Das Gotteslamm

Predigt über Jesaja 53,7 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Letzte Woch haben wir den Vers vor unserm heutigen Predigttext bedacht: „Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn.“ Jesus, der Gottesknecht und gute Hirte, hat sein Leben gelassen für uns verirrte Schafe. Indem er es tat, wurde der Hirte selbst zum Schaf, zum Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt. Davon handelt nun ausdrücklich der nachfolgende Satz, den wir jetzt bedenken: „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.“

Dieser Satz ist zusammen mit der Einsetzung des Passafestes der Ausgangs­punkt für alles Reden von Jesus als Gotteslamm im Neuen Testament und in der Kirche. Beim ersten Passafest, kurz bevor die Hebräer Ägypten verließen, wurden Lämmer ge­schlachtet, und das Blut dieser Lämmer schützte die Hütten der Hebräer vor dem Tod. Jesaja hat mit seiner Weissagung angedeutet, dass alle Lämmer, die als Sündopfer geschlachtet wurden, prophetische Vorzeichen für den kommenden Retter und Gottesknecht sind. Als dann der letzte in der Reihe der pro­phetischen Wegbereiter, Johannes der Täufer, Jesus schließlich vor sich sah, rief er aus: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (Joh. 1,29) Und auch der Johannes, der das letzte Buch der Bibel geschrieben hat, gibt Zeugnis vom Gotteslamm Jesus Christus. Er hat im Buch der Offenbarung beschrieben, wie das einst ge­schlachtete Lamm vor Gottes Thron erscheint und von allen Engeln und Heiligen angebetet wird: „Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob“ (Offb. 5,12). Zwischen diesen beiden Johannes-Zeugnissen finden wir neben vielen anderen Bezügen zum Gotteslamm das Gespräch des Diakons Philippus mit dem Kämmerer aus Äthiopien. Der las in seiner Jesaja-Schriftrolle den Satz, den wir hier bedenken: „Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf.“ Der Kämmerer wollte gern wissen, von wem Jesaja das schreibt. Weiter heißt es in der Apostel­geschichte des Lukas: „Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Wort der Schrift an und predigte ihm das Evangelium von Jesus“ (Apostel­gesch. 8,35). Das Evangelium von Jesus, die frohe Botschaft von unserm Heiland, das Herzstück der ganzen Bibel zeigt sich an diesem wunderbaren Bild des ge­schlachteten Gotteslamms.

Nun ist bei Jesaja davon die Rede, dass dieses Lamm „zur Schlachtbank geführt wird“. Was ist eigentlich eine Schlacht­bank? Noch heute haben die Juden eine besondere Art, Tiere zu schlachten. Diese Art nennt man „schächten“, vom hebräischen Wort „schachat“. Dabei muss das Blut möglichst vollständig aus dem Tierkörper heraus­fließen. Aus diesem Grund schächtet man kleinere Tiere auf hölzernen Tischen oder „Bänken“, denn so kann das Blut nach unten abfließen. Das Kreuz auf Golgatha wurde gewisser­maßen zur Schlachtbank für das Gotteslamm: Da starb es und da floss sein Blut, um des Vaters Willen zu erfüllen und uns von Schuld zu reinigen.

Nun hat Jesaja aber nicht nur prophezeit, dass Jesus dieses Opfer für uns auf sich genommen hat, sondern er hat auch prophezeit, wie Jesus das getan hat: Er litt „willig“, er „tat seinen Mund nicht auf“ – „wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird,“ und „wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer“. Normaler­weise blöken Schafe laut und wider­strebend, wenn sie spüren, dass es ihnen an die Wolle und ans Leben geht. Und normaler­weise protestieren Menschen laut, wenn sie ungerecht behandelt werden. Wenn heutzutage zum Beispiel ein bestimmter Berufsstand meint, er würde zu schlecht bezahlt werden, dann de­monstrieren die ent­sprechenden Gewerk­schaften lautstark mit Sprechchören und Triller­pfeifen – ganz zu schweigen von dem Lärm, der dann in den Massenmedien veranstaltet wird. Jesus lärmte nicht, als man ihn unschuldig festnahm. Er protestierte nicht, als man ihn mithilfe falscher Zeugen der Gottes­lästerung überführen wollte. Er beschwerte sich nicht, als man ihn verspottete und schlug. Er ging nicht in Revision, als Pontius Pilatus ihn wider besseres Wissen zum Tod verurteilte. Er jammerte nicht, als man ihn ans Kreuz schlug. Nur ganz zum Schluss, kurz vor seinem Tod, da hat er einmal laut geschrien. Da hat er den schlimmsten Schmerz heraus­geschrieben, den es gibt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matth. 27,46). Aber auch dabei widerstrebte er nicht und protestierte er nicht, sondern nahm willig und demütig das Schlimmste auf sich, was es gibt: von Gott verlassen sein. Er tat es, damit es uns erspart bleibt.

An diesem willigen und schweigenden Erdulden wird das Besondere von Gottes Handeln deutlich. Menschliche Erlösung sieht anders aus: Sie geschieht lautstark und tatkräftig, durch Protest, durch Kampf, durch Sieg und unter Triumph­geschrei. Gott aber erlöst in der Stille, durch Erleiden, durch Erdulden, durch Verzicht auf Widerstand, durch scheinbares Unterliegen. Das ist das Geheimnis des Evangeliums. Das ist das Machtvolle am Wort vom Kreuz – für viele un­verständlich oder sogar anstößig, für uns aber die Gotteskraft, die uns selig macht. Und wo es um den guten Kampf des Glaubens geht, da sind auch wir Christen mit solch schweigendem Erdulden gut beraten. Es war übrigens ebenfalls der Prophet Jesaja, der diesen bemerkens­werten Satz gesagt hat: „Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein“ (Jesaja 30,15). Ja, die Stärke des Gotteslammes liegt darin, dass es still­gehalten und sich ganz dem Willen des Vaters ausgeliefert hat. „Er litt willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.“

Jesajas Wort vom Gotteslamm hat nicht nur das Neue Testament geprägt, sondern auch das Zeugnis der Kirche aller Zeiten. Vom Gotteslamm zeugen ganz viele Werke christlicher Kunst und Musik. Das Lamm ist in Werken christlicher Maler das bedeutendste Bildsymbol für Jesus und sein Opfer. Wir finden es zum Beispiel an dem berühmten Isenheimer Altar von Matthias Grünewald unter dem Kreuz, und wir finden es im Glasfenster hier in unserem Gemeinde­raum. In Bereich der geistlichen Musik entstand bereits im siebenten Jahrhundert der lateinische Hymnus „Agnus Dei“, auf Deutsch: „Lamm Gottes“. Bis zum heutigen Tag ist er ein fester Bestandteil der Abendmahls­liturgie. Auch wir singen jedesmal, wenn wir das Heilige Mahl feiern: „Christe, du Lamm Gottes“. Eine andere Fassung ist uns aus unserm Gesangbuch ebenfalls vertraut: „O Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes ge­schlachtet“. Das Agnus Dei ist fester Bestandteil von Bachs H-Moll-Messe und von allen anderen Konzert­messen. All dies trägt dazu bei, dass wir immer wieder an das Herzstück des Evangeliums erinnert werden, an Christi Opfertod am Kreuz. Ja, heute und immer wieder wollen wir an die Erlösungstat des Gottes­knechts und Gotteslamms Jesus Christus zurück­denken, die Jesaja zu seiner Zeit vorausgesagt hat: „Als er gemartert ward, litt er doch willig.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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