Ein Herz und eine Seele

Predigt über Apostelgeschichte 4,32-37 zum 1. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Manchmal trifft man einen Menschen, mit dem man sich hundert­prozentig versteht. Er interessiert sich für dieselben Dinge und teilt die eigene Meinung. Er kann über dieselben Dinge lachen und weinen. Wenn man mit ihm etwas unternimmt oder zusammen­arbeitet, dann braucht man nicht viel zu erklären, denn er kapiert sofort, worum es geht. „Seelen­verwandte“ nennt man solche Menschen. Es soll auch ganze Familien geben, die aus Seelen­verwandten bestehen, und sogar Kirchen­gemeinden. Da sagt man dann: „Die sind ein Herz und eine Seele.“ Übrigens geht diese Redensart auf Martin Luther zurück; genauer: auf seine Übersetzung des Neuen Testaments. Da heißt es am Anfang unseres Predigt­textes von der Jerusalemer Urgemeinde: „Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele.“ Sie ist damit offen­sichtlich zu einem Vorbild für alle christlichen Gemeinden geworden. Entsprechend enttäuscht sind viele Christen, wenn sie es in ihrer eigenen Gemeinde anderes erleben: Da ist es manchmal aus­gesprochen mühsam, auf einen Nenner zu kommen, und manchmal streitet man sich auch – wie es übrigens auch in vielen Familien vorkommt.

Aber zurück zur vorbild­lichen Jerusalemer Urgemeinde! War die denn wirklich „ein Herz und eine Seele“? Zwar steht es so in unserem Predigtext, aber wenn wir weiterlesen in der Apostel­geschichte und im Neuen Testament, dann bricht die schöne Vorstellung von Tausenden von Seelen­verwandten wie ein Kartenhaus zusammen. Bereits zwei Kapitel weiter hören wir zum Beispiel von einem handfesten Streit über die inner­kirchliche Witwen­versorgung. Menschlich ist das sehr verständ­lich: Die Jerusalemer Urgemeinde war bunt zusammen­gewürfelt; die Gemeinde­glieder stammten aus allen Ecken des römischen Reichs und aus allen sozialen Schichten – kein Wunder, dass es da nicht immer harmonisch zuging. Diese Erkenntnis kann uns trösten: Damals in Jerusalem, als die Apostel noch lebten, wurde also auch nur mit Wasser gekocht. Zugleich aber kann uns diese Erkenntnis auch irritieren: Wieso hat denn Lukas in der Apostel­geschichte denn geschrieben, dass sie „ein Herz und eine Seele“ waren? Hat er da nicht übertrieben?

Nein, das hat er nicht; Gottes Wort ist auch in dieser Hinsicht hundert­prozentig zuverlässig. Das Problem liegt woanders: Wir verstehen die Redewendung „ein Herz und eine Seele“ heute nicht so, wie sie ursprünglich gemeint war. Nach Luthers Bibel­übersetzung hat sie sich selbst­ständig gemacht und von ihrem ursprüng­lichen Sinn entfernt. Wir verbinden mit dieser Redensart heute die Ideal­vorstellung von Seelen­verwandt­schaft, aber die kommt in der Realität nur selten vor und kann deshalb auch von christlichen Gemeinden nicht selbst­verständlich erwartet werden. Wenn wir unseren Bibeltext richtig verstehen wollen, dann müssen wir nach der ursprüng­lichen Bedeutung fragen. Sie ergibt sich aus dem Zusammen­hang. Zwei Dinge werden da von der Jerusalemer Urgemeinde gesagt: Erstens betrachteten die Gemeinde­glieder ihr Privat­eigentum als gemeinsames Eigentum, und zweitens bezeugten die Apostel Jesu Auferstehung „mit großer Kraft“. Auf den ersten Blick scheint beides nicht viel miteinander zu tun zu haben. Auf den ersten Blick kann es auch passieren, dass wir die Sache mit dem gemeinsamen Eigentum besonders aufmerksam hören, weil das so bemerkens­wert und ungewöhnlich ist, und dass wir andererseits über die Sache mit dem Zeugnis von der Auferstehung schnell hinweghören, weil uns das sowieso in fast jeder Predigt begegnet. Dennoch wissen wir, was auch damals die Urgemeinde wusste: Das Evangelium vom Sieg Christi über den Tod ist viel, viel wichtiger als unser vergäng­licher Besitz. In dieser Einschätzung stimmen alle wahren Christen überein, getreu dem Wort des Meisters: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtig­keit; die lebens­notwendigen Güter werden euch dann schon zufallen“ (Matth. 6,33). Diese Überzeugung ist es, die alle Christen eint. Und genau diesen Glauben meint hier der Begriff „ein Herz und eine Seele“ – trotz aller menschlichen Unterschiede und Reibereien, die in einer Gemeinde auftreten mögen. Christen sind nicht unbedingt immer Seelen­verwandte, aber sie sind darin eins, dass Gott und sein Evangelium am aller­wichtigsten ist; Geld und Gut dagegen sind weniger wichtig.

Lasst uns dieses Aller­wichtigste jetzt in den Blick nehmen! Da heißt es vollständig: „Mit großer Kraft bezeugten die Apostel die Auferstehung des Herrn Jesus, und große Gnade war bei ihnen allen.“ Es waren nicht nur einfach Worte und In­formationen, was die Apostel da von sich gaben, sondern es war das wirkkräftige Gotteswort. Es führte Menschen zur Erkenntis ihrer Sünde und zur Umkehr. Es erfüllte unzählige Herzen mit lebendigem Glauben und mit Liebe. Es wirkte mächtig in den Sakramenten Taufe und Abendmahl. Diese Macht des Wortes wurde äußerlich sichtbar an Heilungen und Wundern, die der Heilige Geist durch die Aposel tat. „Dynamis“ steht da im Urtext für diese große Kraft, und enstprechend hat auch Paulus später das Evangelium im Römerbrief bezeichnet: „Es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben“ (Römer 1,16). Dies Kraft hat ihren Ursprung im Tod und in der Auferstehung des Herrn Jesus Christus: Kraft seines Todes wird uns die Sündenschuld vergeben, und kraft seiner Auferstehung werden wir ewig leben. Damals wie heute sind der Tod und die Auferstehung Jesu der Dreh‑ und Angelpunkt aller christlichen Verkündi­gung; darin stimmen alle wahren Christen überein, in dieser Hinsicht sind sie alle „ein Herz und eine Seele“. Diese frohe Botschaft ist das Herzstück des einen Glaubens, den wir Sonntag für Sonntag bekennen. Wir tun es mit Worten, die bis in die Zeit der Apostel zurück­reichen, nämlich mit dem Aposto­lischen Glaubens­bekenntnis. Durch diesen Glauben empfangen wir die unfassbar große Gnade Gottes, so wie es damals von den Jerusalemer Urchristen hieß: „Große Gnade war bei ihnen allen.“

Soweit das Wichtigste, das Evangelium. Das weniger Wichtige wollen wir nun aber nicht unter den Teppich kehren. Geld und Gut sind zwar nicht so wichtig in der christlichen Gemeinde, aber sie sind auch nicht ganz unwichtig. Das können wir schon daran erkennen, dass unser Predigttext darüber ausführlich Auskunft gibt. Da heißt es von den ersten Jerusalemer Christen: „Auch nicht einer von ihnen sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, es war ihnen alles gemeinsam.“ Manche wollen hier die Wurzel des Kommunismus erkennen, aber vom Kommunismus steht gar nichts da. Die Leute, die eine kommu­nistische Gerechtig­keit anstreben, wollen das Privat­eigentum von oben nach unten zwangsweise umverteilen, bis alle ungefähr gleich reich sind, ja, bis es am Ende gar kein Privat­eigentum mehr gibt. Gott dagegen schützt das Privat­eigentum; er tut es ausdrücklich mit dem siebten Gebot: „Du sollst nicht stehlen!“ Auch die ersten Christen in Jerusalem besaßen weiterhin Privat­eigentum. Niemand wollte ihnen das wegnehmen oder erwartete von ihnen, dass sie es wegschenken. Als das Ehepaar Hananias und Saphira ein Grundstück zugunsten der Gemeinde verkaufte, sagte Petrus ihnen aus­drücklich, dass sie es ebensogut hätten behalten können. Und dann kritisierte er sie nicht dafür, dass sie einen Teil des Geldes für sich privat zurück­behalten hatten, sondern nur dafür, dass sie das heimlich getan hatten und auf diese Weise großzügiger erscheinen wollten, als sie tatsächlich waren (Apostel­gesch. 5,4). Die ersten Christen besaßen also nach wie vor Privat­eigentum, aber sie sagten nicht eogistisch abgrenzend: „Das ist meins!“ Vielmehr stellten sie es den Aposteln und der ganzen Gemeinde zur Verfügung, damit es für diejenigen von Nutzen war, die es gerade am nötigsten hatten. Sie taten das aus Nächsten­liebe sowie auch aus der Erkenntnis heraus: Wenn man durch Jesus einen Schatz im Himmel geschenkt bekommt, dann braucht man sein Herz nicht mehr an materielle Werte zu hängen. Genau hier besteht der Zusammen­hang zwischen dem Wichtigen und dem weniger Wichtigen, dem Evangelium und dem Geld: Wer an Jesus glaubt, für den ist das Geld kein Selbstwert, sondern einfach nur ein Mittel zum Zweck, um Gutes zu tun. Wenn wir diese schöne Einstellung bei uns weiter­entwickeln wollen, dann finden wir mit dem Beispiel der Jerusalemer Christen einen guten Rat: Sie taten einfach so, als wäre ihr Eigentum gar nicht ihr Eigentum, sondern als wäre es ihnen von Gott nur leihweise zur Verfügung gestellt, um damit Gutes zu tun.

Die letzten beiden Verse des Predigt­textes machen uns anschaulich, wie sich solche Einstellung zu Geld und Gut in der damaligen Situation praktisch auswirkte. Wir wissen, dass beim ersten Pfingstfest Menschen aus allen möglichen Ländern nach Jerusalem gekommen waren; viele von ihnen hatten sich taufen lassen und blieben dann in der Stadt. Sie hatten dort keinen Landbesitz, keine Arbeit und kein Lebens­unterhalt, darum waren sie in der ersten Zeit darauf angewiesen, dass andere sie unter­stützten. So kam es, dass die alt­eingessenen Judäaer unter den ersten Christen ihre Immobilien verkauften und das Geld zwecks Verteilung zu den Aposteln brachten. Auch die Apostel selbst sollten von diesen Gaben leben, damit sie nicht für ihren Lebens­unterhalt arbeiten mussten und sich voll auf den Ver­kündigungs­dienst konzen­trieren konnten. Man brachte das Geld deshalb zu den Aposteln, weil viele in ihnen so etwas wie Häuptlinge oder Chefs der Urgemeinde sahen, die mit ihrer Autorität alles organisieren und bestimmen sollten. Dass das nicht so gut geklappt hat, zeigte sich dann später bei dem Ärger mit der Witwen­versorgung. Aus Schaden klug geworden, delegierten die Apostel diese Aufgabe dann an sieben fähige Männer, die ersten Diakone. Schon Mose hatte einst wichtige Aufgaben an andere delegiert, und so soll das bis heute im Reich Gottes sein: Die berufenen Hirten sind nicht Häuptlinge oder Chefs, die das ganze Gemeinde­leben in Schwung halten sollen, sondern sie sind mit dem geistlichen Weideamt betraut. Sie sollen sich also darauf konzen­trieren, dass das Evangelium von Jesus Christus stets kräftig gepredigt wird. Sie sollen lehren, taufen, Sünden vergeben, den Gottesdienst leiten und für die rechte Abendmahls­feier ver­antwortlich sein. Alles andere kann delegiert werden, und wenn geeignete Gemeinde­glieder vorhanden sind, ist das sogar der bessere Weg. Es gehört auch zu den Erkennt­nissen der lutherischen Reformation, dass Bischöfe auf weltliche Macht lieber verzichten und sich ganz auf das Predigtamt konzen­trieren sollen.

Am Ende erfahren wir noch beispielhaft den Namen eines Mannes, der seinen Acker zugunsten der Jerusalemer Gemeinde verkaufte: Josef genannt Barnabas, „Sohn des Trostes“, offenbar ein begabter Tröster und Berater. Er wird nicht deshalb besonders erwähnt, weil sein Grundstück so wertvoll war, sondern deshalb, weil er im weiteren Verlauf der Apostel­geschichte besonders in Erscheinung tritt. Barnabas gehörte zu den Gründungs­mitglieder der Gemeinde Antichoien, und er holte später den Apostel Paulus dorthin. Barnabas war es auch, der Paulus auf seiner ersten Missions­reise in Kleinasien begleitete. Die beiden sind sich einmal furchtbar in die Haare geraten, heißt es in der Apostel­geschichte, aber letztlich waren sie doch „ein Herz und eine Seele“ – im ur­sprünglichen biblischen Sinn. Denn beiden lag am Herzen, dass das Evangelium vom Tod und von der Auferstehung unseres Herrn verkündigt wird. Und das ist das Wichtigste; alles andere ist nicht so wichtig. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre NNNN.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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