Der Geist macht lebendig

Predigt über Hesekiel 37,1‑14 zum Pfingstmontag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Es ist aus mit dem christ­lichen Abendland, sagt mancher traurig, weil die Werte, die jahr­hunderte­lang in Mittel­europa galten, heute nicht mehr viel wert sind. Be­scheiden­heit, Unter­ordnung, Disziplin und familiärer Zusammen­halt stehen nicht mehr hoch im Kurs; Habgier, Vergnügungs­sucht, sexuelle Freizügig­keit und Gottlosig­keit dagegen feiern Triumphe. Es ist aus mit der christ­lichen Kirche, sagt mancher traurig, weil sie äußerlich wie innerlich schwach geworden ist: Leere Gottes­häuser, resignierte Gemeinde­glieder, verwirrte Theologen, ehrfurchts­loses Beten – wo führt das hin? Es ist aus mit meinem Glauben, sagt mancher Christ angesichts vieler Schreck­nisse in der Welt und bei ihm persönlich, denen Gott scheinbar stumm und tatenlos zusieht. Es ist aus mit meinem Leben, werden wir uns alle früher oder später einmal sagen müssen, wenn der Arzt uns eine tödliche Diagnose mitteilt oder wenn wir von selbst spüren, dass es zuende geht.

Es ist aus mit Israel, sagten die Juden zur Zeit des Propheten Hesekiel, denn die Babylonier hatten ihr Land vernichtend geschlagen, Jerusalem zerstört und viele von ihnen als Zwangs­arbeiter nach Babylon ver­schleppt, unter ihnen auch Hesekiel selbst. Gott antwortete ihm mit einem Traum. Wie Petrus es in seiner Pfingst­predigt verkündigt hat, so geschah es bereits bei Hesekiel: Der Heilige Geist ließ ihn ein Gesicht sehen, eine Traumvision mit göttlicher Botschaft. Diese Botschaft sollte Hesekiel dann den entmutigten Juden seiner Zeit weiter­sagen. Gottes Geist hat es dann auch gefügt, dass diese Traumvision und ihre Botschaft auf­geschrieben wurden und bis zum heutigen Tag erhalten geblieben ist; wir finden sie im Buch des Propheten Hesekiel im 37. Kapitel.

Was hat Hesekiel da geschaut?

Der Heilige Geist führt Hesekiel in eine weite Ebene, auf der viele verwitterte Knochen herum­liegen. Hesekiel blickt genauer hin und stellt fest: Es sind Menschen­knochen – Ober­schenkel, Rücken­wirbel, Rippen, Schädel. Hier hat vor längerer Zeit offenbar ein Krieg getobt, und die Gefallenen sind einfach liegen­gelassen worden. Mit der Zeit sind ihre Leichen verwest oder von wilden Tieren gefressen worden, nur die ver­witterten Knochen sind übrig­geblieben. Da fragt Gott den Propheten: „Meinst du, dass diese Gebeine jemals wieder lebendig werden?“ Hesekiel überlegt: Nach mensch­licher Vorstellung ist das unmöglich; menschlich muss man sagen: Es ist aus mit ihnen. Aber Gott ist ja all­mächtig… Darum antwortet er: „Herr, mein Gott, du weißt es.“ Da trägt Gott ihm auf: „Predige diesen ver­witterten Knochen, dass mein Geist über sie komme und sie wieder lebendig werden!“ „Ruach“ steht da im Hebräischen für Geist; Martin Luther übersetzte mit „Odem“, dem alten Wort für „Atem“. Dasselbe Wort finden wir in 1. Mose 2 bei der Erschaffung des Menschen: Gott blies Adam „den Odem des Lebens“ ein, heißt es da; man kann auch sagen: „den Geist des Lebens“. Ruach, Odem, Atem, Geist – da spüren wir es wehen, da spüren wir Wind, da spüren wir den Hauch Gottes. Der Heilige Geist hat viel mit Luft, Atem und Wind zu tun; auch das Pfingst­geschehen macht es uns deutlich: starker Wind gehörte zu den äußeren Zeichen, mit denen der Heilige Geist damals zu den Jüngern kam. Im grie­chischen Original­text der Pfingst­geschichte und im ganzen Neuen Testament wird Gottes Geist „Pneuma“ genannt, das bedeutet ebenfalls „Wind­hauch“. Wind und Atem machen das Wesen von Gottes Geist deutlich: Er selbst ist unsichtbar, aber seine Wirkung ist wahr­nehmbar. Man hört das Rauschen des Windes und sieht, was er tut: Die Blätter an den Bäumen bewegen sich, das Kornfeld wogt. Ebenso hört man den Atem und sieht, was er tut: der Atmende bewegt sich und lebt. Und ebenso kann man hören und sehen, was der Heilige Geist tut.

Zurück zu Hesekiel und seiner Vision. Der Prophet erlebt, was Gottes Geist Gewaltiges tut. Hesekiel ruft das auf­getragene Gottewort über das Knochenfeld und hört zunächst ein großes Rauschen: ein pfingst­licher Wind kommt auf. Dann sieht er, wie sich die ver­witterten Gebeine zu regen beginnen: Ober­schenkel rücken an Becken­knochen, Schädel an Halswirbel, Armknochen an Schulter­blätter. Gottes Geist ist kein chaotischer Wind, der alles auseinander­pustet, sondern ein schöpfe­rischer Wind, der alles zu einer neuen Ordnung zusammen­führt. Darüber hinaus schafft Gottes Geist etwas, was gerade eben noch völlig fehlte: Fleisch wächst auf den wieder­hergestell­ten Skeletten, Knorpel, Sehnen, Blutgefäße und Haut. Bald liegen auf dem Schlacht­feld keine Knochen mehr, sondern voll­ständige Leichname, Menschen­leiber – so wie Gott einst Adams Leib aus Erde formte. Aber es fehlt noch etwas, das Ent­scheidende: Leben. Da ergeht noch einmal Gottes Auftrag zu predigen. Hesekiel soll den Windhauch von Gottes Geist erneut herbei­rufen, dass er diesmal mit besonderer Kraft und Wirkung wehe, so wie Westwind und Ostwind, Nordwind und Südwind auf einmal. Und das Wunder geschieht: Gottes Geist weht und macht die Toten wieder lebendig. Sie erheben sich wie Schlafende am Morgen und stellen sich auf ihre Füße, eine riesige Menschen­menge. Gottes Geist wirkt erneut wie der Odem des Lebens, der am Anfang Adams Leib eingeblasen wurde. Gottes Windhauch erweist sich als ein Geist, „der da lebendig macht“, wie wir im Nizänum bekennen. Und die Christen­heit singt: „Komm, o komm, du Geist des Lebens!“

Nach dieser Vision zeigt Gott Hesekiel, was das Geschaute bedeutet. Seine Botschaft lautet: „Diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israel. Und ihr sollt erfahren, dass ich der Herr bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt…“

So predigte Hesekiel dann auch. Die Juden sollten nicht mehr sagen: „Es ist aus mit mit uns.“ Die vielen Toten des zurück­liegenden Krieges werden nicht für immer tot bleiben, sondern Gottes Geist wird ihre Leiber am Jüngsten Tag aus den Gräbern zurückrufen und ihnen neues Leben schenken. Und die Ver­schleppten, die wohl nie mehr ihre irdische Heimat wiedersehen können, sollen sich damit trösten, dass Gott ihnen einst eine himmlische Heimat schenken wird, das ewige „gelobte Land“ und „neue Jerusalem“.

Diese Hoffnung haben auch wir heute, denn durch Jesus gehören auch wir zum „Haus Israel“, zu Abrahams geistlichen Nachkommen, zum Volk Gottes, zur wahrhaft katholi­schen, das heißt raum- und zeit­übergreifen­den Kirche. Gott hat uns ver­sprochen, dass sein Heiliger Geist uns am Jüngsten Tag auferwecken und in die ewige Heimat holen wird. Dann wird Gottes Wort wie ein mächtiger Wind über alle Gräber seiner Heiligen ergehen, oder wie ein gewaltiges Posaunen­signal. Und dann wird Gott neu seinen Lebens-Odem in uns blasen zu un­vergänglichem Leben, wie er es einst bei Adam getan hat. Dann wird der Fluch der Sünde überwunden sein, nämlich der Tod als Strafe für unsere selbst ver­schuldete Entfremdung von Gott. So haben Hesekiels Vision und ihre Botschaft ganz direkt auch mit uns und unserer Zukunft zu tun. Wir brauchen nicht zu jammern: Es ist aus!, weder im Leben noch im Sterben. Denn wo wir Menschen denken: Es ist aus!, da beginnt Gottes Geist zu wirken. Unsichtbar weht und wirkt er; wir hören nur seine Stimme, aber wir werden es erleben, wie er uns ans Ziel des ewigen Lebens bringt. Menschen, die durch Jesus eine so wunderbare Hoffnung und Zukunfts­aussicht haben, sollten niemals sagen: Es ist aus!

Aber nicht nur wegen der Hoffnung hat diese Botschaft etwas mit unserer Gegenwart zu tun. Das, was Hesekiel da geschaut und verkündigt hat, bezieht sich nicht nur auf die Vollendung unseres Heils, sondern auch auf den Anfang. Denn die Bibel bezeugt klar, dass bereits die Taufe eine geistliche Auf­erweckung und neue Geburt ist. Schon in unserer Taufe ist der Heilige Geist an uns tätig geworden – ebenso wie an den dreitausend Menschen, die beim ersten Pfingstfest getauft wurden. Vorher waren wir in Sünden tot – das heißt, es war so hoffnungs­los aus mit uns, wie das Leben für die ver­witterten Knochen in Hesekiels Vision aus war. Dann aber trat Gottes Wort und Windhauch in unser Leben, und wir empfingen neuen Lebensodem, neues geistliches Leben. Wir sehen: Gottes Wort und Gottes Geist haben auch heute schöpfe­rische Kraft und machen allein lebendig; wir Menschen können und brauchen nichts hinzuzutun. Gottes Wort und Gottes Geist haben einst dem aus Erde geformten Adamsleib Leben ein­gehaucht, Gottes Wort und Gottes Geist werden einst unseren sterblichen Überresten zu vollendetem Leben verhelfen, Gottes Wort und Gottes Geist machen aus tod­geweihten Sündern ewig lebende Heilige. Dieselbe frohe Botschaft und derselbe Geist, die uns in der Taufe wieder­geboren haben zum ewigen Leben, begleiten und bewahren uns durch die Predigt, das Heiligen Abendmahl, den Segen und die Sünden­vergebung. Wie die ver­witterten Gebeine in Hesekiels Vision keine Ohren hatten und dennoch durch Gottes Wort und Geist lebendig wurden, so wirkt das Evangelium von Jesus Christus in unserem Leben als göttliche Kraft, die uns selig macht.

Das alles klingt zu schön, um wahr zu sein. Es übersteigt unsere mensch­liche Vor­stellung, denn die menschliche Vernunft kann nur immer wieder und in jeder Beziehung fest­stellen: Es ist aus mit uns; früher oder später geht alles zuende. Aber da fragt Gott auch uns, wie er einst Hesekiel fragte: „Meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden?“ Glaubst du an die Kraft der Taufe, das Bad der neuen Geburt? Und glaubst du an die Auf­erstehung der Toten am Jüngsten Tag und das ewige Leben? Da antwortet unser kleiner Glaube zaghaft und zögernd, ebenfalls wie damals Hesekiel: „Herr, mein Gott, du weißt es.“ Gott stärkt diesen schwachen Glauben. Er tut es auch mit der herrlichen Vision des Hesekiel und mit ihrer Deutung und schließlich mit seinem kräftigen göttlichen Amen, dem Schlusssatz in dieser Offenbarung an Hesekiel: „Ihr sollt erfahren, dass ich er Herr bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der Herr.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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