Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Unsere deutsche Sprache ist mehr von der Bibel und vom christlichen Glauben geprägt, als wir uns das oft bewusst machen. Nehmen wir zum Beispiel die politischen Parteien: Alle nennen ihre registrierten Anhänger „Mitglieder“ – auch die Linkspartei. Und alle beziehen sich damit, ob sie es merken oder nicht, auf das Bild von der Kirche als Leib Christi, wie es eben im Predigttext vorkam – auch die Linkspartei. Ein Mit-Glied ist ja nichts anderes als ein Glied neben anderen, das zusammen mit diesen einen Organismus bildet. Ursprünglich war damit die Kirche und Gemeinde Jesu Christi gemeint, so wie Paulus im Korintherbrief die Christen anspricht: „Ihr seid der Leib Christi, und jeder von euch ein Glied.“ Später hat man dieses Bild auch auf andere Gemeinschaften übertragen, auf Vereine zum Beispiel, auf Buch-Clubs oder eben auch auf politische Parteien.
Auf den ersten Blick ist völlig klar, was dieses Bild meint: Wir sind als Christen keine isolierten Einzelwesen, sondern wir gehören zusammen; wir bilden mit unserm Herrn Jesus Christus den Organismus der Kirche – sowohl in seiner örtlichen Erscheinungsform, der Kirchengemeinde, als auch in seiner umfassenden Erscheinungsform, der Christenheit. Aber was bedeutet das für uns? Bedeutet es, dass wir aufgerufen sind, für die gemeinsame Sache zu kämpfen, so wie die Mitglieder einer politischen Partei für bestimmte Überzeugungen eintreten? Oder bedeutet es, dass wir auf diese Weise einen günstigen Zugang finden zu göttlichen Dienstleistungen, so wie die Mitglieder eines Buchclubs billig an beliebte Bücher herankommen? Anders ausgedrückt: Sind wir als Kirchglieder aktiv oder passiv, Gebende oder Nehmende?
An dieser Stelle wenden wir uns dem Apostel und Evangelisten Matthäus zu. Er ist ja zu einem der ersten Glieder am Leib Christi geworden, denn er gehörte zum Zwölferkreis der Jünger. War er nun als Gebender oder Nehmender, als Mitarbeiter oder Nutznießer in der Gemeinschaft um Jesus? Wenn wir auf den Beginn seiner Jüngerschaft schauen, müssen wir sagen: Diese Begriff taugen nicht, um seine Gliedschaft am Leib Christi zu beschreiben; es war doch eigentlich ganz anders gewesen. Matthäus, der auch Levi genannt wurde, war ursprünglich ein Zöllner. Die frommen Juden rümpften die Nase über ihn, weil er mit den verhassten Römern zusammenarbeitete und dabei mithalf, sein eigenes jüdisches Volk auszubeuten. Dann kam eines Tages Jesus vorbei und rief ihm zu: „Folge mir!“ (Matth. 9,9). Jesus sagte ihm also weder: „Ich brauche deine Mithilfe!“, noch sagte er: „Du kannst bei mir noch viel größere Schätze bekommen als in deiner Zollbude.“ Beides hätte zwar gestimmt, aber darum ging es Jesus nicht in erster Linie. Wichtig war vor allem, dass Matthäus in die Gemeinschaft mit Jesus kam: „Folge mir!“
Lieber Bruder, liebe Schwester, dieses „Folge mir!“ hat Jesus auch zu dir gesagt, bei deiner Taufe nämlich. Durch die Taufe im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes werden Menschen ja zu Jüngern Jesu gemacht. Wir können auch sagen: Da kommen Menschen mit Jesus zusammen, da werden sie zu Gliedern an seinem Leib. Es geht dabei zunächst nicht um Gaben oder Aufgaben, sondern es geht um Gemeinschaft, und zwar um lebenswichtige Gemeinschaft. Kein Glied, kein Organ, kein Körperteil kann überleben, wenn es nicht mit dem Organismus des Leibes verbunden ist. Und so hat auch kein Mensch geistliches und ewiges Leben, wenn er nicht ein Glied am Leib Christi ist. Wir merken, dass hier ein bedeutender Unterschied besteht zwischen Parteien oder Buchclubs einerseits und der Kirche Jesu Christi andererseits: Das Dazugehören bekommt seinen Sinn nicht durch bestimmte Verpflichtungen oder Vorteile, die damit verbunden sind, sondern es ist ein Selbstzweck: Die Gemeinschaft mit Jesus ist das Leben, sie ist die Leben-spendende Verbindung mit dem dreieinige Gott.
Das schließt nun aber das Geben und das Nehmen, die Verpflichtungen und die Vorteile keineswegs aus; vielmehr ergibt sich beides aus der Gliedschaft am Leib Christi. So ist es ja auch mit den wirklichen Körperteilen eines menschlichen Leibes: Einerseits empfangen sie über den Blutkreislauf viele gute Dinge, die sie am Leben erhalten. Andererseits hat jedes Glied seine besondere Funktion, mit der es dem gesamten Organismus dient. Beides trifft auch auf Matthäus zu: Er empfängt Gottes Gnade und Barmherzigkeit, denn der Ruf in die Nachfolge bedeutet nichts anderes, als dass Gott ihm seine vielen Zöllner-Sünden vergibt. Zugleich aber bedeutet der Ruf in die Nachfolge, dass er sich für das Apostelamt zurüsten soll, also für das Amt eines bevollmächtigten Zeugen Jesu Christi. Mit diesem Amt und Auftrag hat Christus nach seiner Auferstehung den Matthäus und die anderen Apostel dann in die Welt gesandt. Matthäus hat in dieser Funktion als Glied am Leib Christi treu gedient. Dabei hat er nicht nur viele Predigten gehalten, sondern auch seine Erlebnisse vom gemeinsamen Weg mit Jesus im Matthäus-Evangelium aufgeschrieben. Diese erste Schrift im Neuen Testament ist für uns deshalb besonders wertvoll, weil Matthäus darin immer wieder aufgezeigt hat: Was mit Jesus geschehen ist, das erfüllt alles die Weissagungen der Propheten vom versprochenen Erlöser. So ist das Matthäus-Evangelium nicht nur ein gewaltiges Zeugnis von Gottes Barmherzigkeit, sondern auch von Gottes Treue.
Kommen wir zu unserem Predigttext zurück. Da erfahren wir nun auch etwas über die Verschiedenheit der Glieder am Leib Christi. Wir Christen sind ja keine uniformierten Soldaten, die im Gleichschritt hinter Jesus her marschieren. Nein, so wie die Teile des menschlichen Körpers ganz verschieden sind in Gestalt und Funktion, so verhält es sich auch mit den Gliedern am Leib Christi. Paulus zählt da einige Beispiele auf: „Gott hat in der Gemeinde eingesetzt erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, dann Wundertäter, dann Gaben, gesund zu machen, zu helfen, zu leiten und mancherlei Zungenrede.“ Etwas später erwähnt er auch noch die Gabe, Zungenrede auszulegen. Da fällt uns zunächst auf, dass Paulus die Jünger der ersten Stunde, zu denen ja auch Matthäus gehört, ganz an den Anfang gesetzt hat: „erstens Apostel“. Und dann fährt er mit seiner Nummerierung fort: „zweitens Propheten, drittens Lehrer“. Hier bricht die Nummerierung ab; die übrigen sechs Funktionen am Leib Christi haben keine Ziffern. Offenbar wollte Paulus die ersten drei Funktionen von den anderen sechs absetzen und sie herausheben: erstens Apostel, zweitens Propheten und drittens Lehrer. Es handelt sich dabei um besondere Ämter, durch die Gott sich den Menschen offenbart hat. Da sind die Apostel tatsächlich erstrangig wichtig, unter ihnen Matthäus: Nur durch sie sind uns die Worte und Taten von Jesus überliefert, nur sie haben das unter der Einwirkung des Heiligen Geistes zuverlässig und vollmächtig getan. Auf dem Zeugnis dieser Männer ruht die ganze christliche Kirche aller Zeiten, so wie es schon von der Jerusalemer Urgemeinde heißt: „Sie blieben beständig an der Apostel Lehre“ (Apostelgesch. 2,42). Die wahre Kirche muss apostolisch sein, gegründet auf dem Zeugnis der Apostel, der Augen- und Ohrenzeugen des Herrn Jesus Christus. Unterstützt wird ihr Zeugnis zweitens durch Personen, die durch unmittelbare Eingebung des Heiligen Geistes Gottes Willen erfahren und weitergesagt haben – das sind die Propheten. Und dann gibt es da drittens bis zum heutigen Tage noch diejenigen, die von Gott bevollmächtigt und beauftragt sind, das Wort der Apostel und Propheten in ihre jeweilige Zeit weiterzutragen – das sind die Hirten und Lehrer, also die ordinierten Pastoren. Erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer beziehungsweise Pastoren – aus der Kraft des göttlichen Wortes in ihren Mündern lebt und wächst die ganze Kirche. Auf diese Weise empfangen alle Glieder am Leib Christi die Schätze von Gottes Gnade und Barmherzigkeit.
Die übrigen genannten Funktionen dagegen beschreiben die aktive Seite eines Gliedes am Leib Christ mit einigen ausgewählten Beispielen. Da ist nun nichts mehr nummeriert, die Liste ist auch nicht vollständig. Wir würden heute wahrscheinlich ganz andere Dinge nennen als Beispiel dafür, wie Christen ihre Gaben in den Dienst stellen. Wunderheilungen und Zungenrede waren unter den ersten Christen offenbar wichtigere Themen als in unserer Zeit. Aber es kommt letztlich gar nicht darauf an, welche Beispiele hier genannt und welche weggelassen sind. Wichtig ist, dass jedes Glied am Leib Christi weiß: Gemeinschaft mit Jesus bedeutet nicht nur, durch das Evangelium beschenkt zu werden, sondern Gemeinschaft am Leib Christi bedeutet auch, sich vom Herrn Jesus Christus gebrauchen zu lassen und für ihn tätig zu werden. Da sollte sich niemand drücken. Andererseits sollte niemand meinen, er müsse alles tun oder er habe alle Gaben, die man als Jünger Jesu haben kann. Dieser Irrtum wird damals bei den Christen in Korinth verbreitet gewesen sein, denn Paulus hielt es für nötig, mahnend zu fragen: „Sind etwa alle Apostel? Sind alle Propheten? Sind alle Lehrer? Sind alle Wundertäter? Haben alle die Gabe, gesund zu machen? Reden alle in Zungen? Können alle auslegen?“ Kein Christ soll sich Ämter anmaßen oder Gaben einbilden, die Gott ihm nicht gegeben hat. Es gibt nur ein paar wenige Gaben, die so wichtig sind, dass Gott sie wirklich allen gegeben hat. Von denen sagt Paulus: „Strebt aber nach den größeren Gaben!“ Welche die größte unter diesen größeren Gaben ist, das entfaltet er dann im gesamten folgenden Kapitel – dem sogenannten Hohenlied der Liebe. Es gipfelt in dem Satz: „Die Liebe ist die größte unter ihnen“ (1. Kor. 13,13).
Liebe Brüder und Schwestern in Christus, lassen wir uns die Worte des Paulus gesagt sein und orientieren wir uns am Beispiel des Matthäus! Wir sind Glieder am Leib Christi. Wir leben davon, dass wir Gemeinschaft mit unserm Herrn haben. In dieser Gemeinschaft empfangen wir alles, was nötig ist für unser Leben in dieser und auch in der zukünftigen Welt. Wir empfangen es durch Gottes bevollmächtigte Boten, durch das Wort der Apostel und Propheten, der Hirten und Lehrer. Durch sie kommt das Evangelium zu uns, die frohe Botschaft von unserem Erlöser Jesus Christus, und damit der Heilige Geist, Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit. Zugleich ruft uns dieses Wort zur Mitarbeit und zum Zeugendienst auf – einen jeden mit den Gaben und Aufgaben, einen jeden mit den Fähigkeiten und Möglichkeiten, die Gott ihm dafür zur Verfügung stellt. Da brauchen wir gar nicht zu vergleichen. Da braucht sich niemand etwas darauf einzubilden, dass er mehr tut als andere. Und da braucht auch niemand zu verzagen, weil er mit seiner schwachen Kraft scheinbar so wenig tun kann. Am Leib sind alle Glieder wichtig: starke und schwache, bedeutende und unscheinbare. „Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |