Frage nach Gottes Gerechtigkeit: Gott, warum hast du die Menschen in der Welt ungleich geschaffen, mit ungleichen Chancen? Gott, warum gibst du nicht allen in ausreichender Menge, was ihnen unserer Meinung nach zusteht? Gott, warum mutest du uns stattdessen Leid und Schmerzen zu? Gott, warum verhungern auch Kinder, oder sterben an Krebs?
Liebe Brüder und Schwestern, was steht uns Menschen denn nun wirklich von Gott zu? Allgemeiner gefragt: Was steht Geschöpfen von ihrem Schöpfer zu? Die Heilige Schrift antwortet: „Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so?“ (Römer 9,20). Müssten wir da nicht die Frage umkehren und sagen: Was steht denn dem Schöpfer von seinen Geschöpfen zu? Oder noch anders gefragt: Was steht Sündern von ihrem Gott zu? Was steht Menschen zu, die Gottes Ehre nicht ganz oben auf ihrer Prioritätenliste haben? Was steht Menschen zu, die zwar vor allem darauf achten, dass andere nicht mehr bekommen, als ihnen zu steht, denen es aber ziemlich egal ist, wenn sie weniger bekommen? Gott antwortet in seinem Gesetz: Zorn, Strafe und Tod steht solchen Sündern zu. Forderst du also, dass Gott die Menschen im Sinne seines Gesetzes gerecht behandelt, dann rechne mit seinem Strafgericht.
Aber nun – endlich! – kommt der gerechte Spross Davids ins Bild, nun wird es Weihnachten. Was geschieht da? Gott wechselt die Seiten. Christus kommt nicht in die Welt, um als Gottessohn den Forderungen des Schöpfers Nachdruck zu verleihen, sondern er kommt, um als Menschensohn die Forderungen des Schöpfers zu erfüllen. Christus schlägt sich auf die Seite der Menschheit und wird ein Teil von ihr. Er tut es, um alle Gerechtigkeit zu erfüllen: Er verhält sich in allen Dingen so, wie es dem himmlischen Vater zusteht, und er trägt die Strafe für all das, womit Menschen gegen Gottes Recht verstoßen haben – einer für alle, der Menschensohn für alle Menschenkinder! Er tut das im vollen Einvernehmen mit dem himmlischen Vater. Und so wird Gottes Gerechtigkeit zu etwas, das Gott uns unverdienterweise mit dem Kind in der Krippe schenkt. Unverdienterweise macht er uns durch den Heiland gerecht, schenkt uns seine Gerechtigkeit, rechtfertigt den Sünder. Gottes Gerechtigkeit ist nun nichts anderes mehr als Heil und Gnade. Ja, das haben wir dem Gottessohn zu verdanken, dem gerechten Sproß Davids, der uns Recht und Gerechtigkeit schuf und auf diese Weise dafür sorgte, dass uns Menschen geholfen wird, dass wir sicher wohnen. Ja, wir haben es dem zu verdanken, der freiwillig in unserer unfriedlichen Welt lebte, um unsere Ungerechtigkeit auf sich zu nehmen. Eigentlich müsste man dies die größte Ungerechtigkeit nennen, denn nichts stünde dem Gottessohn weniger zu als ein kümmerliches Leben in unserer Welt. Einige Verse in unseren Weihnachtsliedern machen das zum Thema: „O dass doch so ein lieber Stern / soll in der Krippe liegen! / Für edle Kinder großer Herrn / gehören güldne Wiegen.“ Oder: „Und wär die Welt vielmal so weit, / von Edelstein und Gold bereit’, / so wär sie doch dir viel zu klein, / zu sein ein enges Wiegelein.“
Die Gerechtigkeit, die uns der gerechte Spross aus Davids Stamm bringt, macht uns uns zu neuen Menschen. Wenn wir an den Heiland glauben, zieht Gottes Friede in unsere Herzen ein, und so wird dann Friede auf Erden. Wo Menschen mit diesem Frieden im Herzen zusammenleben, da werden Gottes Gerechtigkeit und Friede auch in ihrer Gemeinschaft spürbar – in Familien, in Völkern und vor allem in Gottes Volk der Christenheit, das die ganze Welt umspannt. Denn wer mit Gottes Gerechtigkeit sein Leben neu geschenkt bekommen hat, der braucht nicht mehr egoistisch darüber zu wachen, ob er selbst alles bekommt, was ihm zusteht. Vielmehr wird er im Geist des Heilands darauf achten, dass seine Mitmenschen bekommen, was ihnen zusteht. Und er wird ihnen auch sagen, wie sie die Schuld und Strafe loswerden, die ihnen als Sünder von Rechts wegen zusteht – nämlich durch Christi Gerechtigkeit und den Glauben an ihn.
Wir feiern heute den Geburtstag von Jesus Christus, dem Davidssohn, dem Spross aus dem Königsgeschlecht Davids und seines Vaters Jesse. Er ist der „gerechte Spross“, von dem Jeremia und die anderen alten Propheten in herrlichen Versen geweissagt haben. In der heiligen Nacht brach dann mit ihm Gottes Gerechtigkeit hervor wie ein kleines, kaum beachtetes Zweiglein aus dem Stamm Davids, wuchs und wächst immer noch und wird erst in Gottes neuer Welt ausgewachsen sein. Mit dieser Freude und Hoffnung singt die Christenheit auch dieses Jahr wieder: „Es ist ein Ros entsprungen / aus einer Wurzel zart, / wie uns die Alten sungen, / von Jesse kam die Art.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |