Das Prinzip der Glaubensgerechtigkeit

Predigt über Römer 9,31 – 10,4 zum 10. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ein Mensch steht am Rand eines Flusses und will hinüber. Er hat zwei Möglich­keiten: Entweder er schwimmt, oder er benutzt eine Brücke. Die beiden Möglich­keiten lassen sich nicht kombinieren; er kann nicht teilweise schwimmen und teilweise gehen. Es gilt ein Entweder-Oder: Entweder er versucht es ohne fremde Hilfe mit Schwimmen, oder er nimmt die Brücke zuhilfe. Also: Entweder er handelt nach dem Prinzip Selbsthilfe oder nach dem Prinzip Fremdhilfe.

Dieses Bild macht das Hauptthema des Römerbriefs anschaulich. Auch im Brief des Apostels Paulus an die Römer geht es um ein Entweder-Oder beziehungs­weise um zwei Prinzipien, die sich nicht miteinander kombinieren lassen: das Prinzip der Werk­gerechtig­keit und das Prinzip der Glaubens­gerechtig­keit. Alles aber steht unter der großen Frage, die auch Martin Luther umtrieb und die jeden Menschen umtreiben sollte: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Mit anderen Worten: Wie kann ich es Gott recht machen? Wie kann ich zu Gott kommen und bei ihm bleiben? Wie kann ich erreichen, dass Gott mich nicht abschiebt wie einen abgelehnten Asyl­bewerber?

Alle Religionen antworten darauf: Gib dir Mühe! Streng dich an! Versuche mit ganzer Kraft, Gott zu gefallen! Wenn wir einen frommen Muslim fragen würden, dann würde er sagen: Lebe nach den Regeln des Islam! Und wenn wir einen frommen Juden fragen würden, dann würde er erwidern: Erfülle Gottes Gesetz aus dem Alten Testament! Es ist so, als ob sie dem Menschen am Rand des Flusses zuriefen: Wenn du rüber willst, dann musst du zur Selbsthilfe greifen, dann musst du schwimmen! Auch Martin Luther hätte so geantwortet – jedenfalls vor dem Jahr 1513. In diesem Jahr jedoch machte er beim Studium des Römerbriefes eine wunderbare Entdeckung. Luther fand heraus, dass Gott durch den Apostel Paulus und durch die ganze Heilige Schrift einen anderen Weg aufzeigt, ein anderes Prinzip der Erlösung: nicht das Prinzip der Werk­gerechtig­keit, sondern das Prinzip der Glaubens­gerechtig­keit. Kein Mensch ist in der Lage, den „Fluss“, der uns unheilige Sünder vom heiligen Gott trennt, mit Schwimmen zu durchqueren. Aber es gibt eine Brücke, auf der wir hinüber­kommen können. Diese Brücke heißt Jesus Christus. Gott selbst hat sie für uns gebaut. An Jesus glauben heißt über diese Brücke gehen und zu Gott finden. Das ist das Ende aller her­kömmlichen Religion und der Anfang des wahren, rettenden Glaubens. Nun lautet die Devise nicht mehr: Streng dich an!, sondern: Lass dich beschenken! Martin Luther hat diese Erkenntnis überwältigt. Vorher hatte er sich mit Fasten und harter Mönchs-Disziplin beinahe kaputt gemacht. Aber er musste feststellen, dass er mit dem Prinzip der Werk­gerechtig­keit nicht weiterkommt. Als er dann das Prinzip der Glaubens­gerechtig­keit entdeckte, kam es ihm vor, als wäre er neu geboren und würde durch offene Türen ins Paradies treten.

Der Apostel Paulus hat sich in drei Kapiteln des Römerbriefes besonders mit den Juden beschäftigt. Es sind die Kapitel neun bis elf; in ihnen steht auch unser Predigttext. Paulus hat diesen Abschnitt mit viel Kummer geschrieben. Er war ja selbst ein Jude und hatte großes Mitleid mit seinen vielen Stamm­verwandten, die Christus ablehnten und nach dem Prinzip der Werk­gerechtig­keit selig werden wollten. In der Einleitung dieses Briefteils schreibt er: „Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht…, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stamm­verwandten sind nach dem Fleisch…“ (Römer 9,1‑3). Und in unserem Predigttext schreibt er tief bewegt: „Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist, und ich flehe auch zu Gott für sie, dass sie gerettet werden.“

Gleich anschließend bescheinigt Paulus den Juden allerdings Eifer für Gott. Dieser Eifer ist durchaus lobenswert. Es wäre schön, wenn alle Menschen Eifer für Gott hätten. Es wäre schön, wenn alle Menschen in Gemeinschaft mit Gott leben und ihn ehren wollten. Es ist beschämend, wie wenig Menschen in unserer Zeit und in unserem Land Eifer für Gott haben. Es scheint den meisten egal zu sein, ob sie einen gnädigen Gott kriegen oder nicht. Es scheint den meisten egal zu sein, ob sie in Gottes Augen recht sind oder nicht. Im Bild gesprochen: Erschreckend viele haben überhaupt kein Interesse, auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. In dieser Hinsicht sind alle frommen Juden damals und heute vorbildlich, und ebenso alle frommen Muslime, und überhaupt alle Frommen in den ver­schiedenen Religionen: Sie haben Eifer für Gott; sie suchen Gottes Wohlgefallen und Gottes Nähe.

Aber aller Eifer ist vergeblich, wenn er in die falsche Richtung zielt. Im Blick auf seine jüdischen Zeitgenossen urteilt Paulus: „Sie haben Eifer für Gott, aber ohne Einsicht.“ Für „Einsicht“ steht da ein Wort, dass Paulus auch gern im Zusammenhang mit dem Glauben verwendet. Die Juden, so stellt er fest, eifern nach dem falschen Prinzip, nämlich nach dem Prinzip der Werk­gerechtig­keit, nicht nach dem Prinzip der Glaubens­gerechtig­keit. Sie wollen mit dem Sinai-Bund selig werden, dem Gesetzes­bund, der nur denen Heil und Leben verspricht, die die Forderungen des Gesetzes erfüllen. Aber sie scheitern an diesen Forderungen. Paulus schreibt: „Israel hat nach dem Gesetz der Gerechtig­keit getrachtet und hat es doch nicht erreicht. Warum das? Weil es die Gerechtig­keit nicht aus dem Glauben sucht, sondern als komme sie aus dem Werken.“ Israel wählte mit Eifer das falsche Prinzip, das Prinzip der Werk­gerechtig­keit. Sie wollen gewisser­maßen das andere Ufer schwimmend erreichen und gehen dabei unter. Sie sehen die Brücke nicht, die Gott selbst ihnen gebaut hat: den neuen Bund – Jesus Christus und sein Opfer am Kreuz. Ja, sie verachten dieses Bauwerk sogar und halten es für ein Werk des Teufels. So erfüllt sich die Prophe­zeiung: „Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärger­nisses.“ Auch Paulus selbst hat lange Zeit in die falsche Richtung geeifert und die Christen aus diesem Grund mit glühendem Hass verfolgt. Aber dann ist ihm Christus persönlich begegnet, und er hat erkannt: Gerade das, woran die Juden Anstoß nehmen und worüber sie sich ärgern, kann ihnen über den Fluss helfen zur lebendigen Gemeinschaft mit Gott und zur ewigen Seligkeit – das Prinzip des Glaubens­gerechtig­keit. Das Propheten­wort mündet daher in die Verheißung: „Wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.“

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, lasst uns bedenken, was das heute bedeutet – für uns selbst, aber auch für unser Verhältnis zu anderen Menschen und zu Anders­gläubigen, nicht zuletzt zu den Juden.

Für uns selbst ist das nicht schwer: Wir können Gott gar nicht genug loben und danken dafür, dass er uns seinen Sohn Jesus Christus geschenkt hat, und mit ihm das Prinzip der Glaubens­gerechtig­keit. Wir sind erlöst von allen vergeblichen Bemühungen, uns durch eigene Leistungen Gott anzunähern und seine Zuwendung zu verdienen. Wir haben die Brücke der Gnade, das Prinzip der Glaubens­gerechtig­keit. Wie Luther können wir uns damit wie neu geboren fühlen, ja, wir sind neu geboren – wieder­geboren aus Wasser und Geist durch die heilige Taufe. Und wie Luther können wir uns riesig darüber freuen, dass uns nun die Türen zum Paradies offen stehen.

Was unsere Mitmenschen anbetrifft, so sollte uns ihr Heil nicht gleichgültig sein – ebensowenig, wie Paulus das Heil seiner Stamm­verwandten gleichgültig war. Auch wir sollten den Herzens­wunsch haben, dass doch recht viele Menschen aus unserer Umgebung nicht nur Eifer für Gott entwickeln, sondern diesen Eifer auf in die richtige Richtung lenken. Freilich können wir das nicht erzwingen, weder mit Gewalt noch mit irgend­welchen Tricks. Aber wir können und sollen dafür beten, und wir können auf die Brücke hinweisen, die allen Menschen offen steht, um zu Gott zu gelangen: Jesus Christus und seine Erlösung.

Was schließlich unser Verhältnis zu den Juden angeht, so liegen die Dinge etwas anders als bei Paulus. Wir selbst sind keine Juden, und aufgrund der furchtbarene Juden­verfolgungen in der Vergangen­heit haben wir als Deutsche auch kein unbelastetes Verhältnis zu ihnen. Manche Christen meinen daher, es verbietet sich, unter Juden Mission zu treiben. Einige denken auch, dass die Juden doch sowieso schon Gottes Volk sind und es daher gar nicht mehr nötig haben, zu ihm zu finden. Wer so denkt, hat Paulus nicht richtig verstanden und die beiden Prinzipien, die einander aus­schließen: Die Werk­gerechtig­keit und die Glaubens­gerechtig­keit. Zudem gibt es heutzutage viele Juden, die nicht einmal mehr Eifer für Gott haben, sondern völlig weltlich leben wie die meisten Deutschen und viele andere auch; ihr Judentum ist nicht viel mehr als die Zugehörig­keit zu einem bestimmten Volk. Sie müssen neu lernen, wie wichtig es ist, einen gnädigen Gott zu finden. Aber es gibt auch heute noch viele fromme Juden, die zwar für Gott eifern, dabei aber auf das Prinzip Werk­gerechtig­keit setzen. Für sie gilt nach wie vor das, was Paulus geschrieben hat: Sie haben Eifer ohne Einsicht, also ohne rechte Glaubens­erkenntnis. Aber, Gott sei Lob und Dank, es gibt auch die Juden, die das Prinzip der Glaubens­gerechtig­keit gefunden haben: Sie glauben an Jesus Christus als ihren Messias und nennen sich deshalb manchmal „messiani­sche Juden“. So betrübt Paulus über seine falsch eifernden Volksgnossen war, so sehr könnte er sich über die messiani­schen Juden freuen, die wie er zum Glauben an den Heiland gelangt sind. Mit ihnen sind wir ganz eins in Gottes ewigem Volk, wie Jesus selbst prophezeit hat: „Es wird eine Herde und ein Hirte sein“ (Joh. 10,16). Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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