Wir gingen in die Irre wie Schafe

Predigt über Jesaja 53,6 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn wir heute Schafe sehen, dann ist das etwas Besonderes. In biblischen Zeiten aber waren Schafe etwas All­tägliches, sie waren praktisch all­gegenwärtig. Abraham und seine Nachkommen bis hin zu Jesus kannten sich mit Schafen aus; die meisten hatten irgendwann auch schon mal selbst Schafe gehütet. Man kann sagen: Die Welt der Schafe war allen vertraut. Darum ist es nicht ver­wunderlich, wenn in der Bibel Menschen oft mit Schafen verglichen werden. Auch beim Propheten Jesaja finden wir diesen Vergleich, auch in dem vierten Knecht-Gottes-Lied, das wir uns dieses Jahr in den Passions­andachten genauer ansehen. Da heißt es nämlich: „Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg.“

Wer Schafen bei ihrer Lieblings­beschäfti­gung zuschaut, der weiß, was mit diesen Wort gemeint ist: „Ein jeder sah auf seinen Weg.“ Wenn Schafe fressen beziehungs­weise grasen, dann schauen sie nach unten auf ihren Weg, direkt vor ihre Vorderhufen. Sie sehen direkt auf die Pflanzen, die sie als nächste fressen wollen. Wir Menschen gleichen solchen Schafen: Das größte Augenmerk legen wir meistens auf das, was unmittelbar vor uns liegt. Wir achten darauf, dass wir genug zu essen und zu trinken haben, auch dass wir genug Geld und andere Dinge haben, die uns wichtig sind. Dabei neigen wir entweder zum Jammern, dass es zu wenig sei, oder wir sind ängstlich darauf bedacht, dass es uns nur ja niemand streitig mache. So kann aus unserer natürlichen Neigung, für unser Leben zu sorgen, ganz schnell eine egoistische Neigung werden, die dem Mitmenschen nicht ebensoviel gönnt.

Wenn Schafe vor sich auf ihren Weg sehen, dann nehmen sie die anderen Schafe um sich herum kaum wahr. Sie vergessen, dass sie Teil einer Herde sind, Teil einer Gemein­schaft. Es kümmert sie nicht, wenn andere Schafe leiden und Hilfe brauchen. Es kann auch geschehen, dass sich ein Schaf vor lauter Auf-den-eigenen-Weg-Sehen von der Herde entfernt und zu einem verirrten Schaf wird. Wir Menschen gleichen solchen Schafen: wir entfernen uns manchmal innerlich von der Gemein­schaft, in der wie leben, und sagen: Sollen die anderen doch zusehen, wo sie bleiben; ich muss für mich selbst sorgen. Auch darin zeigt sich eine egoistische Neigung: Wir schaffen es nicht, den Nächsten wirklich so zu lieben und ihm Gutes zu tun, wie wir uns selbst lieben und Gutes tun.

Wenn Schafe vor sich auf ihren Weg sehen und sich dabei von den anderen Schafen entfernen, dann entfernen sie sich damit zugleich von ihrem Hirten. Es scheint sie gar nicht besonders zu stören, wenn der Hirte sich nicht mehr in ihrem Gesichts­kreis befindet. Wir Menschen gleichen solchen Schafen: Wir schauen so intensiv auf die Welt, die uns umgibt, dass wir ihren Schöpfer und Erhalter gar nicht mehr richtig zur Kenntnis nehmen. Der gute Hirte interessiert uns immer weniger; wir werden gottlos. Manche Menschen­schafe kommen dabei sogar auf den absurden Gedanken, es gäbe überhaupt keinen Hirten. Andere sind vielleicht ganz froh, wenn sie ihn vergessen können, weil sie sich von ihm bevormundet oder kontrolliert fühlen. Sie misstrauen ihm; sie halten den guten Hirten für einen böswilligen Hirten. So zeigt sich bei uns nicht nur die unselige Neigung, dass wir unseren Nächsten nicht mehr lieben, sondern auch, dass wir Gott nicht mehr lieben.

Wenn Schafe nur auf ihren eigenen Weg sehen und sich dabei von den anderen Schafen und vom guten Hirten entfernen, dann nehmen sie auch die Gefahr nicht wahr, die neben dem Weg lauert. Sie sehen nicht, wie der Wolf seine Nase aus dem angrenzenden Wald steckt und sich schon die Lippen leckt nach seinem Opfer. Wir Menschen gleichen solchen Schafen. Wir unter­schätzen den Bösen und seine List; am liebsten denken wir gar nicht an ihn. Wir sind in Versuchungs­situationen viel zu naiv und meinen, so schlimm kann es doch gar nicht sein, wenn wir uns mal vom guten Weg der göttlichen Gebote entfernen und uns unsere Lebensregeln selber machen. Wir überhören Mahnungen und Warnungen, wie sie etwa der Apostel Petrus in seinem ersten Brief geäußert hat: „Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge“ (1. Petrus 5,8).

Ja, wenn wir unseren Lebenswandel im Licht von Gottes Wort betrachten, dann müssen wir dem Propheten recht geben: „Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg.“ doch danach folgt ein großes, befreiendes Aber: „Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn.“ Gott der Herr nahm uns unsere ganze Schuld ab und warf sie auf den Gottesknecht Jesus Christus. Der trug am Kreuz die unselige Folge davon, dass wir so oft nur den eigenen Vorteil vor Augen hatten. Der trug am Kreuz die unselige Folge davon, dass wir unsere Mitmenschen aus dem Blick verloren sowie auch ihn selbst, unseren guten Hirten. Der trug am Kreuz die unselige Folge davon, dass wir die Macht des Bösen unter­schätzten.

„Wie wunder­barlich ist doch diese Strafe! / Der gute Hirte leidet für die Schafe.“ Was Johann Heermann so herrlich gedichtet hat, ist nichts anderes als diese mehrfach wiederholte Botschaft im vierten Knecht-Gottes-Lied: „Der Herr warf unser aller Sünde auf ihn.“ Jesus selbst hat das ebenfalls verkündigt und dabei wieder das Bild vom Hirten und den Schafen gebraucht, denn auch zu seiner Zeit war dieses Bild ja allen Menschen vertraut. Jesus sagte: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ (Joh. 10,11) Gottes Knecht Jesus Christus ist kein Mietling, kein Mini-Jobber, dem es ums schnelle Geld geht, sondern ihm liegen die Schafe wirklich am Herzen.

Aber wie er sich für uns aufopfert, das übersteigt nun eigentlich den Vergleich mit einem Hirten. Ein anderer Vergleich muss her, und den haben wir hier in diesem Andachtsraum buchstäblich vor Augen: Es ist das Bild vom Gotteslamm. Ja, Christus, der gute Hirte, hat sich selbst zum Lamm gemacht, um als Sühnopfer für unsere Schuld zu sterben. „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld / der Welt und ihrer Kinder; / es geht und büßet mit Geduld / die Sünden aller Sünder.“ Und indem das Gotteslamm die Sünde der Welt trägt, schlägt es einen herrlichen Bindebogen zwischen dem himmlischen Vater und der verirrten Menschheit. Dieser Bindebogen ist der neue Bund, gegründet auf Christi Blut. In unserem Glasfenster ist dieser Bindebogen als Regenbogen dargestellt in Anlehnung an den ersten Bund, den Gott mit der Menschheit geschlossen hat, den Noah-Bund nach der Sintflut. Indem Christus diesen neuen Bund gestiftet hat, hat er die Herrschaft in Gottes neuem Reich angetreten. So wird der Gottesknecht zum Herrn, und das Gotteslamm wird wieder zum guten Hirten. „INRI“ lesen wir auf dem Sieges­banner, das an seinen Kreuzesstab geheftet ist; es die Inschrift, die sich wirklich an seinem Kreuz befunden hat. Diese Buchstaben bedeuten: „Jesus von Nazareth, König der Juden.“ Ja, der Gottesknecht ist unser Herr und König, das Gotteslamm aber ist unser Hirte.

Sündopfer wurden im alten Bundesvolk Israel vom Priester dargebracht. Wir wissen, dass die Bibel Christus auch einen Priester nennt, einen Hohen­priester sogar. Auch bei dieser Sichtweise können wir das Erstaunliche erkennen, dass aus dem Hirten ein Lamm wird: Christus ist ein Hoher­priester, der kein Tier und auch sonst nichts Fremdes als Sündopfer dargebracht hat, sondern er opferte sich selbst. Unser Hoher­priester ist zugleich das Opferlamm, das zur Sühnung unserer Schuld in den Tod gegeben wurde. Der Herr wurde zum Knecht, der Hirte zum Lamm und der Priester um Opfer, und so sind wir unsere Schuld los geworden.

Wenn wir das recht bedenken, dann werden wir das bei unserem künftigen Lebenswandel be­rücksichti­gen. Dann werden wir uns vornehmen, nicht mehr nur wie Schafe auf den unmittel­baren Weg vor unseren Füßen zu starren, teils sorgenvoll, teils egoistisch. Dann werden wir unsere Mitmenschen um uns herum wahrnehmen, auch gern zu unserm guten Hirten aufschauen und uns hüten vor dem Bösen, der uns auflauert. „Jesu, lehr bedenken mich / dies mit Buß und Reue; / hilf, dass ich mit Sünde dich martre nicht aufs Neue. / Sollt ich dazu haben Lust / und nicht wollen meiden, / was du selber büßen musst / mit so großem Leiden?“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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