Er war der Aller­verachtetste

Predigt über Jesaja 53,2-3 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

„Er nahm Knechts­gestalt an“, so schrieb der Apostel Paulus im Philipper­brief von Christus (Phil. 2,7). Der eingeborene Sohn des allmächtigen Vaters wurde zu einem Knecht der Menschen. Sein Dienst führte ihn ins Elend, ins Leid und schließlich in den Tod. Davon handelt auch das vierte Knecht-Gottes-Lied im Buch des Propheten Jesaja. Es prophezeit die Leiden des Erlösers – und zwar Jahr­hunderte, bevor er geboren wurde. In der deutschen Übersetzung klingen die Worte so, als sei das Geschilderte bereits geschehen. Damit hat der Prophet zum Ausdruck gebracht, dass es ganz gewiss geschehen werde, ohne Wenn und Aber, auch wenn es für ihn noch in ferner Zukunft lag.

Die beiden Verse aus dem Knecht-Gottes-Lied, die wir eben gehört haben, zeigen: Ein so erbärmlicher Knecht wird von den meisten Menschen verachtet. Sie wenden sich ab, sie laufen weg. Arm, un­ansehnlich, machtlos und krank ist der Gottesknecht – wer will mit so einem Menschen etwas zu tun haben? Liebe Brüder und Schwestern in Christus, lasst uns nicht weglaufen, sondern gerade in seinem Leiden ganz nah beim Gottesknecht bleiben. Dann werden wir erkennen, dass Gott uns durch ihn segnen und selig machen will.

Die Welt zieht es zu den reichen Menschen. Viele sagen sich: Wenn ich mich zu denen halte, die Geld haben, dann wird für mich auch etwas abfallen; und außerdem: Wer reich ist, ist auch einfluss­reich, das kann mir nützen. So kommt es, dass reiche Menschen viele Freunde haben – auch wenn sie gar nicht wirklich ihre Freunde sind.

Der Gottesknecht Jesus Christus dagegen war arm. Jesaja weissagte von ihm: „Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich.“ Wenn wir Jesus mit einer Pflanze vergleichen, dann war er kein kräftiger Baum, sondern nur ein kümmerliches Pflänzchen, keine herrliche Blume, sondern ein halb ver­trockneter Zweig in kargem Boden. Gewiss, er kam aus aus königlicher Familie, aus dem Geschlecht Davids, aus der Wurzel Isai. Aber zu seiner Zeit war diese Familie arm und bedeutungs­los. In einer Not­unterkunft kam er zur Welt, in einem Viehstall. Und auch später lebte er in Armut. Manchmal musste er sich von Getreide­resten ernähren, die nach der Ernte auf den Feldern stehen­geblieben waren. Und manchmal hatte er kein Dach über dem Kopf für die Nacht. Wer wollte schon gern sein Leben mit diesem armen Obdachlosen teilen?

Seine Jünger waren es, die das auf sich nahmen. Sie ließen sich auch nicht davon abschrecken, dass er sie aufrief, sich selbst zu verleugnen und das Kreuz aufzunehmen. Das wollen auch wir uns gesagt sein lassen. Wir wollen uns nicht vom armen Jesus abwenden, sondern es bei ihm aushalten. Wir wollen es auch dann tun, wenn sich diese Armut in unserem Leben, in unserer Gemeinde und in der Christenheit auswirkt. Aber wir wollen es nicht nur bei ihm aushalten, sondern wir wollen ganz bewusst seine Nähe suchen. Denn wir wissen ja, dass Gott die Verhältnisse der Welt auf den Kopf stellt: Nicht durch Reichtum, sondern durch Armut will er uns reich machen, durch seinen Knecht nämlich, den armen Spross aus dürrem Erdreich. Gerade an ihm zeigt sich: Diese Erlösung haben sich nicht Menschen ausgedacht; sie kommt vielmehr von Gott. Lasst uns darum bewusst und gern beim armen Gottesknecht bleiben und darauf vertrauen, dass er in Wahrheit reich ist und alle reich macht, die an ihn glauben.

Die Welt zieht es zu den schönen Menschen. Man schaut gern hin zu strahlenden Gesichtern und zu eleganter Kleidung. Schöne Prominente werden in der Öffentlich­keit oft von vielen Fans umringt. Die Werbung und die Medien sind voller bunter Bilder von schönen Menschen. Und nicht wenige scheu­en weder Kosten noch Mühe, um selbst schön auszusehen und die bewundernden Blicke anderer auf sich zu ziehen.

Der Gottesknecht dagegen war un­ansehnlich. Jesaja weissagte von ihm: „Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.“ Als er nach einer bösen Nacht geschunden vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus stand, da sagte dieser verächtlich: „Seht, welch ein Mensch!“ (Joh. 19,5) Viele sahen lieber weg; auch die meisten Jünger waren geflohen. Sie wollten nicht den blutigen Kopf unter der Dornenkrone sehen, auch nicht die roten Streifen der Peitschen­hiebe auf Jesu Rücken. Wer hält schon einen so hässlichen Anblick aus?

Ein Jünger wenigstens war noch geblieben, Johannes. Er hielt es sogar noch am Kreuz aus, wo das letzte Bisschen Schönheit vom Gottesknecht gewichen war und wo man ihm alle Kleider genommen hatte. Auch wir wollen das aushalten: den Anblick des un­ansehn­lichen, dorn­gekrönten, gekreuzigten Jesus. Wir wollen unsere Kruzifixe nicht beiseite schaffen und durch schönere Kunstwerke ersetzen, wie es heute vielerorts geschieht. Und wir wollen den Anblick des Gekreuzigten nicht nur einfach ertragen, sondern wir wollen ihn tief in unser Herz aufnehmen. Wir wissen ja: Da hat uns der Gottesknecht selig gemacht. Wenn wir das beachten und zugleich an Ostern denken, dann können wir sogar unterm Kreuz anbetend singen: Schönster Herr Jesu – du bist schöner als Blumen, Bäume, Menschen, Sonne und Mond!

Die Welt zieht es zu den mächtigen Menschen. Sie vermitteln die Illusion, dass man bei ihnen sicher und geborgen ist. Und wer Machthaber zu Freunden hat, der kann seinerseits andere damit beeindrucken und Macht über sie ausüben. In der Hand der Mächtigen scheint das Geschick der Welt zu liegen, denn sie haben Zugang zu den Schalthebeln der Macht.

Der Gottesknecht dagegen war machtlos, jedenfalls dem äußeren Anschein nach. Die Machthaber seiner Zeit verachteten ihn und verfolgten ihn sogar. Jesaja weissagte: „Er war der Aller­verachtetste und Un­werteste… Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg…“ Ohne Gegenwehr ließ er sich festnehmen. Stumm hörte er die Anklagen des Hohen Rats an. Klaglos ließ er Spott und Folterungen über sich ergehen. Wider­spruchslos nahm er das Todesurteil aus dem Mund des Pontius Pilatus entgegen. Und als man ihn ans Kreuz nagelte, tat er nichts anderes, als seinen Henkern zu vergeben. Was soll uns ein so machtloser Messias nützen?

Wie gesagt: Johannes war der einzige der zwölf Jünger, der bis zum bitteren Ende am Kreuz bei Jesus ausharrte. Auch wir wollen uns von seiner scheinbaren Machtlosig­keit nicht abschrecken lassen. Zwar ist das Kreuz den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit, den Moralisten ein Stein des Anstoßes und dem aufgeklärten modernen Menschen un­verständ­lich, aber uns ist und bleibt Christi Kreuz eine Gotteskraft. Wieder sehen wir, wie bei Gott die Verhältnisse der Welt auf dem Kopf stehen: Es hat ihm mit dem Gottesknecht gefallen, sich durch Machtlosig­keit mächtig zu erweisen und den Teufel zu besiegen. Ja, er siegt mit seiner Rechten, auch und gerade wenn diese Rechte ebenso wie die Linke an einen Holzbalken festgenagelt ist. Wir wollen es bei diesem scheinbar machtlosen Mann am Kreuz aushalten. Ja mehr noch: Wir stehen hoffnungs­voll unterm Kreuz, weil wir wissen, dass hier unsere Sünde gesühnt und der Tod besiegt wird. Wir bleiben beim Kreuz und wissen, wer da in Wahrheit hängt: tatsächlich der König der Juden, wie die Überschrift „INRI“ spöttisch verkündet, und mehr noch: der König aller Könige, der Sohn des allmächtigen Gottes.

Die Welt zieht es zu den gesunden Menschen. Wer in Kopf und Körper fit ist, wer schneller rennt und höher springt als andere, der gewinnt die Bewunderung vieler. Und die Alten, die gesundheit­lich nicht mithalten können mit der Jugend, die wiederholen sehnsüchtig den beliebten, aber dennoch falschen Satz: Hauptsache gesund!

Der Gottesknecht dagegen war krank. Jesaja weissagte von ihm: „Er war voller Schmerzen und Krankheit.“ Er schwitzte und blutete. Als er den Kreuzes­balken nach Golgatha tragen sollte, brach er entkräftet unter dieser Last zusammen. Man möchte wegsehen – so wie man es kaum aushält, in der Nähe bestimmter Kranker zu sein: Leprakranke zum Beispiel, oder Menschen mit schweren Ver­brennungen, oder Sterbende. Nur wenige haben die Kraft auszuharren. Nur wenige haben wirklich Zeit für Schwer­kranke, nur wenige flüchten nicht in irgendwelche Beriebsam­keit. Wir werden noch von Jesaja hören, dass es die Krankheit aller Krankheiten war, die auf Jesus lastete: unsere Sünden­krankheit – der Schmerz der Gottes­entfremdung, der auf der ganzen Menschheit lastet. Wie mit einem Brennglas wird alles Leid der Welt auf diesen einen Mann am Kreuz gebündelt. Es ist zum Davonlaufen!

Aber wir bleiben unter dem Kreuz, bleiben da wie der Jünger Johannes. Wir halten es nicht nur aus, dass Jesus alle Schmerzen und Krankheit trägt, sondern wir suchen dankbar seine Nähe, denn wir wissen: Hier nimmt er uns das Schlimmste all unserer eigenen Krankheiten und Schmerzen ab, die Gott­verlassen­heit nämlich. Wir preisen ihn dafür und wir beten ihn an. Und wir bleiben nicht am Kreuz stehen, sondern wir gehen mit ihm weiter, hin zu Ostern: Da ersteht er auf von den Toten, gesund und munter, mit einem kräftigen und verklärten Auf­erstehungs­leib, der nie mehr krank werden, altern und sterben wird.

„Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet“, so weissagte Jesaja vom Gottes­knecht. Liebe Brüder und Schwestern in Christus, lasst uns nicht vor ihm weglaufen, sondern gerade in seinem Leiden ganz nah bei ihm bleiben. Dann werden wir erkennen, dass Gott uns durch diesen Gottesknecht segnen und ewig selig machen will. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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