Eine denkwürdige Begegnung

Predigt über 1. Mose 32,23-33 zum Sonntag Quasimodogenitit

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Manche Christen hatten schon mal eine Begegnung mit Gott – zum Beispiel der Kapitän eines Kreuzfahrt­schiffs vor einigen Jahren. Er berichtete, wie eine Riesenwelle auf das Schiff zukam. Sie muss über zehn Meter hoch gewesen sein. Ihre Gewalt war so heftig, dass sie mehrere Fenster zertrümmerte und einige Aufbauten beschädigte. Der Kapitän meinte dazu: „In so einem Augenblick spürt man den Atem Gottes!“

Viele Christen können von unter­schiedlichen Begegnungen mit Gott erzählen, sowohl spektaku­lären als auch unschein­baren. Einige bewirken einen tiefen Einschnitt im Leben; sie bringen eine Wende und krempeln das Leben vollständig um. So hat es Paulus erfahren, als Christus ihm erschien und er vom Verfolger zum Apostel wurde. Nun dürfen wir allerdings nicht erwarten, dass alle Christen so etwas erleben. Wer keine Gottes­begegnungen und keine Bekehrungs­erlebnisse vorweisen kann, ist deswegen kein schlechter Christ. Einigen schenkt Gott solche Begegnungen, anderen nicht. Aber doch können wir alle an den ent­sprechenden Berichten der Bibel teilhaben und daraus etwas für unseren Glauben mitnehmen. Da ist zum Beispiel die Begegnung zwischen dem Apostel Thomas und Christus, von der die heutige Evan­geliums­lesung handelt. „Mein Herr und mein Gott“, ruft Thomas überwältig aus, als er den auf­erstandenen Gottessohn leibhaftig vor sich sieht. Auch unser Predigttext berichtet von einer besonderen Gottes­begegnung. Der alte Jakob erlebte sie bei seiner Heimreise nach Kanaan am Fluss Jabbok. Er war so beeindruckt davon, dass er den Ort Pnuel nannte, auf Deutsch: „Angesicht Gottes“. Diese Gottes­begegnung markiert zugleich einen tiefen Einschnitt in seinem Leben. Lassen wir uns jetzt von Gottes Wort mitnehmen in diese merkwürdige Geschichte!

Jakob saß am Ufer des Flusses Jabbok, an der Grenze zum Land Kanaan. Nach langer Zeit kehrte er in seine Heimat zurück – in das Land, das Gott bereits seinem Großvater Abraham als Erbbesitz versprochen hatte, und dann auch seinem Vater Isaak, und schließlich auch ihm selbst. Jakob hatte einen an­strengenden Tag hinter sich: Seinen gesamten Viebesitz hatte er in mehreren Herden an dieser flachen Stelle über den Fluss geführt, zuletzt auch seine vier Frauen mit ihren Kindern. Es war inzwischen Nacht geworden, und er war allein – so allein wie schon lange nicht mehr. Als er vor zwanzig Jahren von zu Hause fortgezogen war, war er oft allein gewesen. Jakob dachte zurück an diese Zeit, die keine gute gewesen war. Sein Wegzug war eigentlich eine Flucht gewesen. Er hatte sich so sehr mit seinem älteren Bruder Esau vekracht, dass der ihn umbringen wollte. Jakob konnte Esau sogar verstehen: Er war ja auch zu gemein zu ihm gewesen; er hatte seinem Namen alle Ehre gemacht, denn Jakob bedeutet „hinter­listig“. Jakob wollte immer der Gewinner sein. Erst hatte er Esau sein Erst­geburtsrecht ab­geschwatzt, und dann hatte er ihn um den besonderen Gottessegen betrogen, der von Abraham her von Generation zu Generation weiter­gegeben wurde. Aber wer war eigentlich dieser Gott, und wie stand es mit seinem Segen? Jakob sah in Gott ein höheres Wesen, das man sich zunutze machen kann auf seinem Lebensweg. So sehen das ja viele Menschen bis zum heutigen Tag. Sie sagen: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott! Und sie meinen, man müsse sich Gottes Segen erarbeiten und erkämpfen; diese Meinung ist die Grundlage jeder Religion. Glaube ist das freilich nicht; mit echtem Gott­vertrauen hat das nichts zu tun. Jakob aber hatte weiter­gekämpft: um die Frau, die er liebte, um Besitz sowie auch um Anerkennung bei Gott und den Menschen. Und er hatte es dabei wirklich weit gebracht. Aber Frieden hatte er dadurch nicht gefunden, weder inneren noch äußeren Frieden. Auch jetzt war er unruhig, in dieser Nacht am Jabbok. Er befürchtete, dass Esau noch immer eine Wut auf ihn hat und ihn angreifen könnte. Listig wie Jakob war, hatte er seine Viehherden als Versöhungs­geschenk für Esau voraus­geschickt – aber vielleicht würde es dennoch zum Kampf mit ihm kommen.

Jakob schreckt aus seinen Gedanken auf: Hat es da nicht eben im Gebüsch geraschelt? Noch ehe er sich versieht, stürzt sich ein unbekannter Mann auf ihn und greift ihn an, aber Jakob wehrt sich nach Leibes­kräften. Er muss also doch wieder kämpfen – aber nicht, wie erwaret, mit Esau, sondern mit diesem unheimlichen Fremden. Der Ringkampf zieht sich lange hin; Jakob gibt sich nicht so schnell geschlagen. Im Gegenteil: Immer öfter liegt er oben. Noch ahnt Jakob nicht, dass dieser Mann kein Räuber ist, sondern Gott persönlich. Gott kann ja jede Gestalt annehmen. Zwar ist Gott Geist, aber das bedeutet nicht, dass Gott grund­sätzlich körperlos ist. Er kann als Reisender erscheinen wie bei Abraham in Mamre oder als uralter Mann auf einem Thron wie bei Daniel. In Jesus ist er als Baby zur Welt gekommen und dann zum Mann heran­gewachsen. Hier, bei Jakob, erscheint Gott als geheimnis­voller Ringkämpfer. Und er lässt Jakob diesen Ringkampf er­staunlicher­weise gewinnen. Das erinnert mich an die Zeit, als ich ein kleiner Junge war: Da habe ich gern mit meinem Vater auf dem Kinder­zimmer­teppich gerungen, und mein Vater hat mich immer gewinnen lassen. Aber dann nimmt diese Gottes­begegnung eine unerwartete Wendung. Als die Morgenröte anbricht, befreit sich der Fremde mit einem gewaltigen Schlag auf Jakobs Hüfte. Die stärkste Sehne des Körpers wird dadurch überdehnt und die Hüfte ausgerenkt. Da erkennt Jakob die über­natürliche Kraft des Fremden und merkt, dass er es mit Gott zu tun hat.

Der Fremde, der in Wirklichkeit Gott ist, wendet sich zum Gehen. Jakob ruft ihm hinterher: „Ich lass dich nicht weg, erst musst du mich noch segnen!“ Jakob ist durch diesen Kampf mit Gott an der Grenze zum verheißenen Land auch persönlich an eine Grenze geführt worden. Erst schien er zu siegen, aber dann musste er vor Gottes Macht kapitu­lieren. Ausgerechnet in dieser Situation der Niederlage bittet er um Gottes Segen. Jawohl, er bittet, denn erkämpfen kann er sich den Segen jetzt nicht mehr. Genau das ist es, was Gott den Jakob mit dieser Begegnung lehren wollte. Genau das ist es, was Gott alle Menschen lehren möchte, auch dich und mich: dass wir Gottes Segen nicht erzwingen, sondern nur erbitten können. Wir müssen allen religiösen Ehrgeiz aufgeben, unsere Hilf­losigkeit eingestehen und darauf vertrauen, dass Gott uns nicht im Stich lässt; dann lernen wir wie Jakob beten: „Ich lasse dich nicht nicht, du segnest mich denn!“ Jetzt erst hat Jakob richtig glauben gelernt, jetzt erst vertraut er Gott wirklich. Den Ringkampf hat er letztlich verloren, aber das rechte Gott­vertrauen hat er auf diese Weise gewonnen.

Jakobs Gottes­begegnung am Jabbok stellt einen tiefen Einschnitt in seinem Leben dar, einen Wendepunkt. Gott macht das deutlich, indem er ihm einen neuen Namen gibt. Jakob, der „Hinter­listige“, soll von nun an Israel heißen, „Gottes­kämpfer“. Gott sagt ihm zur Erklärung: „Du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.“ Was heißt das – gewonnen? Nicht so, wie man eine Schlacht gewinnt, sondern eher so, wie man einen Preis gewinnt. Nicht das billig gekaufte Erst­geburts­recht, nicht der erschlichene Erbsegen, nicht die erarbeiteten Reichtümer sind hier als Gewinn gemeint, sondern der neu gewonnene Glaube, der Friede mit Gott, und die damit einher­gehende Erkenntnis, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist. Denn was wirklich wertvoll ist im Leben, das kann sich keiner erarbeiten oder erkämpfen, das kann man sich nur von Gott schenken lassen. Dies ist dann auch die Hauptlehre des Neuen Testaments, das uns bezeugt: Nur der Glaube macht selig, das Vertrauen in Jesus Christus, nicht irgendwelche menschlichen Werke, und seien sie auch noch so gut.

Jakob wollte sicher gehen, dass er sich nicht irrt, sondern das es wirklich Gott war, der ihn dies gelehrt hatte. Darum fragte er den Mann am Jabbok: „Wie heißt du?“ Der antwortete: „Warum fragst du, wie ich heiße?“ Und dann segnete er Jakob. Wir sollen keine Beweise und Sicherheiten suchen, ob es denn wirklich Gott ist, der uns begegnet – sei es in unserer persönlichen Erfahrung, sei es in der Heiligen Schrift. Vertrauen bedeutet, dass wir uns mit Gottes Wort begnügen und mit den Zeichen seiner Gegenwart, die er uns schenkt. Dieses Vertrauen wird nicht enttäuscht werden, denn mit diesem Wort und mit diesen Zeichen schenkt uns Gott zugleich seinen Heiligen Geist, der uns im Glauben gewiss macht. Darum konnte Jakob nach seiner Gottes­begegnung bekennen: „Ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet.“ Von Rechts wegen muss ein Sünder sterben, wenn er dem heiligen Gott begegnet, aber Gottes Segen hebt das Todesurteil auf und schenkt neues Leben.

Jakob wurde mit dieser Gottes­begegnung über eine Grenze geführt. Diese Gottes­begegnung brachte eine ein­schneidende Wende in seinem Leben. Er verlor seine Körperstärke und hinkte fortan, aber er gewann an Glaubens­stärke. Er verzichtete künftig darauf, mit Kampf und List Segen zu erwerben, denn er hatte gelernt, sich einfach von Gott beschenken zu lassen. Er hatte also eigentlich gelernt, im Unterliegen zu gewinnen – genau das aber ist Gottes Art zu siegen. Am Beginn eines neuen Tages ging Jakob mit einem neuen Namen über den Jabbok in das Land der Verheißung, und er fand neuen Frieden – sowohl inneren als auch äußeren, sowohl mit Gott als auch mit den Menschen. Denn als ihm wenig später Esau begegnete, da stellte er erstaunt fest, dass der ihm gar nicht mehr böse war. Gottes geschenkter Segen wirkte sich in der Weise aus, dass ganz ohne List und Kampf etwas gewonnen war: Jakob hatte auch seinen Bruder zurück­gewonnen. Jakobs neuer Name aber wurde zum Namen des Volkes, das Gott ganz besonders segnete und durch das er seinen Segen für alle Menschen kommen ließ, auch für uns: Israel!

Ich habe am Anfang der Predigt davon gesprochen, dass nicht alle Christen von persönlichen Gottes­begegnungen berichten können. Das stimmt eigentlich nicht ganz. Viele von uns können sich zwar nicht daran erinnern, aber doch können alle den Tag ihrer Taufe als einen Tag der Gottes­begegnung verbuchen. Denn in der Heiligen Taufe tritt Gott in das Leben eines Menschen ein und erneuert es von Grund auf. In früheren Zeiten wurde dann erst der Name des Täuflings genannt, oder ein erwachsener Täufling erhielt einen neuen Namen – so wie aus dem Jakob durch die Gottes­begegnung ein Israel wurde. In jedem Fall aber ruft Gott durch die Heilige Taufe einen Menschen persönlich beim Namen und schenkt ihm seinen Segen. Kein Getaufter braucht sich Gottes Segen zu erarbeiten oder zu erkämpfen, wir bekommen ihn frei und umsonst geschenkt. Nur Vertrauen ist nötig, um diesen Segen recht zu empfangen – ein Vertrauen von solcher Art, wie es Gott auch damals dem Jakob ins Herz gab. Dieser Segen, den Jesus allen Glaubenden schenkt, gibt uns inneren und äußeren Frieden, Frieden mit Gott und Frieden mit unseren Mitmenschen durch die Kraft der Liebe. Und das Beste: Dieser Segen hört niemals auf. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2017.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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