Es ist vollbracht

Predigt über Johannes 19,30 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Das vorletzte Wort des Herrn klingt bereits wie ein aller­letztes: „Es ist voll­bracht.“ Dies ist wohl das bekannteste der sieben Worte Jesu am Kreuz. In der deutschen Sprache ist es sogar zu einer Redensart geworden. Wenn jemand mit einer lang­wierigen oder schwierigen Arbeit fertig ist, dann sagt er manchmal er­leichtert: Es ist vollbracht. Das klingt dann so wie: Jetzt bin ich fertig; endlich habe ich es geschafft. Aber dieses Verständnis ist nur ein sehr matter Abglanz von dem, was das Wort ur­sprüng­lich und eigentlich bei unserm Herrn und Heiland am Kreuz bedeutete. In der griechi­schen Sprache, in der es der Evangelist Johannes uns überliefert hat, ist es tatsächlich und buch­stäblich nur ein einziges Wort, eine einzige Verbform: Tetelestai. Dieses Verb hängt mit dem Wort „telos“ zusammen, zu deutsch „Ziel“. Jesus sagte also nicht: „Endlich bin ich fertig; die Qual ist über­standen“, sondern er sagte: „Ich bin am Ziel; das Werk ist vollendet.“

Zu den eindrucks­vollsten Stücken der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach gehört die Alt-Arie zu eben diesem sechsten Kreuzes­wort: „Es ist voll­bracht.“ Unendlich traurig klagt die Seele, die sich in des Herrn Leiden und Sterben vertieft: „Es ist vollbracht, / o Trost für die gekränkten Seelen, / die Trauernacht / lässt nun die letzte Stunde zählen.“ Aber dann tritt eine über­raschende Wende ein: Der Trauer­gesang schlägt plötzlich in Jubelmusik um, die Klage wird zum Triumph, das Largo wird zum Vivace. Es ist, als ob eine dunkle Wolkendecke aufreißt und die strahlende Sonne hervor­bricht. Nun jubelt die Seele: „Der Held aus Juda siegt mit Macht / und schließt den Kampf: Es ist voll­bracht.“

Ich bin am Ziel, ich habe den Kampf bis ans Ende durch­gestanden und nun den Sieg errungen – das bedeutet Jesu Wort „Es ist voll­bracht“. Es ist wie bei einem Marathon­läufer, der nach schier endlosen Strapazen nun endlich siegreich die Ziellinie überquert – nur mit dem Unter­schied, dass der Sportler diesen Kampf aus eigenem Antrieb und Ehrgeiz auf sich nimmt, während Jesus seinen Kampf im Auftrag des himmlischen Vaters gekämpft hat. Mehrmals zuvor sprach Jesus davon, dass er diesen Auftrag zuende­führen muss. Er sagte: „Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk“ (Joh. 4,34); für „vollenden“ steht da dasselbe Wort wie bei „Es ist voll­bracht“. Und er sagte: „Die Werke, die mir der Vater gegeben hat, damit ich sie vollende, eben diese Werke, die ich tue, bezeugen von mir, dass mich der Vater gesandt hat“ (Joh. 5,36); auch da steht für „vollenden“ dasselbe Wort wie bei „Es ist voll­bracht“. Und er betete: „Ich habe dich ver­herrlicht auf Erden und das Werk vollendet, dass du mir gegeben hast, damit ich es tue“ (Joh. 17,4); wieder steht da für „vollenden“ dasselbe Wort wie bei „Es ist voll­bracht“. Nichts anderes hat Jesus getan und vollbracht, als was der Vater ihm auftrug. Paulus bezeugte von ihm: „Er war gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Phil. 2,8). Der Vater hat es ihm deswegen auf­getragen, weil er uns liebt und weil er will, dass wir nicht an unserer Sünde zugrunde gehen, sondern erlöst werden. Christi Sieg am Kreuz ist unsere Erlösung – ein Sieg über die Sünde und über ihre unseligen Folgen bis hin zur ewigen Verdammnis.

Am Kreuz hat Jesus sein natürliches Erdenleben vollendet, das mit seiner Geburt in Bethlehem den Anfang genommen hat. Alles, was er in diesem Leben sagte, tat und erlitt, geschah ziel­gerichtet auf diesen Augenblick hin, bei dem er am Kreuz ausrief: „Es ist voll­bracht.“ Sein Kreuzestod war also keineswegs ein Scheitern, noch kam er unerwartet. Vielmehr hat Jesus ihn mehrfach angekündigt und dabei betont, dass das alles so geschehen muss. Als die Zeit dafür heran­gekommen war, ging er freiwillig nach Jerusalem – obwohl er genau wusste, dass dort seine Feinde saßen, die ihm nach dem Leben trachteten. Er versteckte sich nicht, und als man ihn festnahm, leistete er keinen Widerstand. Jesus war wie ein Lamm, das sich willig und stumm zum Schlachthof bringen lässt. Sein Tod war sein Ziel, sein Sieg, sein Lebenszweck als Mensch auf dieser Erde.

Aber was da in seiner Todesstunde „voll­bracht“ und ans Ziel gekommen ist, das ist viel mehr als seine Lebensgeschichte. Es ist zugleich das Ziel der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel. Gott hatte einst Abraham berufen und die Nachkommen von Abrahams Enkel Jakob zu seinem Eigentums­volk erwählt, um aus diesem Volk den Retter kommen zu lassen, der Segen bringt für alle Völker der Erde. Was Israels Propheten im Laufe der Geschichte verhießen, das alles zielt direkt oder indirekt letztlich ab auf die Stunde, in der Jesus am Kreuz Gottes Heilswerk vollendete; auch dies hat Jesus wiederholt betont. Die Weis­sagungen der Propheten erschließen sich in ihrem vollsten Sinn erst am Kreuz. Im Blick auf die Ver­heißungen des Alten Testaments können wir Jesu sechstes Kreuzeswort darum auch so übersetzen: „Es ist erfüllt“ – alles ist erfüllt, was in der Schrift zuvor verheißen wurde. Schließlich können wir den Bogen noch weiter spannen: Von Anfang an hatte Gott schon im Sinn, die Welt­geschichte auf diesen einen Punkt hinzu­führen, wo Jesus sein Erlösungs­werk für alle Menschen vollendet mit den Worten: „Es ist voll­bracht.“ Sein Tod am Kreuz und seine an­schließende Auf­erstehung sind somit das be­deutend­ste Ereignis der Welt­geschichte.

Wenn wir das recht bedenken, wird dieses sechste Wort unsers Herrn zu einem Kreuzeswort im wahrsten Sinne des Wortes. Was ist denn ein Kreuz von seinem grafischen Er­scheinungs­bild her? Eine lotrechte Linie schneidet eine waagerechte Linie. Die waagerechte Linie ist Sinnbild für unsere irdische Welt und den Verlauf der Geschichte. Die Zeit vergeht von links nach rechts wie in einer Textzeile oder wie auf der Zeitachse eines Diagramms. Die andere Linie schneidet die Zeitachse senkrecht von oben. Sie markiert einen Punkt auf ihr – den ent­scheiden­den Punkt, den wichtigsten Zeitpunkt in der Welt­geschichte: Jesus erlöst die Menschheit am Kreuz. Es ist nur ein Augenblick, und der Herr sagt mit nur einem Wort, was dieser Augenblick bedeutet: „Tetelestai – es ist voll­bracht.“ Deine Erlösung und meine Erlösung und die Erlösung aller anderen Menschen ist da vollendet worden. Dein Sieg und mein Sieg und der Sieg aller, die das im Glauben annehmen, ist da errungen worden. Jesu Tod am Kreuz ist die Mitte der Zeit, der Schnitt­punkt von waagerecht und lotrecht, der Kreuzungs­punkt von Welt­geschichte und Gottes ewiger Heils­geschichte, das Kreuz schlecht­hin. Die Propheten des Alten Testaments haben oft von den sogenannten „Letzten Tagen“ geredet, manchmal auch von der „Rückseite der Tage“, und haben ihre Heils­botschaft darauf bezogen. In eben diesen „letzten Tagen“ leben wir jetzt, nämlich nach dem großen „Es ist vollbracht“-Sieg unsers Heilandes. Für die Propheten des Alten Testaments war es die „Rückseite der Tage“, also die Zeit, die für sie jenseits des Kreuzungs­punkts von Jesu Tod lag. Wir aber leben diesseits dieses Kreuzungs­punkts, gewisser­maßen auf der „Vorder­seite“ der Tage, nämlich in Gottes Heilszeit des neuen Bundes. Und auch wenn wir uns noch in der Zeitlich­keit befinden und manches Kreuz der Nachfolge zu tragen haben, so steht doch auch schon über unserem Leben dieses großartige Sieges‑ und Voll­endungs­wort des Herrn: „Es ist voll­bracht.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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