Gottes Schwäche für uns Menschen

Predigt über 1. Mose 8,18-22 zum 20. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Gulasch – was für ein lieblicher Geruch! Da braucht man nicht lange nach­zudenken, das macht einfach Appetit. Oder frisch gebrühter Kaffee – was für ein lieblicher Geruch! Da fällt einem auch gleich der Kuchen dazu ein. Oder Parfüm, oder Räucher­stäbchen, oder sogar Flugbenzin – was für ein lieblicher Geruch! Flugbenzin riecht nach Urlaubs­reisen in ferne Länder. Gerüche können uns auch Vergessenes wieder in Erinnerungen rufen. Da kommt uns ein Geruch bekannt vor, und nach einer Weile erinnert sich der Verstand: Hat es so nicht immer im Haus der Großeltern gerochen? Gerüche werden auch als Medizin benutzt: Für ohnmächtig gewordene Damen hielt man Riechsalz bereit, und noch heute gibt es die sogenannte Aroma­therapie. Bereits Martin Luther wusste um die medi­zinischen Anwendung bestimmter Duftstoffe und meinte, „dass sich halb Tote durch einen lieblichen Geruch wieder erholt haben“.

Diese Aussage finden wir übrigens in Martin Luthers Auslegung von 1. Mose 8. Sie bezieht sich auf jenen Satz, den wir eben in unserm Textwort gehört haben: „Der Herr roch den lieblichen Geruch.“ An dem Tag, als Noah und seine Angehörigen die Arche verließen, lag ein herrlicher Bratenduft in der Luft. Vielleicht hätten wir erwartet, dass Noah und seine Söhne sich erst einmal Schutzhütten bauen, aber stattdessen bauten sie einen Altar. Ihr erstes Bedürfnis nach über­standener Sintflut war es, Gott Opfer zu bringen. Von allen essbaren Tieren schlachteten sie eins und brieten es als Brandopfer. Manch einer wundert sich: Wie sollen sich diese Tierarten denn nach der Sintflut vermehrt haben, wenn sogleich geschlachtet wurde? Aber wer die Bibel gut kennt, der weiß: Gott hatte Noah schon vor der Flut aufgetragen, von den sogenannten reinen Tieren nicht nur ein Paar, sondern jeweils sieben Exemplare mitzunehmen. Als die Fleisch­stücke auf dem Altar bruzzelten, roch Gott also diesen lieblichen Braten­geruch, und sein Zorn über die gottlose Menschheit legte sich. Mit diesem Duft in der Nase roch Gott gewisser­maßen die Dankbarkeit der Menschen für ihre Errettung und zugleich ihre Sehnsucht nach einer gesegneten Zukunft im Frieden mit Gott. Da beschloss Gott, die Menschheit niemals ganz auszurotten, trotz aller Sünden und Probleme nicht.

Aber hat Gott denn überhaupt eine Nase, dass er riechen kann? Kann man wirklich von Gott sagen, dass er sich an einem Bratenduft erfreut? Darf man so menschlich von Gott reden? Offen­sichtlich ja, sonst würde es die Bibel nicht tun. Sie redet ja auch von Gottes Augen und Ohren und Händen, sogar von Gottes Herz. Sie nennt Gott einen König und einen Töpfer und einen Vater. Sie spricht davon, dass er Ent­scheidungen trifft und sie in die Tat umsetzt. Und zu unserer großen Verwunderung lesen wir da auch, dass Gott bestimmte Taten bereut – zum Beispiel die Erschaffung des Menschen. Am Anfang der Sintflut­geschichte heißt es nämlich: „Als der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen“ (1. Mose 6,5‑6). Ist Gott denn nicht allmächtig und allwissend und ewig, überhaupt ganz un­vorstellbar? Wie kommt es, dass die Bibel so menschlich von ihm spricht?

Martin Luther hat in seiner Auslegung fest­gestellt: „Dieses soll man nicht so verstehen, als könne bei Gott Veränderung seines Willens oder Rats stattfinden, sondern es gehört uns zum Trost.“ Das heißt, Gott zeigt sich in der Bibel deshalb mit einem menschlichen Gesicht, damit wir etwas von ihm begreifen und auf diese Weise Trost erfahren können. Nur so ist auch die Aussage zu verstehen, dass Gottes Zorn durch den lieblichen Geruch von Noahs Opfer besänftigt wird und er die Menschheit wieder mit freundlichen Augen ansieht. Es wäre natürlich falsch zu meinen, dass Gottes ganzes Wesen sich auf solche menschlichen Aussagen beschränken lässt; Gott ist viel größer, Gott ist unfassbar. Aber noch falscher wäre es zu meinen, wir modernen Menschen wären über solch menschliches Reden von Gott erhaben und kämen seinem wahren Wesen mit einer abstrakten philo­sophischen Vorstellung näher. Das wäre nicht nur falsch, es wäre auch überheblich. Gott möchte, dass wir das menschliche Reden der Bibel ganz kindlich annehmen und glauben.

Lasst uns deshalb die Sache mit der Sintflut aus diesem Blickwinkel betrachten. Am Anfang schuf Gott den Menschen einzigartig „zu seinem Bild“, nämlich als ein geist­begabtes Wesen mit eigenem Willen. Er wollte ein Geschöpf haben, das sich ihm freiwillig unterordnet, freiwillig auf sein Wort hört und sich entsprechend gut verhält. Mit diesem Experiment ist Gott ein Risiko eingegangen: das Risiko, dass der Mensch sich auch gegen ihn entscheiden und ihm untreu werden kann. Wohlbemerkt, ich rede jetzt menschlich von Gott! Leider hat sich der Mensch anders entwickelt, als Gott es erhoffte: Er wählte den Ungehorsam und die Sünde. Damit war eine Weiche gestellt, und der Zug des Bösen war abgefahren. Nun ist der Mensch böse von Anfang an mit seinem „Dichten und Trachten“, seinem Denken und Handeln, seinem Planen und Ausführen, und diese Bosheit vererbt sich von Generation zu Generation. Gott war maßlos enttäuscht – ich rede menschlich! Er entschloss sich, das Experiment abzubrechen und die Menschheit zu vernichten. Aber da gab es diesen einen Mann, der noch einigermaßen nach ihm fragte, diesen Noah und seine Familie. So ist die Sintflut­geschichte nicht eine nur eine Katastrophen­geschichte, sondern in erster Linie eine Rettungs­geschichte. Zum Schluss hören wir von Noahs Opfer und von Gottes Wohlgefallen daran. Und so endet diese Rettungs­geschichte mit dem seltsamen, aber auch überaus tröstlichen Entschluss Gottes: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“

Lasst uns sehr aufmerksam wahrnehmen, was Gott da sagt! Er sagte nicht: Die vielen Bösen sind ertrunken, die wenigen Guten haben überlebt, also wird es künftig nur noch gute Menschen geben. Er sagte auch nicht: Mit der Sintflut habe ich den Menschen so einen Denkzettel gegeben, dass sie es künftig nicht mehr wagen werden, böse zu sein. Gott wusste nur zu gut, dass jedes Menschenherz von Anfang an mit Sünde infiziert ist, auch Noahs Herz, auch das Herz von Noahs Frau, auch die Herzen von Noahs Söhnen und Schwieger­töchtern – und auch unsere Herzen, die wir viele Generationen später leben. Die Menschheit mag in mancher Hinsicht Fortschritte gemacht haben seit den Tagen der Sintflut, in dieser Hinsicht jedoch ist sie keinen Millimeter weiter­gekommen. Noch heute ist unser „Dichten und Trachten“, unser Denken und Handeln, unser Planen und Ausführen böse. Macht haben, Geld haben, Recht haben wollen ohne Rücksicht auf andere – diese Veranlagung steckt in jedem drin, von frühster Jugend an. Martin Luther bemerkte zu Gottes Urteil: „Dieses ist ein klarer und heller Text von der Erbsünde.“ Eine gute Erziehung kann lediglich erreichen, dass der Mensch sich einigermaßen zu beherrschen lernt und seine Erbsünde nicht in einer Weise auslebt, die die Gesellschaft nicht akzeptiert. Aber auch die beste Erziehung kann das böse Herz nicht gut machen. Der heutige Mensch ist nicht besser als der Mensch in früheren Zeiten; er ist allerdings auch nicht schlechter. Wenn einige Leute behaupten, dass man früher weniger brutal und egoistisch gewesen sei als heute, dann erinnern sich diese Leute nur nicht richtig. Es mag sein, dass sich ein böses Herz heute anders auswirkt als früher, aber dennoch ist es ebenso böse, nicht mehr und nicht weniger. Hören wir noch einmal Gottes klare und zeitlos gültige Diagnose: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“

Gott fasst nun diesen merkwürdigen Entschluss: Weil der Mensch so ist, wie er ist, will ich ihn nicht gänzlich vernichten; es soll keine weltweite Katastrophe wie die Sintflut mehr kommen. Dieser Entschluss ist, menschlich gesprochen, unvernünftig – und wir reden jetzt menschlich von Gott! Vernünftig wäre es dagegen zu sagen: Besser ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende. Besser, Gott hätte das Experiment Mensch mit der Sintflut gänzlich abgebrochen, anstatt eine Rest­bevölkerung zu retten, mit der das Elend weitergeht. Warum fasst Gott diesen un­vernünftigen Entschluss? Die Antwort der Bibel: Weil er den lieblichen Geruch von Noahs Brandopfer riecht und diesen Mann samt seinen Nachkommen lieb hat. Gerüche wirken nicht unmittelbar auf den Verstand und rufen keine vernünftigen Entschlüsse hervor, sondern Gerüche wirken auf das Gefühl. Der Satz vom lieblichen Geruch in Gottes Nase bedeutet also, dass Gott den Menschen trotz seiner Sünde einfach nur lieb behält und daher die Menschheit bewahren möchte – ganz ohne eine Begründung, die der Verstand nach­vollziehen kann. Ent­sprechende Aussagen finden wir an vielen Stellen in der Bibel: Gottes Liebe zu uns ist einfach da, ohne dass wir sie verstehen können, und sie ist größer als seine Enttäuschung beziehungs­weise sein Zorn über die Sünde. Wir können, menschlich gesprochen, einfach sagen: Gott hat eine Schwäche für uns Menschen.

Diese Schwäche Gottes und dieser Entschluss, die Menschheit nicht völlig zu vernichten, wird uns besonders deutlich an seinem Sohn Jesus Christus. Der predigte, dass der himmlische Vater seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und dass er regnen lässt über Gerechte und Ungerechte (Matth. 5,45). Und er kündigte das Kommen von Gottes Reich an, in dem auch Platz für Sünder ist, wenn sie denn ihre Sünde bereuen und auf Gottes Hilfe vertrauen. Und er hat diese Hilfe dann auch selbst geleistet, indem er sein Leben als Sündopfer dahingab. Am Kreuz wurde Jesus uns zuliebe schwach und hilflos. Ja, Gott hat eine Schwäche für uns, und diese Schwäche zeigt sich nirgends deutlicher als in Jesu Schwachheit am Kreuz.

Wir würden Gottes Liebe falsch verstehen, wenn wir erwarten, dass Gott nun künftig alles Leid von uns fernhält. Das hat er trotz seines Versprechens weder für Noah getan noch für dessen Nachkommen noch für uns Christen, die wir aus der Kraft des Kreuzes leben. Über­schwemmun­gen, Stürme, Erdbeben, Waldbrände und andere Katastrophen geschehen immer wieder. Wir sollten sie ernst nehmen als Warnzeichen Gottes, der trotz seiner Liebe zum Menschen gegen die Sünde des Menschen protestiert. Auch Martin Luther hat darauf hingewiesen in seiner Deutung der Sintflut­geschichte. Aber es handelt sich um örtlich und zeitlich begrenzte Gottes­gerichte. Wer betet und auf Gottes Hilfe vertraut, wird darin nicht endgültig umkommen. Auch das letzte große Gottes­gericht wird die Menschheit nicht völlig vernichten, sondern es wird die Gläubigen in Gottes neue Welt bringen. Dieses Jüngste Gericht steht nicht im Widerspruch zu Gottes Versprechen an Noah und seine Nachkommen, denn am Ende heißt es ja aus­drücklich: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Solange die Erde steht – also bis ans vorbestimmte Ende. Dann wird die alte Erde vergehen mit ihrem Wechsel der Tages‑ und Jahres­zeiten, und dann wird Gott alles neu machen. Aber Gottes Volk bleibt – dann völlig gereinigt von der Seuche der Erbsünde. Ja, Gott will uns für immer bei sich haben, denn er hat eine un­erklärliche Schwäche für uns; er liebt uns. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2017.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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