Der Kutscher des Kämmerers

Predigt über Apostelgeschichte 8,26-39 zum 6. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wir haben eben gehört, unter welchen Umständen der erste Äthiopier der Welt getauft wurde. Er war ein sehr reicher und ebenso einfluss­reicher Mann – ein Minister der äthiopischen Königin, ihr Schatz­meister, ihr Kämmerer. Ein großer räumlicher, zeitlicher und kultureller Abstand trennt uns heute von diesem Ereignis. Dennoch hat uns der biblische Bericht auch heute noch Wichtiges über den christlichen Glauben und über die Taufe zu sagen. Manchmal kann man so einen räumlich-zeitlichen Abstand mit einem Perspektiv­wechsel überbrücken. Lasst uns deshalb jetzt das Ereignis aus einer un­gewöhn­lichen Perspektive betrachten, aus der Perspektive des Kutschers nämlich. Wie heutzutage die meisten Finanz­minister einen eigenen Chauffeur haben, so wird der äthiopische Kämmerer damals seinen eigenen Kutscher gehabt haben; er selbst war ja auf dem Reisewagen in ein Schriftstück vertieft. Lassen wir also diesen Kutscher nun zu Wort kommen. Ungefähr so könnte sein Bericht lauten:

Mein Dienstherr, der großmächtige Schatz­meister unserer erhabenen Königin, hatte sich vorgenommen, eine Reise ins ferne Jerusalem zu unternehmen. Mich hatte er dazu ausersehen, seinen persönlichen Reisewagen zu lenken. Zunächst wurden umfangreiche Vor­bereitungen getroffen. Dann brachen wir auf – ein stattlicher Zug von Dienern, Soldaten, Reitern und Gepäckwagen. Eine weite Strecke war zu bewältigen von Äthiopien über Ägypten nach Israel, mehr als dreißig Tagereisen. Warum wollte mein Dienstherr diesen beschwer­lichen Weg auf sich nehmen? Er sagte, er wollte im berühmten Jerusalemer Tempel den Gott Israels anbeten. Aber ich vermute, dass er mehr von dieser Reise erwartete: Bestimmt wollte er einmal Abstand gewinnen von seinen nerven­zehrenden Ver­pflichtun­gen. Und wie alle Menschen trieb ihn auch die Frage um, welcher Gott denn der wahre ist. Dass die primitiven Götzen unserer Vorfahren und auch die allzu menschlichen Götter der Griechen dafür nicht in Frage kommen, liegt auf der Hand; die Philosophen und Gebildeten unserer Zeit haben diese Märchen­gestalten ja schon längst verworfen. Aber der unsichtbare Gott der Juden, der Himmel und Erde gemacht hat, der fasziniert viele. So hatte sich auch mein Dienstherr mit ihm beschäftigt und viele Erkundi­gungen über ihn eingeholt. Darüber­hinaus besaß er eine stattliche Anzahl von Hand­schriften mit philo­sophischen und religiösen Texten, jede einzelne von ihnen mehr wert, als ich in einem ganzen Jahr Lohn kriege. Mit dieser Reise, so meine ich, wollte sich mein Herr Klarheit über den Gott Israels verschaffen.

Wir hatten uns dann mehrere Tage in Jerusalem aufgehalten. Laut war es gewesen in der heiligen Stadt. Überall wimmelte es von Menschen aus aller Herren Länder, vor allem im Tempel. Offenbar haben viele die Hoffnung, dass ihre Sinnsuche beim Gott Israels ans Ziel kommt. Allerdings sind Nicht-Juden dort nur als Zaungäste zugelassen; sogar mein einfluss­reicher Dienstherr kam nur bis zum Vorhof der Heiden. Dort betete er, spendete Geld, diskutierte mit Theologen und kaufte sich natürlich eine weitere teure Schriftrolle für seine Sammlung. Dieses „Reise­andenken“ wuchs ihm besonders ans Herz: Die ganze lange Rückfahrt über vertiefte er sich in den Text. Es handelte sich um die griechische Übersetzung einer Sammlung alter hebräischere Prophetenworte. Jesaja hieß der Prophet, und er ist schon seit mehreren hundert Jahren tot. Aber mein Dienstherr meinte, dass er noch nie so tiefe Gedanken über Gott so wortgewaltig ausgedrückt gefunden hat.

Auf der Rückreise hatten wir dann ein Erlebnis, das meinen Dienstherrn mehr beeindruckt und verändert hat als die Tage im Tempel und die gesamte Reise davor. Wir fuhren gemächlich durch die karge Wüsten­landschaft des judäischen Berglands. Die Straße verlief von Jerusalem in unzähligen Windungen nach Südwesten in Richtung Gaza. Mein Dienstherr nahm kaum etwas von der Landschaft wahr, denn er hatte nur Augen für seine Schrift­rolle. Halblaut murmelte er die heiligen Worte vor sich hin, überlegte dann ein wenig, wiederholte den Satz, las weiter. Da kam ein Wanderer mit zügigem Schritt hinter unserem Wagen her. Manche Leute haben es so eilig, dass sie zu Fuß schneller sind als unser gemächlicher Karren. Ich dachte, der Mann würde uns nun überholen, aber er lief auf Höhe des Wagens mit und schien sich offenbar dafür zu interes­sieren, was mein Herr las. Nach einer Weile sprach er meinen Herrn mit gepflegtem Griechisch an und fragte: „Verstehst du auch, was du da liest?“

Was für eine Frage – fast ein bisschen indiskret und unhöflich! Schließlich sieht man meinem Dienstherrn doch an, dass er kein Dummkopf ist. Mein Herr blickte auf, aber er war keineswegs verärgert. Jedenfalls hätte es ihn bestimmt mehr gestört, wenn ihn der Fremde mit irgend­welchem belanglosen Geschwätz belästigt hätte. Und als ob der Fremde es geahnt hatte: Tatsächlich war mein Herr gerade an eine schwierige Stelle in seinem Buch geraten, die er nicht verstand. Darum erwiderte er freundlich: „Wie kann ich das verstehen, wenn mich nicht jemand anleitet?“ Eigentlich sagte er: „…wenn mir nicht jemand den Weg weist“. Wie man in un­übersicht­lichen Gegenden einen ortskundigen Fremden­führer oder Lotsen nötig hat, um den richtigen Weg zu finden, so benötigte mein Herr jetzt gewisser­maßen einen Fremden­führer oder Lotsen für das unbekannte Gelände seiner Propheten­schrift. Mit heiligen Texten ist das ja so eine Sache: Sie leuchten meistens nicht unmittelbar ein. Ohne Verstehens­hilfe kann man sich da ganz gehörig in der Bedeutung vertun. Sogar die Schrift­gelehrten sind sich oft nicht sicher, und ihre Meinungen wider­sprechen sich. Wenn man einen heiligen Text richtig verstehen will, dann braucht man nicht nur theo­logischen Sach­verstand, sondern dann braucht man auch die Hilfe von Gott selbst, von Gottes Geist. Der Fremde strahlte etwas aus, das meinen Herrn hoffen ließ: Der könnte Gottes Geist und genug Sachverstand haben, um mir die Worte des Propheten richtig auszulegen. Darum lud mein Herrn den Fremden ein, ein Stück auf dem Wagen mitzufahren und mit ihm über das Gelesene zu reden. Ich hielt an, der Fremde stieg zu und stellte sich mit dem Namen Philippus vor.

Mein Dienstherr las dem Philippus die Stelle vor, an der er gerade hängen­geblieben war: „Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weg­genommen.“ Mein Herr fragte Philippus: „Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem?“ Ich muss sagen, das auch mir das nicht klar war. Zwar spürte ich, dass dies ganz besonders wichtige Worte waren, aber ich hatte keinen Zugang zu ihnen – wohl noch viel weniger als mein Herr. Diese Sätze kam mir vor wie ein schönes, reich verziertes Schatz­kästchen, aber es war ver­schlossen, und so blieb verborgen, was es enthielt. Nun begann Philippus zu reden. Was er sagte, das bestärkte mich in meinem Eindruck: Dieser Mann ist nicht nur ein Schrift­gelehrter, sondern er hat auch Gottes Geist, um heilige Worte richtig zu deuten. Philippus erzählte von Jesus von Nazareth, der kürzlich in Palästina als Rabbi aufgetreten war, und erklärte, dass Jesajas Worte von diesem Mann handeln. Bereits Jahrhunderte zuvor hatte Gott dem Propheten gezeigt, dass er seinen Sohn als Erlöser senden werde, und in Jesus hat sich die Weissagung erfüllt. Während Philippus von Jesus erzählte, war mir, als ob er damit das Schatz­kästchen der Propheten­worte aufschloss und herrliche, kostbare Edelsteine zum Vorschein kamen. Jesus, sagte Philippus, ist dieses Opferlamm, das Gott selbst der Welt geschenkt hat. Denn obwohl Jesus unschuldig war, hat man ihn wie einen Verbrecher am Kreuz hin­gerichtet. Er hat es stumm und willig wie ein Opferlamm über sich ergehen lassen – und so die Sündenschuld der ganzen Welt auf sich genommen. Dann hat Gott ihn wieder vom Tod erweckt, und er ist vielen Zeugen erschienen. Auch hat er Apostel ausgesandt, die die frohe Botschaft von Gottes Erlösung überall verkündigen sollen. Philippus erklärte: So ist es gekommen, dass viele Menschen im ganzen Umland seine Anhänger geworden sind. Die Vergebung der Sünden, die Jesus am Kreuz erworben hat, ist ihnen mit der Taufe persönlich zugeeignet worden. Ja, mit den Worten des Philippus tat sich das Schatz­kästchen der Jesajaworte auf, und nicht nur das: Mir war so, als täte sich darüber hinaus eine große Schatz­kammer auf, gefüllt mit nie gekannten Werten. Der Schlüssel aber war in jedem Fall Jesus – der hat nicht nur die heilige Schrift auf­geschlossen, sondern auch eine Schatzkammer voll Lebenssinn, nach dem sich mein Herr schon immer gesehnt hatte. Sogar die Macht des Todes hat dieser Jesus überwunden, sodass er am Ende der Zeit alle Gräber aufschließen wird. Dann wird er alle, die er erlöst hat, mit erneuerten Leibern zu sich nehmen in Gottes ewige Welt.

Auch ich hatte während der Predigt des Philippus nicht mehr auf die Landschaft geachtet. Aber nun nahm ich plötzlich wahr, dass wir in ein Tal hinabfuhren. In der Talsohle führte unser Weg durch einen kleine Fluss. Doch bevor wir die Furt durch­querten, befahl mir mein Dienstherr anzuhalten und eine Pause zu machen. Unser ganzer Treck kam zum Stehen. Mein Herr sagte zu Philippus: „Hier ist Wasser. Spricht irgendetwas dagegen, dass du jetzt auch mich taufst, damit ich zu Jesus gehöre?“ Philippus meinte, wenn er Jesus und seinem Opfer am Kreuz vertraut, dann spricht nichts dagegen. Die beiden stiegen aus und wateten in den Fluss. Dort übergoss Philippus meinen Herrn mit Wasser und sagte: „Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ In diesem Moment erschien ein Glanz auf dem sonst so sorgenvollen Gesicht meines Herrn, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Über­glücklich kehrte er zum Wagen zurück und wollte den Philippus reich beschenken, aber der war plötzlich nicht mehr da. So gab mein Herr Befehl, ohne ihn weiter­zufahren. Auf der ganzen Rückreise war mein Herr wie verwandelt: Fröhlich wie nie, ausgeglichen und liebevoll. Er studierte weiter in seiner Schrift­rolle, aber er sang zwischen­durch auch Loblieder, betete und sprach freundlich mit mir und den anderen Mit­reisenden. Es war so, als hätte der Schlüssel, der Jesus Christus heißt, für meinen Herrn ein neues Leben auf­geschlossen.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, soweit der Bericht des Kutschers, wie er ihn hätte geben können. Und nun erkennen wir, wie nahe uns dieser antike Schatz­meister aus Äthiopien eigentlich steht: Denn auch wir sind getauft, und auch uns hat Jesus Christus ein neues Leben auf­geschlossen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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