Die Sünde, der Sohn Gottes und der Sabbat

Predigt über Lukas 13,10-17 zum 12. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ein Mediziner könnte die Diagnose stellen, dass die Frau in unserer Geschichte unter eine starken Skoliose litt, einer Verkrümmung der Wirbelsäule. Nun bin ich kein Mediziner und würde als Theologe eher die Diagnose stellen, dass die Frau unter der Awon-Krankheit litt. Von der habt ihr wahr­scheinlich noch nie etwas gehört, und auch den meisten Medizinern dürfte sie unbekannt sein. Ich werde gleich auf diese geheimnis­volle Awon-Krankheit zurück­kommen. Lasst mich aber zunächst einmal ver­anschau­lichen, was damals geschah.

Jesus geht wie gewohnt am Sabbat in die Synagoge. Dort ergreift er das Wort und legt die Heilige Schrift aus. Jeder jüdische Mann durfte damals in der Synagoge nach vorn kommen, auf einem erhöhten Sockel aus den Schrift­rollen des Alten Testaments lesen und ein paar Worte dazu sagen. Der Synagogen­vorsteher saß ebenfalls auf diesem Sockel und achtete darauf, dass alles in rechter Ordnung vonstatten geht. Nun war die Synagogen­gemeinde nach Männern und Frauen getrennt, so wie das früher auch bei uns in vielen Dorfkirchen Sitte war. Die jüdischen Männer hielten sich im Bereich vor dem Sockel auf, während sich die Frauen auf der Empore befanden und von oben zuschauten. In der Synagoge, in der Jesus redet, ist nun also diese Skoliose-Patientin anwesend. Als Jesus mit seiner Predigt fertig ist, macht er etwas sehr Un­gewöhn­liches: Er blick hinauf zur Frauen-Empore und fordert die behinderte Dame auf, zu ihm nach vorn zu kommen. Unter dem Getuschel der Anwesenden tut sie das: Mühsam quält sie sich die Treppe hinab und begibt sich zu Jesus. Ihr Oberkörper ist weit nach vorn geneigt, und sie muss ihren Kopf in den Nacken legen, um Jesus anzusehen. Alle sind gespannt, was nun geschehen wird.

Bis hierher ist diese Geschichte eine Geschichte über die Sünde. Wieso? Da komme ich auf die Awon-Krankheit zurück. Awon ist ein hebräisches Wort, das im Alten Testament häufig gebraucht wird. Es wird meistens mit „Sünde“ übersetzt, bedeutet aber wörtlich „Ver­krümmung“. Dieses Wort taucht zum Beispiel im 38. Psalm auf. Da steht: „Meine Sünden gehen über mein Haupt; wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden… Ich gehe krumm und sehr gebückt; den ganzen Tag gehe ich traurig einher.“ (Psalm 38,5.7) Die Sünde, die die Menschheit seit Adam mit sich herum­schleppt, drückt wie eine schwere Last auf den Rücken und macht die Wirbelsäule immer krummer. Ein Sünder ist in biblischer Sicht also nicht nur Täter, sondern auch Opfer: Er belastet sich mit seiner Sünde letztlich selbst; er ist in sich selbst verkrümmt; er kann nicht mehr gerade gehen und den Mitmenschen nur noch mühsam in die Augen sehen. Auch zieht die Sünde einen ganzen Ratten­schwanz von Leid und Krankheit nach sich, und schließlich führt sie zum Tod. All das bildet sich zeichenhaft in der Skoliose-Patientin unseres Predigt­textes ab. Nicht, dass diese Frau eine schlimmere Sünderin gewesen wäre als du und ich. Aber an ihr wird äußerlich sichtbar, wie es dem unerlösten Sünder geht: Er ist schwer belastet und in sich verkrümmt; er kann sich nicht aus eigener Kraft aufrichten. Darum stellt der Arzt und Evangelist Lukas auch eher so etwas wie eine theologische als eine medizinische Diagnose: Er schreibt, dass die Frau „einen Geist hatte, der sie krank machte“, und: „Der Satan hat sie gebunden“. Diese Frau ist ein offkundiges Gleichnis der Awon-Krankheit und Sünden-Skoliose, unter der wir alle leiden – egal, ob das anderen an uns auffällt oder nicht, und egal, ob wir das selbst merken oder nicht. Auch die einzig wirksame Therapie ist dieselbe.

Achten wir also darauf, welche Therapie die Frau gesund macht. Als sie vor Jesus steht, sagt er: „Frau, sei frei von deiner Krankheit!“ Dabei legt er seine Hände auf sie. Da wird die Kranke plötzlich gesund: Ihre Muskeln straffen sich, der Kopf hebt sich, der Rücken wird gerade, sie steht als ganz normale und gesunde Frau vor dem Herrn. Außer sich vor Freude spricht sie ein Dankgebet und springt dann die Treppe hinauf zur Frauen-Empore.

Hier wird nun aus der Geschichte über die Sünde eine Geschichte über den Sohn Gottes. Denn Jesus ist derjenige, der den Teufel entmachtet und die Awon-Krankheit beziehungs­weise Sünden-Skoliose heilt – bei der Frau in der Synagoge und bei uns allen. Seine Therapie ist grund­sätzlich immer dieselbe: Er heilt mit seinem Wort. So sagt er zu der Behinderten: „Frau, sei frei von deiner Krankheit“, und das Wort wirkt, was es sagt: Es macht sie gesund. Ebenso sagte Jesus zum Lepra-Kranken: „Sei rein!“, und zum Blinden: „Sei sehend!“, und zum Ohr des Gehörlosen: „Hefata – tue dich auf!“, und zu einem Leichnam: „Jüngling, ich sage dir stehe auf!“ Es ist der Schöpfer persönlich, der hier in Menschen­gestalt sein schöpfe­risches Wort spricht – das Wort, das aus nichts etwas machen kann; das Wort, das das Verkrümmte gerade und das Böse gut machen kann. Und so spricht der Sohn Gottes noch heute, spricht zu mir und zu dir immer wieder und auf vielfältige Weise: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ Oft ist das Wort von äußeren Zeichen begleitet wie zum Beispiel Hände-Auflegen. Im Heiligen Abendmahl rührt Jesus auch uns heute leiblich an, kommt zu uns mit seinem Leib und Blut. Er sagt auch zu uns: Richte dich auf, sei geheilt von deiner Sünden-Verkrümmt­heit, sei rein, sei gerecht und heilig! Und das Wunder geschieht: Wir werden frei von der Last unserer Schuld. Wie die geheilte Frau sprechen wir dann Dankgebete und singen Loblieder.

Aber die Geschichte ist noch nicht zuende. Wir erfahren, dass der Synagogen­vorsteher sich sehr über Jesu Heilen ärgert. Er meint, seines Amtes walten zu müssen, und sagt ein paar mahnende Worte – nicht zu Jesus selbst, das wagt er wohl nicht, sondern zu der versammelten Gemeinde: Leute, sagt er, das geht nicht, dass ihr euch am Sabbat medizinisch behandeln lasst. Die Woche hat sechs Arbeitstage, an denen könnte ihr zum Arzt rennen, so oft ihr wollt, aber nicht am siebenten Tag, denn den hat Gott als Ruhetag geheiligt. Einige der anwesenden Frommen pflichten ihm bei. Da nennt Jesus sie Heuchler und sagt: „Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder seinen Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke? Sollte dann nicht diese, die doch Abrahams Tochter ist, die der Satan schon achtzehn Jahre gebunden hatte, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden?“

So ist diese Geschichte nicht nur eine Geschichte über die Sünde, sondern auch über den Sabbat, und darüber, wie der Sohn Gottes über beides Herr ist, sowohl über die Sünde als auch über den Sabbat. Das dürfem wir allerdings nicht so verstehen, dass Jesus sich einfach über das dritte Gebot hinwegsetzt. Der Sohn Gottes könnte das zwar, denn als Gesetzgeber ist er nicht an das Gesetz gebunden, aber als Mensch hat er sich dem göttlichen Gesetz völlig unterworfen. Er lehrt uns hier jedoch, wie man Gottes Gesetz recht verstehen soll: nämlich nicht stur schematisch, sondern so, dass darin die Liebe tätig wird. Im Hinblick auf Haustiere war das den Juden damals selbst­verständ­lich: Mann führte seinen Ochsen und seinen Esel auch am Sabbat zur Tränke, damit die armen Tiere nicht Durst leiden müssen. Wieviel wertvoller aber ist ein Mensch – auch diese Abrahams­tochter, diese Frau aus Gottes Volk, die so lange leiden musste! Wer wollte ernsthaft verlangen, dass sie nur um einer sturen Gesetzlich­keit willen auch nur einen Tag länger leiden muss? Nein, die Nächsten­liebe gebietet geradezu, auch am Sabbat Gutes zu tun. Wer am Sabbat in eine Situation kommt, wo er seinen Mitmenschen etwas Gutes tun kann, und tut es nicht mit Verweis auf das dritte Gebot, der hat nicht begriffen, wozu Gott die Gebote gemacht hat und wie er sie gemeint hat. Bei einer anderen Gelegenheit erklärte Jesus: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Markus 2,27).

Von drei Dingen handelt unsere Geschichte also: von der Sünde, vom Sohn Gottes und vom Sabbat. Und wenn wir uns das gesagt sein lassen und an den Sohn Gottes glauben, dann wird sich bei uns Freude darüber einstellen – die rechte krisenfeste Evangeliums­freude. Darum heißt es abschließend von den Menschen, die damals mit Jesus in der Synagoge waren und auf seiner Seite standen: „Alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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