Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Bei unterschiedlichen Gebäuden ist der Zutritt verschieden leicht oder schwer. Ein Bahnhof zum Beispiel ist für jeden öffentlich zugänglich und ein Supermarkt ebenfalls, wenn er nicht gerade geschlossen hat. Bei Wohnhäusern kommt man meistens nur mit einem passenden Schlüssel durch die Haustür, und wenn es sich um ein Mehrfamilienhaus handelt, dann braucht man auch für jede Wohnung wieder einen besonderen Schlüssel. Wer in einem Flughafen zu den Flugsteigen gelangen will, muss eine Sicherheitsschleuse passieren. Die Mitarbeiter großer Firmen müssen beim Pförtner ihren Betriebsausweis vorzeigen. Manche Gebäude sind durch besonders strenge Maßnahmen gesichert: Da kommen dann nur diejenigen hinein, die mit ihrem Fingerabdruck oder mit ihrem Gesicht von einem Computer erkannt werden. Auch in ein Gefängnis kommt ein Besucher nur sehr schwer hinein, da gibt es nämlich mehrere Pforten, Schleusen und Kontrollposten.
In einer Bank gibt es ebenfalls Bereiche mit verschiedenen Stufen von Abgeschlossenheit. Zu den Öffnungszeiten kann jeder ohne weiteres die Schalterhalle betreten. Wer außerhalb der Öffnungszeiten an den Geldautomaten will, braucht eine Kreditkarte, um die Tür zu öffnen. Die Angestellten der Bank müssen weitere technische Zugangsbeschränkungen überwinden, zum Beispiel müssen sie an der Tür eine Geheimzahl eingeben. Ganz kompliziert wird es, wenn jemand in den Tresorraum will: Da sind viele Sicherheitshürden zu überwinden. Der Tresor einer Bank ist nun mal kein Selbstbedienungsladen.
Nehmen wir einfach mal an, dass ein Bankdirektor die Menschheit beglücken will. Er sperrt alle Türen auf und schafft einen öffentlichen Zugang zum Tresorraum. Jeder, der will, kann ungehindert hineinspazieren und sich wie in einem Selbstbedienungsladen von den Münzen und Geldscheinen nehmen, soviel er will. Ich weiß, so etwas geschieht nicht, aber wir neben es ja nur mal an. Die Leute würden in die Bank strömen und überglücklich mit viel Geld wieder herauskommen. Nur diejenigen würden fernbleiben, die meinen, dass sie schon genug Geld besitzen – und natürlich diejenigen, die misstrauisch sind, eine Falle wittern oder glauben, dass es sich um Falschgeld handelt. Der ungehinderte Zugang zu dem Raum der Bank, der bisher am meisten gesichert war, würde jedenfalls eine bedeutende Wende in der Geschichte dieser Bank markieren.
So etwas geschieht nicht? Doch, in gewisser Hinsicht schon. Zum Beispiel geschah so eine Wende am 9. November 1989, als DDR-Bürger plötzlich ungehinderten Zutritt zum westlichen Teil Deutschlands erhielten. Und ebenfalls geschah so eine Wende, als Jesus auf Gogatha starb und der Vorhang vor dem allerheiligsten Bereich des Jerusalemer Tempels zerriss. Ja, da geschah die Wende vom alten zum neuen Bund, von der durch Gesetze geprägten Religion des Volkes Israels zur Freiheit des Evangeliums. Zur Zeit des Alten Testaments entsprach der Tempel einer Bankfiliale mit abgestuftem Zugang und sorgsam abgeschirmten Allerheiligsten; jetzt aber entspricht eine christliche Kirche unserer ausgedachten Bank, bei der der Tresorraum für alle öffentlich zugänglich ist.
Israels Tempel und sein Vorgänger, die sogenannte Stiftshütte, waren so aufgebaut: Der äußere Vorhof war öffentlich zugänglich; dort durften sich auch Nicht-Juden aufhalten. Für den inneren Vorhof gab es schon eine gewisse Zugangsbeschränkung: Hier war nur Juden der Zutritt erlaubt. Ein niedriger Zaun trennte dann den eigentlichen Tempelplatz ab; er war den Priestern vorbehalten. Dort stand der große Opferaltar, auf dem täglich Tiere verbrannt wurden. Und in der Mitte befand sich das eigentliche Tempelgebäude, das Heiligtum. Nur die diensthabenden Priester durften es betreten. Da stand der siebenarmige Leuchter, der Räucheraltar und der Tisch mit den sogenannten Schaubroten. Im Tempelgebäude war hinten ein kleiner Raum mit einem Vorhang abgeteilt; das war das Allerheiligste, gewissermaßen der göttliche Tresorraum. Hier stand die Bundeslade, ein mit Gold überzogener Holzkasten, auf dem zwei goldene Engelfiguren thronten. In diesem Kasten lagen unter anderem die Steintafeln mit den Zehn Geboten. Mit dem Deckel der Bundeslade hatte es eine besondere Bewandtnis: Man nannte ihn „Gnadenstuhl“ oder auch „Gottes Thron“. Gott hatte seinem Volk versprochen, ihm von hier aus gnädig zu sein und ihnen ihre Sünden zu vergeben. Normalerweise durfte sich niemand im Allerheiligsten aufhalten. Nur einmal im Jahr ging der Hohepriester hinein, in den Händen eine Schale voll Opferblut. Das geschah immer am Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag. Der Hohepriester sprengte dann etwas von dem Blut an den „Gnadenstuhl“, und Gott vergab seinem Volk die Sünden. Das ist ja das Wichtigste und Wertvollste im Leben: wenn Gott den Menschen die Sünden vergibt und damit eine gute Beziehung zwischen ihnen und sich herstellt.
Ja, und dann geschah die große Wende: Gottes Sohn Jesus Christus brachte sich selbst als Sündopfer dar auf einem Hügel vor den Toren Jerusalems. Da zerriss der Vorhang, der das Allerheiligste im Tempel abtrennte. Damit zeigte Gott: Das Wichtigste und Wertvollste im Leben, nämlich Gottes Gnade und die Vergebung der Sünden, sind nun für jeden frei zugänglich – so wie es beim offenen Tresorraum unserer ausgedachten Bank der Fall ist. Darum haben wir hier auch keinen Tempel mit abgetrenntem Heiligtum, sondern wir haben hier eine Kirche mit frei zugänglichem Altar. Das Kruzifix darauf und das Bild darüber zeigen den, der uns diese Wende gebracht hat, und sie zeigen uns auch, wie er sie gebracht hat: Jesus Christus hat es mit seinem Sühnopfer am Kreuz getan, mit seinem Leiden und Sterben. Das Neue Testament nennt nun ihn, Jesus, einen Gnadenstuhl, einen Thron Gottes, einen Ort, wo Gott allen, die ihm vertrauen, gnädig ist und die Schuld vergibt. Denn Christus hat zwischen Schöpfer und Geschöpf Frieden gestiftet, zwischen dem heiligen Gott und dem sündigen Menschen. Schon die Klinke unserer Kirchentür zeigt, dass alle diesen Frieden haben können, ohne Zugangsbeschränkung: „Friede sei mit euch!“, steht auf dieser Klinke, und eine goldene Engelfigur, wie sie früher nur im Allerheiligsten über der Bundeslade zu finden war, ist schon von außen an dieser Klinke zu sehen. Jeder darf in unsere Kirche hineinkommen und sie ansehen; jeder darf sich hier in die Bank setzen, jeder darf hier hören und sehen, welchen großen Schatz Gott ihm durch Jesus Christus schenken möchte – frei und umsonst, ohne Vorhang und ohne Vorhängeschloss. Auch Juden und Muslime dürfen in unsere Kirche kommen, auch Atheisten und Agnostiker.
Freilich: Nur derjenige hat etwas von Gottes Schatz, der sich nicht selbst im Wege steht. Bei unserer ausgedachten Bank habe ich gesagt: Diejenigen würden fernbleiben, die meinen, dass sie schon genug Geld besitzen – und natürlich diejenigen, die misstrauisch sind, eine Falle wittern oder glauben, dass es sich um Falschgeld handelt. Ebenso ist das mit unserer Kirche und mit dem Schatz der Sündenvergebung. Wer meint, dass er kein Sünder ist und vor Gott auch ohne Vergebung bestehen kann, der wird es überflüssig finden, sich taufen zu lassen, das Evangelium zu hören, sich die Vergebung unter Handauflegung zusprechen zu lassen oder im Heiligen Abendmahl den Leib und das Blut Christi zu empfangen. Wer seine Sünde nicht bekennt, sondern abstreitet, der sagt damit nämlich: Ich besitze schon selbst genug Heiligkeit und habe darum die Heiligkeit nicht nötig, die Jesus mir hier schenken will. Und wer Gottes Wort nicht vertraut, sondern das alles für erfunden hält oder sogar für einen raffinierten Schwindel, der wird ebenfalls achtlos an dem Schatz vorübergehen. Schade, dass sich viele Menschen so verhalten.
Liebe Brüder und Schwestern in Christus, es wird noch einmal eine Wende geben. Es kommt der Tag, da werden alle Kirchen zu Bruch gehen, die größten Dome ebenso wie die kleinsten Dorfkirchen. Auch von unserer Kirche wird dann nichts mehr übrig bleiben – genauso, wie vom einst so prächtigen Jerusalemer Tempel heute nichts mehr übrig geblieben ist. An dem Tag wird Jesus sichtbar wiederkommen. Dann werden alle, die zu ihm gehören, ungehindert in das wahre Allerheiligste einziehen dürfen, in Gottes himmlischen Thronsaal. Amen.
PREDIGTKASTEN |