Der Leib Christi

Predigt über Galater 3,28 zum 17. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Auf den ersten Blick sieht dieser Satz des Apostels Paulus wie eine Menschen­rechts­erklärung aus, oder wie ein Anti­diskrimi­nierungs­gesetz. Wenn da steht: „Hier ist nicht Jude noch Grieche“, dann klingt das wie: Niemand soll wegen seiner Herkunft oder Nationalität bevorzugt oder benach­teiligt werden. Wenn da steht: „Hier ist nicht Sklave noch Freier“, dann klingt das wie ein Aufruf zur klassenlosen Gesell­schaft. Und wenn da steht: „Hier ist nicht Mann noch Frau“, dann klingt das so, als sei Paulus ein Feminist oder gar ein Anhänger der Gender-Ideologie, derzufolge Menschen nicht auf ein bestimmtes Geschlecht festgelegt werden sollen. Kurz: Was Paulus hier mit knappen Worten darlegt, klingt wie ein politisches Programm, über das man lange diskutieren könnte. Auch in der Christenheit unserer Tage gibt es zu den an­geschnitte­nen Punkten durchaus unter­schiedliche Meinungen.

Aber handelt es sich denn wirklich um ein politisches Programm? Eher nicht. Denn derselbe Paulus, der schreibt: „Hier ist nicht Jude noch Grieche“, der hat an anderer Stelle die Vorzugs­stellung der Juden gegenüber anderen Völkern betont (Römer 3,1; 9,4‑5). Und derselbe Paulus, der schreibt: „Hier ist nicht Sklave noch Freier“, der hat keineswegs für die Befreiung von Sklaven gekämpft, sondern er hat den Sklaven geraten, sich um ihren Platz in der Gesellschaft keine Sorgen zu machen (1. Kor. 7,21). Und derselbe Paulus, der schreibt: „Hier ist nicht Mann noch Frau“, der hat den Frauen geboten, sich den Männern in aller Stille unter­zuordnen (vgl. 1. Tim. 2,11‑12). Bevor wir unseren Predigttext mit modernen gesell­schaftlichen Idealen in eins setzen, sollten wir also lieber noch einmal genau darauf achten, was da steht. Es gilt ja ganz allgemein: Bevor man über ein Bibelwort spricht, lohnt es sich immer, noch einmal genau hinzuschauen und dabei den engeren und weiteren Zusammenhang zu berück­sichtigen.

Zunächst einmal ist fest­zustellen, dass Paulus diesen Satz an die Adresse von Menschen gerichtet hat, die getauft sind und die Jesus ihren Herrn nennen. Unmittelbar davor erinnert er sie daran, dass sie in der heiligen Taufe Jesus Christus „angezogen“ haben – so wie jemand ein sauberes Festgewand anzieht, das ihm soeben geschenkt wurde. Wenn es heißt: „Hier ist nicht Jude noch Grieche“ und so weiter, dann meint er mit „hier“ also die christliche Gemeinde. Und entsprechend fährt er mit der Anrede „ihr“ fort: „Denn ihr seid allesamt einer in Christus.“ Weiter: Wenn es sich um eine moderne politische Aussage handeln würde, dann müsste es heißen: „Ihr seid allesamt gleich“ – eben so, wie es das Gleichheits-Ideal der fran­zösischen Revolution zum Ausdruck bringt, also im Sinne von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit“. Aber Paulus hat nicht geschrieben: „Ihr seid allesamt gleich“, nicht einmal: „Ihr seid allesamt ein Volk“, sondern: „Ihr seid allesamt einer“ – eine einzige Person! Das ist keine politische, sondern eine zutiefst geistliche Aussage. In ihr kommt die Einzig­artigkeit der christlichen Kirche und Gemeinde zum Ausdruck. Wir Christen sind in Gottes Augen nicht viele unabhängige Einzelwesen, sondern gewisser­maßen eine einzige Person, ein einziger Organismus. An anderen Stellen der Bibel wird dieser Organismus „Leib Christi“ genannt. Gott selbst hat diesen Leib geschaffen, er hat uns durch Jesus Christus zu Gliedern an diesem Leib gemacht – jeden Einzelnen von uns!

Aber was bedeutet das praktisch – für die Christenheit auf Erden und für unsere Gemeinde hier? Es bedeutet Zweierlei: erstens die Einheit der Kirche, zweitens die Vielfalt der Kirche.

Gottes Wort betont hier erstens die Einheit der Kirche. Es sagt: Ihr Kinder Gottes seid ein einziger heiliger Organismus. Dieser Organismus ist die „eine heilige christliche Kirche“, die wir Sonntag für Sonntag mit unserem Glauben an den dreieinigen Gott bekennen. Gottes Wort sagt nicht: Ihr sollt eins sein, sondern es sagt: ihr seid eins. Die Einheit der Kirche ist nicht Gottes Auftrag an uns Christen, sondern Gottes Geschenk für uns Christen. Wir brauchen die Einheit der Kirche nicht herbei­zuführen, denn die Kirche war schon immer eins. Wir sind allerdings aufgerufen, diese Einheit nun auch zu leben und zu bezeugen. Wir sollen uns unter­einander darin bestärken, dass wir in Christus ein Leib sind, und wir sollen es der Welt bezeugen. Wir tun das immer dann, wenn wir zusammen­kommen, um gemeinsam Christus zu begegnen. Das geschieht vor allem im Gottes­dienst: Da hören wir gemeinsam auf Gottes Wort, so wie die Schafe auf die Stimme des guten Hirten hören. Da vereinen wir unsere Stimmen zu Lob und Anbetung. Und da empfangen wir gemeinsam das, was uns für Zeit und Ewigkeit eint: den Leib und das Blut unseres Herrn, für uns vergossen und in den Tod dahin­gegeben. „Kommunion“ wird das Heilige Abendmahl auch genannt, auf Deutsch „Gemein­schaft“ oder „gemeinsames Anteil­haben“. Die Einheit des Leibes Christi zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass wir der Stimme unsers Herrn gehorchen und unser Leben danach ausrichten. Christus hat den Aposteln einst aufgetragen: „Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe“ (Matth. 28,20). Wenn wir die christliche Lehre so bewahren, befolgen und bezeugen, wie Jesus sie die Apostel gelehrt hat und wie sie in der Bibel auf­geschrieben ist, dann zeigt sich darin ganz herrlich die Einheit des Leibes Christi. Wo aber Christen von der Apostellehre abweichen und meinen, sie bräuchten für unsere Zeit eine andere christliche Lehre, da wird die rechte christliche Einheit verdunkelt und verleugnet.

Die Kirche als Leib Christi bedeutet aber nicht nur Einheit, sondern zugleich Vielfalt. An anderer Stelle hat der Apostel Paulus nämlich ausführlich entfaltet, dass wir an diesem Leib viele verschiedene Glieder haben mit vielen ver­schiedenen Gaben und Funktionen. Es wäre unsinnig zu behaupten, dass alle Glieder am Leib Christi gleich sein müssten; dann gliche die christliche Kirche ja nicht mehr einem lebendigen Organismus, sondern eher einer Kompanie willenloser Soldaten, die alle auf Kommando im Gleich­schritt marschieren. Nein, so hat der Heilige Geist es nicht gemeint, als er den Apostel Paulus schreiben ließ: „Ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Zwar sind alle Glieder des Leibes gleich geliebt und gleich wertvoll in Gottes Augen, aber sie haben doch verschiedene Funktionen, für die sie auch verschieden begabt sind. Ein Glied spielt die Orgel, ein anderes predigt, ein anderes tröstet, ein anderes ist besonders aktiv in Fürbitte und Anbetung, ein anderes räumt auf und putzt, ein anderes macht Handwerks­arbeiten in der Kirche, ein anderes geht freundlich auf Gottesdienst­besucher zu, ein anderes führt die Gemeinde­kasse, ein anderes singt im Chor, ein anderes gibt besonders reichlich von seinem Einkommen ab, ein anderes besucht Kranke und hilft ihnen, ein anderes plant und organi­siert… Die Liste kann immer länger werden. Und da kommen durchaus auch natürliche Unterschiede in den Blick. Zwar spielt es in der christlichen Kirche grund­sätzlich keine Rolle, ob jemand von Juden oder Griechen oder Russen oder Deutschen abstammt, aber es können bestimmte Begabungen mit der Nationalität zusammen­hängen, die für den Leib Christi nützlich sind. Besonders gilt das für die ver­schiedenen Sprachen, mit denen Gott gelobt und das Evangelium bezeugt werden kann. Zwar lehnen wir in der Kirche ebenso wie in der Gesellschaft jegliche Versklavung und Unter­drückung ab, aber wir müssen doch anerkennen, dass dem Leib Christi eine Struktur mit leitenden Ämtern einerseits und unter­geordneten Ämtern andererseits gut tut. So hat Christus das Hirtenamt als geistliches Leitungsamt eingesetzt – aber nicht, damit dadurch andere Christen beherrscht und unterdrückt werden, sonderen als ein Dienstamt, das dem ganzen Leib zugute kommt. Zwar wurde in der christlichen Kirche schon lange vor der femi­nistischen Bewegung die Gleich­wertigkeit von Mann und Frau betont, aber wir ignorieren dabei nicht, dass es gewisse schöpfungs­mäßige Unterschiede zwischen den Geschlech­tern gibt. So hat Gott es in seiner Weisheit geordnet, dass nur Frauen Kinder zur Welt bringen und ihnen Mutterliebe schenken können. Ebenso entspricht es Gottes Willen, dass die Männer leitende Verant­wortung in Ehe, Familie und Kirche übernehmen sollen.

Erst wenn wir uns beides recht vor Augen führen, sowohl den Segen der Einheit als auch den Segen der Vielfalt im Leib Christi, verstehen wir das Gotteswort richtig: „Hier ist nicht Jude noch Grieche; hier ist nicht Sklave noch Freier; hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Wie gesagt: Es ist keine politische Aussage, auch keine kirchen­politische Aussage, sondern es ist die Verkündigung eines wunderbaren Geschenks, das Gott uns durch Jesus Christus gemacht hat. Wenn wir dieses Geschenk dankbar annehmen und zu würdigen wissen, wird das Auswirkungen auf unser Zusammen­leben haben – nicht zuletzt auch auf unser Verhältnis zu den Mitmenschen in Staat und Gesell­schaft. Wir sind uns dann nämlich bewusst, dass alle Menschen ohne Unterschied in Gottes Reich berufen sind, und alle getauften Gläubigen ohne Unterschied unsere Brüder und Schwestern in Christus sind. Weil sie in Gottes Augen alle gleich wertvoll und geliebt sind, wäre es verkehrt, wenn wir hier nach menschlichen Gesichts­punkten Abstufungen vornehmen würden. Zugleich sind wir uns aber bewusst, dass die Menschen hinsichtlich ihrer Gaben und Funktionen nicht gleich sind, auch nicht gleich sein sollen oder gleich sein können. Vielmehr soll jeder mit seinen besonderen Gaben an dem von Gott zugewiesenen Platz im Leben Christus nachfolgen und dem Vater im Himmel dienen. Je besser uns das gelingt, desto mehr werden wir uns am Leib Christi freuen können, und werden Gott danken sowohl für den Segen der Einheit als auch für den Segen der Vielfalt. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2017.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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