Mich dürstet

Predigt über Johannes 19,28 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Kennt ihr Durst? Sicher habt ihr alle schon einmal Durst gehabt. Trotzdem behaupte ich: Die meisten von euch kennen keinen Durst; auch ich kenne ihn nicht. Ich spreche von richtigem Durst, so wie man ihn in der Wüste bekommt, wenn man länger nichts getrunken hat. Da ist dann die Mundhöhle ganz aus­getrocknet, und die Zunge bleibt tatsächlich am Gaumen kleben, sodass man nicht mehr richtig sprechen kann. Der Kopf schmerzt und der ganze Körper ist überhitzt, weil sich nicht mehr genug Schweiß bildet.

Wir können davon ausgehen, dass Jesus am Kreuz solchen richtigen Durst hatte. Vielleicht hat er seit seiner Gefangennahme vor vielen Stunden nichts mehr getrunken. Als er ans Kreuz genagelt wird, will man ihm einen Betäubungs­trunk reichen, aber daran nippt er nur; er will kein Schmerz­mittel. Danach plagt ihn ent­setzlicher Durst, und er schreit: „Mich dürstet!“ Ich habe Durst! Ja, auch dies ist eines der vielen Leiden, die Jesus am Kreuz für uns durch­gemacht hat. Eine mitleidige Seele reicht ihm einen Schwamm zum Mund, getränkt mit Essig­wasser, dem üblichen Er­frischungs­getränk der Land­arbeiter. So erfährt der Herr ein wenig Linderung für seinen Durst.

Jesus hätte auch diese Qual stumm und klaglos ertragen, wenn das der Wille des Vaters gewesen wäre. Das war aber nicht der Fall. Es heißt aus­drücklich, dass er über seinen Durst gesprochen hat, „damit die Schrift erfüllt würde.“ Die heiligen Schriften des Alten Testaments haben ja den Durst des leidenden Messias prophezeit sowie auch die Art und Weise, wie dieser Durst gestillt wird; das sollte sich nun am Kreuz erfüllen. Im 69. Psalm heißt es: „Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst.“ Und im 22. Psalm heißt es: „Meine Zunge klebt mir am Gaumen.“

Erinnern wir uns: Der 22. Psalm ist der berühmte Leidens­psalm Christi. Er beginnt mit den Worten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Das war das vierte Kreuzeswort – ein Gebetsruf, ein Hilfeschrei in größter Not. Auch das fünfte Kreuzes­wort, das wir hier betrachten, kann als so ein Hilfeschrei und Gebetsruf angesehen werden: „Mich dürstet!“ Und wenn wir es mit dem vierten Kreuzeswort in Beziehung setzen, dann klagt Jesus nicht nur über den Durst seines Leibes, sondern auch über den Durst seiner Seele. Jesus hat am Kreuz nicht nur Durst nach Wasser, sondern auch Durst nach Gott. Es mangelt ihm nicht nur an einer Er­frischung, es mangelt ihm vor allem an der Nähe des himmlischen Vaters. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Mich dürstet – dürstet nach dir!“

In der Bibel können wir an vielen Stellen vom Durst lesen, sowohl vom Durst des Leibes als auch vom Durst der Seele. Die Israeliten hatten in der Wüste schlimmen Durst und planten schon einen Aufstand gegen Mose; da erlebten sie, dass Gott sie auf wunderbare Weise mit Wasser aus einem Felsen tränkte. Und der Prophet Amos kündigte einen Durst an nicht nach Wasser, sondern nach dem Wort des Herrn (Amos 8,11). So nötig wie der Leib das Wasser braucht, braucht die Seele Gottes Wort, Gottes Zuspruch, Gottes Nähe. Wenn beides fehlt, befindet sich der Mensch in größter Not – so wie unser Herr am Kreuz.

Erinnern wir uns nun auch aber an die Frucht, wozu Jesus vom Vater verlassen worden war: damit es uns Sündern erspart bleibt, jemals von Gott verlassen zu sein. Dies bekräftigt nun das fünfte Kreuzes­wort. Der Durst des Herrn bewirkt zusammen mit all seinen anderen Qualen, dass der Durst unserer Seelen nach Gott nicht ungestillt bleiben muss. Ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch so ein Verlangen nach Gottes Nähe hat, selbst wenn er sich solchen Durst nicht eingestehen will. Mancher versucht, ihn zu ignorieren, aber er quält ihn dennoch. Mancher versucht, diesen Durst mit Religion zu stillen, von Menschen gemacht – mit Meditation, Opfern oder Ritualen; aber das kann diesen Durst nicht stillen. Mancher sucht Hilfe in Gottes Wort, aber er achtet dabei nur auf das Gesetz, also auf die Gebote, auf das „Du sollst!“ und das „Du sollst nicht!“; da findet er ebenfalls nicht Gottes Nähe, sondern nur einen Gott, der sich im Zorn vom Sünder abwendet. Immer noch ist der Durst da, und er ist sehr groß. Der Dichter des 42. Psalms hat ihn so be­schrieben: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?“ Oder der Dichter von Psalm 63: „Gott, du bist mein Gott, den ich suche. Es dürstet meine Seele nach dir, mein ganzer Mensch verlangt nach dir aus trockenem, dürrem Land, wo kein Wasser ist.“ Oder der Dichter von Psalm 143: „Ich breite meine Hände aus zu dir; meine Seele dürstet nach dir wie ein dürres Land.“

Die Hilfe kommt aus demselben Mund, aus dem die Worte kamen: „Mich dürstet!“ Derselbe Mund hat nämlich auch verheißen: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtig­keit; denn sie sollen satt werden“ (Matth. 5,6). Es geht dabei nicht um die Gerechtig­keit, die Gottes Gesetz dem Frommen als Lohn verheißt für seine guten Werke. Nein es ist die Glaubens-Gerechtig­keit – die Gerechtig­keit, die Gott aus Gnade all denen zuspricht, die auf Jesus Christus vertrauen und auf sein Opfer am Kreuz. Sein Evangelium ist die Quelle, aus der diese Gerechtig­keit sprudelt. Hier wird unser Durst nach Gott nachhaltig gestillt. Der Mund, der am Kreuz ausrief: „Mich dürstet!“, der hat weiter verheißen: „Wer von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten“ (Joh. 4,14). Und: „Wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten“ (Joh. 6,35). Und: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“ (Joh. 7,37). Mit Jesu Kommen in die Welt und mit seinem Opfertod am Kreuz beginnt sich zu erfüllen, was der Prophet Jesaja so geweissagt hat: „Sie werden weder hungern noch dürsten, sie wird weder Hitze noch Sonne stechen; denn ihr Erbarmer wird sie führen und sie an die Wasser­quellen leiten“ (Jes. 49,10).

„Mich dürstet“, rief Jesus am Kreuz. Er litt die Qual von leiblichem und seelischem Durst. Er tat es, damit unser Durst nach Gott gestillt werden kann. Und dieser Durst wird wirklich gestillt werden, wenn wir zur Quelle des lebendigen Wassers kommen – zu unserem Herrn und Erlöser Jesus Christus und seinem Evangelium. Er ist der Fels, aus dem der himmlische Vater uns auf wunderbare Weise Wasser strömen lässt in der Wüste dieses Lebens – Wasser, das unseren Durst nachhaltig stillt. Wir brauchen nun nie mehr nach der Nähe Gottes zu dürsten, weil uns Gott mit Jesus schon ganz nahe ist und in Ewigkeit nahe bleiben wird. Amen.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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