Gottes Projekt

Predigt über Micha 7,18-20 zum 3. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Im Stillen Ozean zwischen Japan, Papua-Neuguinea und den Philippinen befindet sich die sogenannte Challenger-Tiefe. Mit fast 11.000 Metern ist sie die tiefste Stelle der Erde. Von der Wasser­oberfläche aus müsste man elf Kilometer senkrecht nach unten tauchen, um den Meeresboden zu erreichen. Nehmen wir an, das Wasser des Pazifiks wäre Gips, und man könnte es aus seiner Form nehmen und umgedreht auf eine riesig Ebene stellen, dann würde dieser tiefste Punkt der Erde zum höchsten Berg werden; er würde den Mount Everest noch um 2000 Meter überragen. Wenn man sich das einmal vorstellt: Es ist atem­beraubend, wie tief das Meer ist!

Nun verkündet der Prophet Micha: „Gott wird alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“ Von dort kann sie niemand wieder hochholen, und auch Gott wird das nicht tun. Unsere Sündenschuld ist ein für alle Mal erledigt und begraben. Sie steht nicht mehr zwischen uns und Gott, sie belastet uns nicht mehr. Wenn man sich das einmal vorstellt: Es ist atem­beraubend, wie groß Gottes Liebe ist! Micha rief staunend aus: „Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld?“

Wie groß Gottes Gnade ist, das merken vor allem die Menschen, denen auch die Größe ihrer Schuld bewusst ist. Versuchen wir uns vor­zustellen, wie einer sich fühlt, der große Schuld auf sich geladen hat. Zum Beispiel der Fahrdienst­leiter bei der Bahn, der fahrlässig einen Frontal­zusammenstoß von zwei Zügen verursacht hat. Zum Beispiel die Erzieherin, unter deren Verant­wortung ein Kind ertrunken ist. Zum Beispiel der Autofahrer, der beim Rechts-Abbiegen einen Radfahrer übersehen und ihn totgefahren hat. Man kann es kaum aushalten, sich das vorzustellen – all die Schmerzen und das Leid, die Alpträume in jeder Nacht, das nagende schlechte Gewissen an jedem Tag. Man kann Gott nur danken, wenn einem solche Tragödien bisher erspart geblieben sind.

Aber das bedeutet ja nicht, dass wir grund­sätzlich bessere Menschen sind als diejenigen, denen so etwas passiert. Denn diese Menschen sind ja nicht böser als alle anderen. Und wer von uns hat sich noch nie bei einer kleinen Un­achtsamkeit oder Regel­widrigkeit ertappt, die schlimm hätte ausgehen können? Wer von uns ist noch nie leichtsinnig gewesen? Die Gewissens­last der Menschen, die ein Unglück verschuldet haben, ist meistens nicht deswegen so groß, weil ihr Fehl­verhalten besonders groß war, sondern deswegen, weil die Folgen so schwer­wiegend sind. Menschlich gesehen ist das verständ­lich, aber bei Gott gelten andere Maßstäbe. Denn Gott beurteilt nicht so sehr die Folgen unseres Verhaltens, sondern unsere Motive. Bei Gott wiegt es am schwersten, wenn jemand ihm nicht vertraut. Bei Gott wiegt es am schwersten, wenn jemand sein Heil bei anderen Göttern, Menschen und Dingen sucht, oder auch bei sich selbt. Auch wenn er nach menschlichem Ermessen damit erfolgreich ist und von anderen bewundert wird, bei Gott ist die Sünde gegen das erste Gebot die schlimmste Sünde: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“

Genau das ist die Sünde, mit der wir am meisten zu kämpfen haben. Denn wer könnte schon von sich behaupten, dass er Gott über alle Dinge fürchtet, liebt und vertraut? Wenn wir das Urteil von Gottes Gesetz gelten lassen, dann stehen wir nicht besser da als der Fahrdienst­leiter, die Erzieherin oder der Autofahrer mit ihrer jeweiligen Gewissens­last. Und diese Gewissens­last würde uns unweigerlich erdrücken – wenn da nicht das Evangelium wäre, die atem­beraubend wunderbare Nachricht: „Er wird alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“

Vollständig lautet der Satz des Propheten Micha so: „Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“ Da erkennen wir neben der Sache mit der Meerestiefe noch ein weiteres schönes Bild für Gottes Vergebung: Er wird „unsere Schuld unter die Füße treten.“ Manchmal muss man viele leere Pappkartons in die Papiertonne kriegen, und da kann man sich so helfen: Man reißt die Kartons ein, knickt die Seiten um und trampelt dann so lange darauf herum, bis aus jedem großen Karton ein handliches Bündel Wellpappe geworden ist. Das Herum­trampeln bewirkt, dass etwas Riesiges klein wird und gut entsorgt werden kann. Genauso macht Gott es mit unserer Schuld: Er tritt sie unter die Füße – und bewirkt damit, dass aus der riesigen Gewissens­last etwas wird, das leicht entsorgt werden kann.

Damit ist das Wichtigste gesagt: das Wichtigste in unserem Predigttext, das Wichtigste von der Botschaft des Propheten Micha, das Wichtigste von der Botschaft aller Propheten, das Wichtigste in der ganzen Bibel, das Wichtigste für unser ganzes Leben. Vetrauen wir einfach darauf, dass Gott unser größtes Problem klein gemacht, in den Abfall geworfen und in den Tiefen des Meeres versenkt hat.

Dieses Wichtigste steht nun aber in einem Zussammen­hang, der auch nicht unwichtig ist: der Zusammenhang unseres Predigt­textes, der Zusammenhang von Michas gesamter Botschaft und der Zusammenhang der ganzen Bibel. Dieser Zusammenhang ist eigentlich eine Geschichte – nämlich die Geschichte Gottes mit uns Menschen. Diese Geschichte erstreckt sich vom Anfang bis zum Ende der Zeit, von der Schöpfung bis zum Jüngsten Tag. Was das Verhalten von uns Menschen anbetrifft, ist diese Geschichte frustrie­rend: Wir lernen nicht aus unseren Fehlern, wir tappen immer wieder in dieselben Sünden­fallen, wir laden immer wieder neue Schuld auf uns, wir erleben keinen Fortschritt. Das gilt sowohl für die Entwicklung ganzer Völker und ihrer Machthaber als auch für jedes einzelne Menschen­leben. Aus göttlicher Sicht aber ist diese Geschichte ein großer zusammen­hängender Bogen. Gott hat einen Plan mit der Welt, und diesen Plan führt er Schritt für Schritt durch – notfalls auch gegen menschlichen Widerstand. Es ist ein Plan der Liebe und der Erlösung.

Als die ersten Menschen sündigten, strafte Gott sie zwar, verhieß ihnen aber zugleich seine Erlösung durch den Nachkommen, der dem Satan, der alten Schlange, den Kopf zertreten würde (1. Mose 3,15). Zu Noahs Zeiten strafte Gott die Menschen durch die große Flut, rettete aber das Menschen­geschlecht durch Noah und die Arche. Den Stammvätern Israels, Abraham und Isaak und Jakob, versprach er hoch und heilig, dass aus ihren Nachkommen Segen für alle Völker der Welt kommen werde. Micha erinnerte daran, als er zu Gott sagte: „Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham die Gnade halten, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.“ Danach schloss Gott mit dem Volk Israel einen Bund, der dieses Volk aus allen anderen Völker heraushob – aber nicht, um die anderen Völker zurück­zusetzen oder gar fallen zu lassen, sondern im Gegenteil, um durch Israel die Erlösung aller Menschen vor­zubereiten. Israel jedoch verhielt sich nicht besser als die anderen Völker, sondern betrübte Gott mit Misstrauen, Ungehorsam und Götzen­dienst. Das ganze Alte Testament ist voll davon, wie Gott sein Volk immer wieder zur Umkehr ruft und wie es dann immer wieder neu in Sünde fällt. Israels Propheten hatten in diesen Situationen die schwere Aufgabe, Gottes Strafgericht anzu­kündigen. Auch der größte Teil des Buches Micha enthält Gottes Anklage und Androhung von Strafe. Aber die Propheten versäumten es nie darauf hinzuweisen, dass am Ende doch Gottes Gnade siegen wird, Gottes vergebende Liebe – zumindest für die, die sich vor seinem Ruf zur Umkehr nicht ver­schließen. Freilich war das damals nur eine Minderheit in Israel, ein Rest – so wie heute auch nur noch Rest der Menschen in Deutschland ernsthaft nach Gott fragt und ihm vertraut. Darum verkündete Micha: „Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die übrig­geblieben sind von seinem Erbteil; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er ist barmherzig!“ Ein Götze, eine Gottes­gestalt nach menschlicher Vorstellung, hätte schon längst diese andauernd sündigenden Menschen aufgegeben, hätte ihnen den Rücken gekehrt oder hätte vor Wut alles kurz und klein geschlagen. Die Liebe und Geduld des einen wahren Gottes aber sind nicht menschlich, sondern göttlich. Er zieht seinen Plan durch, er führt seine Liebes­geschichte mit den Menschen zu Ende – auch wenn sie ihn noch so oft enttäuschen und auch wenn es noch so wenige sind, die sich zur Umkehr rufen lassen. Deswegen hat er auch den einen Adams‑ und Abrahams­nachkommen zur Welt kommen lassen, der zugleich sein eingeborener Sohn ist und durch den allen Völkern Vergebung und ewiges Leben ermöglicht werden: Jesus Christus, unser Heiland.

Ja, Gott führt seinen Plan zu Ende. Er tut es durch Jesus, durch niemand anderen. Er tut es so, wie er es von Anfang an vorhatte und wie er es die Menschen von Anfang an wissen ließ. Wenn Menschen große Projekte anfangen, setzen sie ja auch alles daran, sie zu Ende zu bringen, selbst wenn es so proble­matische Projekte sind wie der Groß­flughafen Berlin-Brandenburg. Das Projekt, das Gott mit der Schöpfung begonnen hat, wird er erst recht zu Ende bringen, denn Gott ist zu­verlässiger und mächtiger als alle Menschen. Sich das sagen zu lassen, das ist der rechte selig­machende Glaube. Er ist eine fröhliche und gewisse Zuversicht gegen den Augenschein, gegen die menschliche Sünde und gegen all die frustrie­renden Erfahrungen, die mit ihr zusammen­hängen. Es ist eine fröhliche und gewisse Zuversicht mit Blick auf den Heiland Jesus Christus. In dieser Zuversicht sprechen wir mit Micha: „Gott wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum