Der Erlöser und der Erlöste

Predigt über Jesaja 50,4‑9 zum Sonntag Palmarum

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ein Finanz­minister lässt sich in seinem luxuriösen Wagen durchs Land chauf­fieren. Dabei ist er in einen Text vertieft. Es handelt sich nicht um dienstliche Lektüre, sondern um ein religiöses Buch, das er sich gerade gekauft hat. Er liest als Privatmann, als Fragender, als Sinn-Sucher. Aber der Text verwirrt ihn; er kann sich nicht zusammen­reimen, von wem da eigentlich die Rede ist. Schreibt der Autor da über sich selbst, oder schreibt er über jemand anders? Ganz gegen seine Gewohnheit nimmt der Staatsmann dann einen Anhalter mit. Der fragt ihn: „Verstehen Sie denn, was Sie da gerade lesen?“ Der Finanz­minister gibt ehrlich zu, dass das nicht der Fall ist und dass er jemanden braucht, der ihm den Text erklärt. Da stellt sich heraus, dass gerade dieser Anhalter genau die richtige Person ist, um den Inhalt zu deuten. Es kommt zu einem tief­gründigen Gespräch, zu einer Bekehrung und zu einer Taufe.

Der Finanz­minister ist uns eher bekannt unter der Bezeichnung „Kämmerer von Äthiopien“, der Anhalter unter dem Namen Philippus und das religiöse Buch unter seinem Autor Jesaja. Es ist eben jene biblische Schrift, in der unser Predigttext steht. Das Ganze trug sich ein paar Jahre nach Jesu Auf­erstehung zu, als das Evangelium sich über den Stadt­bereich von Jerusalem hinaus auszu­breiten begann (Apostel­gesch. 8,26‑40). Die Ver­ständnis­schwierig­keit, die der Finanz­minister beziehungs­weise „Kämmerer“ damals hatte, kann auch bei unserem Text­abschnitt auftreten – nämlich die Frage: Von wem ist da eigentlich die Rede? Und auch wir könnten wie dieser wiss­begierige Mann auf die Idee kommen, dass der Prophet hier von sich selbst spricht, wenn er sagt: „Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben…“, „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlu­gen…“, „Siehe, Gott der Herr hilft mir…“. Aber für unseren Abschnitt gilt ebenfalls, was Philippus dem Kämmerer damals erklärt hat: Der Prophet redet nicht von sich selbst, sondern von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, der durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen der ganzen Menschheit Gottes Heil gebracht hat. Zumindest gilt das für die ersten drei Verse unseres Predigt­textes: Jesaja redet da prophetisch mit einem Erlöser-Ich; es ist also eigentlich Christus, der durch ihn redet. In der zweiten Hälfte des Predigt­textes jedoch wechselt das Ich die Person; da redet Jesaja mit dem Ich des Erlösten. Solche Personen­wechsel finden wir häufig in der Bibel, besonders in pro­phetischen Texten und in Psalmen. Das ist nicht nur eine stilisti­sche Besonder­heit, sondern das hat noch einen tieferen Sinn, auf den ich am Ende der Predigt zu sprechen kommen werde.

Unser Predigttext gehört zu einem der berühmten Knecht-Gottes-Lieder im Buch des Propheten Jesaja. Dieser „Knecht Gottes“ ist in Wahrheit ein Herr, nämlich der Herr Jesus Christus, der sich aus Liebe zu uns zum Knecht gemacht hat. Wir haben es heute in der Epistel-Lesung gehört: „Er entäußerte sich selbst und nahm Knechts­gestalt an“ (Phil. 2,7). Christus, der Herr und Meister über alles, hat sich erniedrigt, hat sich zum Knecht und Jünger gemacht. Darum spricht er durch den Mund des Propheten Jesaja: „Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.“ Als Mensch Jesus von Nazareth hatte er eine menschliche Zunge, einen mensch­lichen Mund, menschliche Sprache, menschliche Gefühle und menschliche Gedanken. Er versteht uns, begegnet uns auf Augenhöhe und kann uns trösten. Mit dieser Jünger-Zunge sagt er zum Beispiel: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen sein; ich will euch erquicken“ (Matth. 11,28). Ja, in der Tat, er weiß mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Wie oft hat uns sein Wort in schweren Zeiten getröstet und neue Kraft gegeben!

Aber Jesus hat nicht nur eine Jünger-Zunge, sondern auch Jünger-Ohren. So spricht er durch Jesaja: „Alle Morgen weckt er mir das Ort, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.“ Hören und gehorchen sind in den Sprachen der Bibel ein und dasselbe Wort. Jesus hörte und war gehorsam – so wie ein guter Jünger auf seinen Lehrmeister hört und so wie ein guter Knecht auf seinen Herrn hört. Auf diese Weise ordnete er sich seinem himmlischen Vater unter. Auch davon berichtet die heutige Epistel-Lesung: „Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Phil. 2,8). Gottes Sohn führte gehorsam den Auftrag seines Vaters aus und erlöste die Welt – obwohl ihm das schwer und bitter wurde, obwohl ihn das ans Kreuz gebracht hat.

Über sein Leiden hat der Gottes­knecht durch Jesaja so geredet: „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“ Weil er seinem Vater gehorchte und uns lieb hat, ließ er sich aus­peitschen, bis sein Rücken blutete. Weil er seinem Vater gehorchte und uns lieb hat, ließ er sich ohrfeigen. Weil er seinem Vater gehorchte und uns lieb hat, ertrug er widerstands­los allen gemeinen Spott und jede Demütigung; er ließ sich sogar mitten ins Gesicht spucken. Weil er seinem Vaer gehorchte und uns lieb hat, starb er schließlich unter großen Qualen am Kreuz und erfuhr dabei zum erstenmal etwas, was er bis dahin noch nie erlebt hatte: nämlich von seinem lieben Vater im Himmel ganz und gar verlassen zu sein. Für uns hat er das alles ertragen; die Sünden­strafe hat er uns auf diese Weise abgenommen – der Gottes­knecht und Heiland, der das schon sieben­hundert Jahre vorher durch den Mund des Propheten Jesaja ankündigte.

Soweit die drei Verse mit dem Erlöser-Ich, durch die Jesus zu uns spricht. Dann kommt ein Einschnitt, markiert mit dem Wörtchen „aber“: „Aber Gott der Herr hilft mir…“ Dieses „Aber“ kann man auch mit „und“ übersetzen; es zeigt lediglich an, dass hier etwas Neues beginnt, was an das Bisherige anknüpft. Die Worte des Erlösten knüpfen hier nämlich an die Worte des Erlösers an. Die Erlösungs­tat des Gottes­knechts am Kreuz bringt dem Mensch, der ihm vertraut, die Erlösung. Der Erlöste sagt in den drei folgenden Versen im Wesent­lichen dies: „Gott der Herr hilft mir“, „Er ist nahe, der mich gerecht spricht“, und noch einmal: „Gott der Herr hilft mir“.

Der erste dieser drei Verse drückt Zuversicht in Leid und Anfechtung aus: „Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kiesel­stein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.“ Ein Turner, der Übungen am Barren macht, kann verstehen, wie das mit dem Kieselstein gemeint ist: Wer die Muskeln anspannt und auf diese Weise hart macht, dem tut es nicht so weh, wenn er auf den Holmen aufschlägt. Ebenso kann man Schläge ins Gesicht besser ertragen, wenn man die Gesichts­muskeln anspannt, wenn man also sein Gesicht hart macht „wie eine Kiesel­stein“. Jeder Mensch muss im Lauf seines Lebens eine ganze Menge erleiden; das gehört einfach dazu in dieser un­vollkomme­nen Welt. Aber wer auf Gottes Hilfe vertraut, der kann den Schmerz dieser Leiden mit seinem Glauben abmildern und, bildlich gesprochen, „sein Angesicht hart machen“. Denn er weiß, dass ihn die Leiden nicht kaputt machen, weil Jesus ihn erlöst hat. Er weiß: Ich werde nicht zuschanden, weder an meiner Sünde noch an den Folgen davon, denn Jesus hat mir den Fluch der Sünde am Kreuz abgenommen.

Der zweite dieser drei Verse erklärt, wie das zugeht. Das Ich des Erlösten sagt: „Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!“ Der Apostel Paulus hat diese Worte im Römerbrief auf­gegriffen und ge­schrieben: „Wer will die Aus­erwählten Gottes be­schuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.“ (Römer 8,33‑34) Hier geht es um das Herzstück unseres Glaubens, die Recht­fertigungs­lehre: Gott spricht mich gerecht; er sieht mich also wie jemanden an, bei dem alles richtig und in Ordnung ist – aber nicht, weil ich alles richtig mache, sondern weil Christus mir alles abgenommen hat, was ich falsch gemacht habe. Da hat der Teufel keine Chance mehr. Selbst wenn es ihm hin und wieder noch gelingen mag, mich zur Sünde zu verführen, so kann er mich hinterher nicht bei Gott anschwärzen und sagen: Sieh, was für ein Sünder das ist, den musst du hart bestrafen! Denn der Gottes­knecht hat ja meine Strafe längst abgebüßt.

Der dritte dieser drei Verse nimmt dann die zukünftige Herrlich­keit in den Blick. Das Ich des Erlösten sagt: „Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten zer­fressen.“ Der Teufel und alle, die mich bei Gott anschwärzen wollen, müssen einmal aus Gottes Gegenwart ver­schwinden und wie Motten-zerfressene Kleider zerfallen; ich aber darf mit allen Erlösten in Ewigkeit bei Gott bleiben!

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, nun verstehen wir, was wir da in unserem Predigttext lesen beziehungs­weise hören: Drei Verse lang spricht der Erlöser Jesus Christus als Knecht Gottes und verkündet uns sein Heil, und drei Verse lange spricht der Erlöste und rühmt Gott für dieses Heil. Zum Schluss komme ich noch einmal auf meine Fest­stellung vom Anfang zurück, dass dieser Personen­wechsel eine tiefen Sinn hat. Die beiden Ichs, die in den beiden Text-Hälften zu Wort kommen, gehören nämlich zusammen. Sie gehören so zusammen, wie Christus und der Christ zusammen­gehören: Er lebt in mir, und ich lebe in ihm. Ohne ihn bin ich nichts, mit ihm habe ich alles. Er ist mein Haupt, und ich bin ein Glied an seinem Leib. Er kommt beim Heiligen Abendmahl in mich hinein mit seinem Leib und Blut, und ich bin ein Teil von ihm. „Unio mystica“ hat man diese wunderbare Verbindung seit alters genannt, „geheimnis­volle Einheit“. Es ist eine Einheit, in der Christus und alle Erlösten ein­schließlich der Apostel und Propheten mit einer Stimme und einem Ich die großen Wohltaten Gottes ver­kündigen, mit denen er uns für Zeit und Ewigkeit erlöst hat. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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