Zugang zu Gott

Predigt über Hebräer 9,1‑9 zum Kirchweihfest

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Bei unter­schied­lichen Gebäuden ist der Zutritt verschieden leicht oder schwer. Ein Bahnhof zum Beispiel ist für jeden öffentlich zugänglich und ein Supermarkt ebenfalls, wenn er nicht gerade geschlossen hat. Bei Wohnhäusern kommt man meistens nur mit einem passenden Schlüssel durch die Haustür, und wenn es sich um ein Mehr­familien­haus handelt, dann braucht man auch für jede Wohnung wieder einen besonderen Schlüssel. Wer in einem Flughafen zu den Flugsteigen gelangen will, muss eine Sicherheits­schleuse passieren. Die Mitarbeiter großer Firmen müssen beim Pförtner ihren Betriebs­ausweis vorzeigen. Manche Gebäude sind durch besonders strenge Maßnahmen gesichert: Da kommen dann nur diejenigen hinein, die mit ihrem Finger­abdruck oder mit ihrem Gesicht von einem Computer erkannt werden. Auch in ein Gefängnis kommt ein Besucher nur sehr schwer hinein, da gibt es nämlich mehrere Pforten, Schleusen und Kontroll­posten.

In einer Bank gibt es ebenfalls Bereiche mit ver­schiedenen Stufen von Ab­geschlossen­heit. Zu den Öffnungs­zeiten kann jeder ohne weiteres die Schalter­halle betreten. Wer außerhalb der Öffnungs­zeiten an den Geld­automaten will, braucht eine Kredit­karte, um die Tür zu öffnen. Die An­gestellten der Bank müssen weitere technische Zugangs­beschrän­kungen überwinden, zum Beispiel müssen sie an der Tür eine Geheimzahl eingeben. Ganz kompliziert wird es, wenn jemand in den Tresorraum will: Da sind viele Sicherheits­hürden zu überwinden. Der Tresor einer Bank ist nun mal kein Selbst­bedienungs­laden.

Nehmen wir einfach mal an, dass ein Bank­direktor die Menschheit beglücken will. Er sperrt alle Türen auf und schafft einen öffent­lichen Zugang zum Tresorraum. Jeder, der will, kann ungehindert hinein­spazieren und sich wie in einem Selbst­bedienungs­laden von den Münzen und Geld­scheinen nehmen, soviel er will. Ich weiß, so etwas geschieht nicht, aber wir neben es ja nur mal an. Die Leute würden in die Bank strömen und über­glücklich mit viel Geld wieder heraus­kommen. Nur diejenigen würden fern­bleiben, die meinen, dass sie schon genug Geld besitzen – und natürlich diejenigen, die miss­trauisch sind, eine Falle wittern oder glauben, dass es sich um Falschgeld handelt. Der un­gehinderte Zugang zu dem Raum der Bank, der bisher am meisten gesichert war, würde jedenfalls eine bedeutende Wende in der Geschichte dieser Bank markieren.

So etwas geschieht nicht? Doch, in gewisser Hinsicht schon. Zum Beispiel geschah so eine Wende am 9. November 1989, als DDR-Bürger plötzlich un­gehinder­ten Zutritt zum westlichen Teil Deutsch­lands erhielten. Und ebenfalls geschah so eine Wende, als Jesus auf Gogatha starb und der Vorhang vor dem aller­heiligsten Bereich des Jerusalemer Tempels zerriss. Ja, da geschah die Wende vom alten zum neuen Bund, von der durch Gesetze geprägten Religion des Volkes Israels zur Freiheit des Evan­geliums. Zur Zeit des Alten Testaments entsprach der Tempel einer Bankfiliale mit abgestuftem Zugang und sorgsam ab­geschirmten Aller­heiligsten; jetzt aber entspricht eine christliche Kirche unserer aus­gedachten Bank, bei der der Tresorraum für alle öffentlich zugänglich ist.

Israels Tempel und sein Vorgänger, die sogenannte Stifts­hütte, waren so aufgebaut: Der äußere Vorhof war öffentlich zugänglich; dort durften sich auch Nicht-Juden aufhalten. Für den inneren Vorhof gab es schon eine gewisse Zugangs­beschrän­kung: Hier war nur Juden der Zutritt erlaubt. Ein niedriger Zaun trennte dann den eigent­lichen Tempelplatz ab; er war den Priestern vor­behalten. Dort stand der große Opferaltar, auf dem täglich Tiere verbrannt wurden. Und in der Mitte befand sich das eigentliche Tempel­gebäude, das Heiligtum. Nur die dienst­habenden Priester durften es betreten. Da stand der sieben­armige Leuchter, der Räucher­altar und der Tisch mit den sogenannten Schau­broten. Im Tempel­gebäude war hinten ein kleiner Raum mit einem Vorhang abgeteilt; das war das Aller­heiligste, gewisser­maßen der göttliche Tresorraum. Hier stand die Bundeslade, ein mit Gold überzogener Holzkasten, auf dem zwei goldene Engel­figuren thronten. In diesem Kasten lagen unter anderem die Steintafeln mit den Zehn Geboten. Mit dem Deckel der Bundeslade hatte es eine besondere Bewandtnis: Man nannte ihn „Gnaden­stuhl“ oder auch „Gottes Thron“. Gott hatte seinem Volk ver­sprochen, ihm von hier aus gnädig zu sein und ihnen ihre Sünden zu vergeben. Normaler­weise durfte sich niemand im Aller­heiligsten aufhalten. Nur einmal im Jahr ging der Hohe­priester hinein, in den Händen eine Schale voll Opferblut. Das geschah immer am Jom Kippur, dem großen Versöhnungs­tag. Der Hohe­priester sprengte dann etwas von dem Blut an den „Gnaden­stuhl“, und Gott vergab seinem Volk die Sünden. Das ist ja das Wichtigste und Wertvollste im Leben: wenn Gott den Menschen die Sünden vergibt und damit eine gute Beziehung zwischen ihnen und sich herstellt.

Ja, und dann geschah die große Wende: Gottes Sohn Jesus Christus brachte sich selbst als Sündopfer dar auf einem Hügel vor den Toren Jerusalems. Da zerriss der Vorhang, der das Aller­heiligste im Tempel abtrennte. Damit zeigte Gott: Das Wichtigste und Wertvollste im Leben, nämlich Gottes Gnade und die Vergebung der Sünden, sind nun für jeden frei zugänglich – so wie es beim offenen Tresorraum unserer aus­gedachten Bank der Fall ist. Darum haben wir hier auch keinen Tempel mit ab­getrenntem Heiligtum, sondern wir haben hier eine Kirche mit frei zugäng­lichem Altar. Das Kruzifix darauf und das Bild darüber zeigen den, der uns diese Wende gebracht hat, und sie zeigen uns auch, wie er sie gebracht hat: Jesus Christus hat es mit seinem Sühnopfer am Kreuz getan, mit seinem Leiden und Sterben. Das Neue Testament nennt nun ihn, Jesus, einen Gnaden­stuhl, einen Thron Gottes, einen Ort, wo Gott allen, die ihm vertrauen, gnädig ist und die Schuld vergibt. Denn Christus hat zwischen Schöpfer und Geschöpf Frieden gestiftet, zwischen dem heiligen Gott und dem sündigen Menschen. Schon die Klinke unserer Kirchentür zeigt, dass alle diesen Frieden haben können, ohne Zugangs­beschrän­kung: „Friede sei mit euch!“, steht auf dieser Klinke, und eine goldene Engelfigur, wie sie früher nur im Aller­heiligsten über der Bundeslade zu finden war, ist schon von außen an dieser Klinke zu sehen. Jeder darf in unsere Kirche hinein­kommen und sie ansehen; jeder darf sich hier in die Bank setzen, jeder darf hier hören und sehen, welchen großen Schatz Gott ihm durch Jesus Christus schenken möchte – frei und umsonst, ohne Vorhang und ohne Vorhänge­schloss. Auch Juden und Muslime dürfen in unsere Kirche kommen, auch Atheisten und Agnostiker.

Freilich: Nur derjenige hat etwas von Gottes Schatz, der sich nicht selbst im Wege steht. Bei unserer aus­gedachten Bank habe ich gesagt: Diejenigen würden fern­bleiben, die meinen, dass sie schon genug Geld besitzen – und natürlich diejenigen, die miss­trauisch sind, eine Falle wittern oder glauben, dass es sich um Falschgeld handelt. Ebenso ist das mit unserer Kirche und mit dem Schatz der Sünden­vergebung. Wer meint, dass er kein Sünder ist und vor Gott auch ohne Vergebung bestehen kann, der wird es überflüssig finden, sich taufen zu lassen, das Evangelium zu hören, sich die Vergebung unter Hand­auflegung zusprechen zu lassen oder im Heiligen Abendmahl den Leib und das Blut Christi zu empfangen. Wer seine Sünde nicht bekennt, sondern abstreitet, der sagt damit nämlich: Ich besitze schon selbst genug Heiligkeit und habe darum die Heiligkeit nicht nötig, die Jesus mir hier schenken will. Und wer Gottes Wort nicht vertraut, sondern das alles für erfunden hält oder sogar für einen raffi­nierten Schwindel, der wird ebenfalls achtlos an dem Schatz vorüber­gehen. Schade, dass sich viele Menschen so verhalten.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, es wird noch einmal eine Wende geben. Es kommt der Tag, da werden alle Kirchen zu Bruch gehen, die größten Dome ebenso wie die kleinsten Dorf­kirchen. Auch von unserer Kirche wird dann nichts mehr übrig bleiben – genauso, wie vom einst so prächtigen Jerusalemer Tempel heute nichts mehr übrig geblieben ist. An dem Tag wird Jesus sichtbar wieder­kommen. Dann werden alle, die zu ihm gehören, ungehindert in das wahre Aller­heiligste einziehen dürfen, in Gottes himmlischen Thronsaal. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum