Soziales Leiden

Predigt über Jeremia 15,10 zum Sonntag Judika

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Es gibt nur wenige Menschen, die so sehr leiden, dass sie sagen: „Weh mir, meine Mutter, dass du mich geboren hast!“ Oder sind es doch mehr, als man meint? Gibt es vielleicht viele, die zwar so denken, aber nicht wagen, diesen Gedanken aus­zusprechen? So wie Hiob es tat in seinem großen Leid, oder hier in unserm Fall der Prophet Jeremia?

Was können das für Leiden sein, die den Wunsch hervor­rufen, überhaupt nicht geboren zu sein? Zuerst denkt man da an körperliche Leiden: eine schwere Behinderung oder eine unheilbare Krankheit, die immer weiter fort­schreitet. Es ist aber nicht bekannt, dass Jeremia in solcher Weise körperlich leiden musste. Nun gibt es aber auch schwere seelische Leiden, De­pres­sionen zum Beispiel. Die können so schlimm werden, dass jemand nicht mehr leben möchte, ja, dass er diesen Wunsch sogar in die Tat umsetzt und sich selbst tötet. Wenn ein Psychologe das Buch des Propheten Jeremia liest, kann er auf den Gedanken kommen, dass Jeremia depressiv war. Viele seiner Klagen bezeugen, dass er überwiegend traurig durchs Leben gegangen ist. Allerdings wäre es falsch, den Propheten einseitig psycho­logisch zu betrachten; immerhin ist er Gottes Bote, und immerhin ist seine Propheten­schrift eine heilige Schrift. Wenn wir uns näher mit diesem Buch der Bibel be­schäftigen, dann werden wir fest­stellen: Jeremia war nicht deshalb traurig, weil er eine melan­cholische Veranlagung hatte und möglicher­weise unter De­pres­sionen litt, sondern er war traurig, weil seine Mitmenschen ihn ausgrenzten. Achtet mal darauf, wie seine Klage weitergeht: „Weh mir, meine Mutter, dass du mich geboren hast, gegen den jedermann hadert und streitet im ganzen Lande.“ Kein körper­liches Leiden, kein seelisches Leiden, sondern ein soziales Leiden verdarb ihm alle Freude am Leben. Jeremia hatte unter etwas zu leiden, was man heute „Mobbing“ nennt: Alle hackten auf ihm herum, und man grenzte ihn aus.

Warum hacken denn Menschen auf anderen herum, und warum grenzen sie manche aus? Sehr oft geht es um Geld und Macht. Da gibt es einfache Leute, die sich abmühen, wenigstens das Nötigste zum Leben zu bekommen. Oft sind sie sauer auf „die da oben“, die Super­reichen, die sich ein schönes Leben machen. Oft haben einfache Leute den Eindruck, dass die Reichen auf ihre Kosten leben: Sie leben von den Zins­erträgen und Renditen, für die andere hart arbeiten müssen. Es ist zum Beispiel erwiesen, dass die Hälfte des Kaufpreises für einen Neuwagen nicht für Material und Arbeits­kraft gebraucht wird, sondern an Investoren und Aktionäre geht. Ich will hier gar nicht die Probleme unseres Wirtschafts­systems disku­tieren, sondern ich stelle nur fest: Die meisten einfachen Leute sind auf reiche Zinsnehmer nicht gut zu sprechen. Aber es gibt auch das umgekehrte soziale Problem: Leute, die sich einen gewissen Wohlstand erarbeitet haben, selbst­ständige Handwerker zum Beispiel, sind nicht gut zu sprechen auf diejenigen, die sich auf Sozial­leistungen ausruhen und womöglich noch nicht einmal zufrieden sind mit dem, was sie kriegen. Sie sehen auf sie herab und nennen sie Schnorrer oder Sozial-Schmarotzer. Auch bei dieser Beobachtung geht es mir nicht darum, die Frage der sozialen Gerechtig­keit zu disku­tieren, sondern ich stelle wieder nur fest, dass sich aufgrund wirtschaft­licher Probleme soziale Gräben auftun. Solche Probleme gibt es übrigens nicht nur bei uns in der sozialen Markt­wirtschaft, die gibt es grund­sätzlich in allen Gesell­schafts­formen. Und es gibt sie auch im kleinen und über­schaubaren Bereich: von Reicheren fühlt man sich oft aus­gebeutet, von Ärmeren oft ausgenutzt.

Nun wieder zurück zu Jeremia. Lagen seinem sozialen Leiden auch solche wirtschaft­lichen Probleme zugrunde? War er ein Reicher, der andere ausbeutete, oder ein Armer, der andere an­schnorrte? Weder das Eine noch das Andere. Er beteuerte ja: „Ich habe weder auf Wucher­zinsen aus­geliehen, noch hat man mir geliehen, und doch flucht mir jedermann.“ Für Jeremias Leiden muss es also einen anderen Grund geben. Wer sein Propheten­buch aufmerksam liest, wird deutlich erkennen: Jeremia litt an der Gottlosig­keit seines Volkes. Das Volk diente nicht mehr treu Gott dem Herrn, der sich ihnen mit besonderer Liebe zugewandt hatte, sondern es diente heidnischen Götzen. Das Volk gehorchte nicht mehr Gottes Geboten, sondern es gehorchte seinem eigenen Bauch­gefühl. Jeremia war einer der wenigen im Lande, die noch ernsthaft nach Gottes Willen fragten. Darüber hinaus hatte der Herr ihm den Auftrag gegeben, sein Gericht an­zukündi­gen über die Gottlosig­keit des Volkes. Es war vor allem das Gesetz, das Jeremia predigen musste, also Gottes Zorn und Strafe für Sünder, die sich nicht ändern wollen. Jeremia hat diesen Auftrag treu ausgeführt, und zwar die meiste Zeit seines Lebens über. Schwer und bitter ist es ihm geworden, und es hat ihm keine Freund­schaften gebracht. Im Gegenteil: Dies war der Grund, warum man mit ihm haderte, warum man ihm fluchte und ihn ausgrenzte. Denn wer lässt sich schon gern ermahnen? Wer lässt sich gern seine Sünden vorhalten? Wer hört schon gern ernste Worte? Und wer will schon von drohendem Unheil wissen? Die meisten wollen das nicht. Die meisten wollen Spaß haben und gute Nachrichten hören. Die meisten wollen gepredigt bekommen, dass Gott sie lieb hat und segnet, so wie sie sind, und dass sie so bleiben können. Wer anders predigt, kann recht einsam werden.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, ich kann den Jeremia mit seinem sozialen Leid verstehen. Als Prediger beobachte ich an mir selbst: Wenn ich ein Gotteswort voller Trost und Freude auslege, dann macht mir das richtig Spaß, denn ich merke, dass die Menschen da gern zuhören. Wenn aber ein schwerer Text dran ist und ich auch etwas von Gottes Zorn und seinem Gericht sagen muss, dann fällt mir das schwer. Es gibt viele Menschen, die meinen, darüber solle man überhaupt nicht predigen, Gott sei ja gar nicht so. Aber die Bibel belehrt mich eines Besseren. Da kommt es dann zum Konflikt. Vor allem aber kenne ich auch das große Leid, mitten in einem Volk zu wohnen, das sich immer mehr von Gott abwendet. Die Götter heißen heute nicht mehr Baal und Astarte wie zu Jeremias Zeiten, sie heißen Unter­haltung und Selbst­bestimmung und Wohlstand. Das größte Problem ist dabei letztlich, dass jeder sein eigener Herr sein will und keinen Herrn über sich duldet, auch den Herrn im Himmel nicht.

Jeremia musste schwer leiden. Es war ein soziales Leiden an der Gott­losig­keit seines Volkes. Aber er erfuhr auch Gottes Trost: Gottes Wort gab ihm immer wieder neue Kraft. Nun ist er in die ewige Seligkeit eingegangen und wird dort nicht mehr bedauern, dass er geboren ist. Keiner braucht das zu bedauern, der sich von Gott und seinem Wort trösten lässt. Keiner braucht das zu bedauern, der durch Jesus ein neues Leben geschenkt bekommt. Das gilt auch, wenn Jesus-Jünger ebenso wie Jeremia und die anderen Gottesboten des Alten Testaments um ihres Glaubens willen viel leiden müssen. Es steckt sogar ein Stück Seligkeit in solchen Leiden, denn in ihnen bildet sich das Leiden unseres Herrn Jesus Christus ab, der für unsere Seligkeit gestorben ist. Auch in Jeremias Leiden bildet sich etwas von Christi Leiden ab, denn auch Christus ist nicht wegen Geld- und Machtfragen gehasst worden, sondern wegen Glaubens­fragen, und weil man an seiner Ver­kündi­gung Anstoß nahm.

Mag sein, dass heute Christen wieder verstärkt in Jeremia-ähnliche Situationen geraten. Aber in einer Hinsicht haben wir es doch wesentlich besser als er: Wir haben die Gemein­schaft der Brüder und Schwestern, die christliche Gemeinde, in der wir uns unter­einander verbunden wissen durch den Glauben an den auf­erstande­nen Herrn. Wenn wir davon richtig Gebrauch machen, dann kann uns uns soziales Leid erspart bleiben. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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