Liebe Gemeinde!
In diesem Gottesdienst gibt es Menschenfleisch zu essen und Menschenblut zu trinken – ist das nicht schockierend? Es ist so schockierend, dass manch einer jetzt denken wird: Der spinnt ja. Es ist so schockierend, dass kaum ein Prediger es wagt, die leibliche Gegenwart des Herrn Jesus Christus im Abendmahl so zu formulieren. Es ist so schockierend, dass viele Christen und vor allem hochgelehrte Theologe allerlei komplizierte Erklärungen erfinden, warum man das nicht so sagen kann. Vor etwa 170 Jahren sagte beispielsweise ein Pfarrer am Fürstenwalder Dom in einer Predigt: „Es wird hoffentlich keiner unter den Anwesenden noch so abergläubisch sein zu meinen, dass sie hier den Leib und das Blut Jesu von Nazareth empfangen sollen.“ Vor etwa 500 Jahren beharrte der Theologe Huldreich Zwingli gegen Martin Luther darauf, dass Brot und Wein im Heiligen Abendmahl nur Leib und Blut Christi bedeuten, aber nicht wirklich sind. Und vor etwa 2000 Jahren nahmen viele aus dem größeren Jüngerkreis um Jesus Anstoß an seinen Worten: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken. Denn mein Fleisch ist die wahre Speise, und mein Blut ist der wahre Trank.“ (Joh. 6,54‑55)
Jesus hat diese Sätze in einer Predigt in Kapernaum gesagt. Was wir eben als Predigttext gehört haben, ist das Nachspiel zu dieser anstößigen Predigt. Sie hat einen Stimmungsumschwung in seiner großen Jüngerschar bewirkt, die bis dahin mit uneingeschränkter Begeisterung zu Jesus hielt. Viele empören sich: „Das ist eine harte Rede; das kann man sich ja gar nicht anhören!“ Das ist anstößig und schockierend – ist Jesus jetzt übergeschnappt? Sie wenden sich mit ihrer Empörung allerdings nicht direkt an Jesus. Sie fordern kein Predigt-Nachgespräch, sondern sie meckern hinter seinem Rücken. Das scheint bis heute eine der Lieblings-Sünden unter Jesus-Jüngern zu sein: hinter dem Rücken zu meckern. Jesus merkt das natürlich; er merkt ja alles. Und er geht auf die Unzufriedenen ein. Er fragt: „Ärgert euch das?“ Nun würde man erwarten, dass er irgendetwas Beschwichtigendes anfügt. Man würde erwarten, dass er mit irgendwelchen Erklärungen den Spitzen-Aussagen seiner Predigt die Schärfe nimmt und Verstehens-Brücken baut. Aber das tut er nicht. Im Gegenteil: Er gießt Öl ins Feuer. Er sagt: „Wie, wenn ihr nun sehen werdet den Menschensohn auffahren dahin, wo er zuvor war?“ Damit meint er: Ihr werdet noch viel schockierendere Sachen erleben. Uns fällt bei diesen Worten sofort seine Himmelfahrt ein, aber schockierend war die ja eigentlich nicht. Wenn wir im Johannes-Evangelium von Jesu „Auffahren“ oder „Erhöhung“ lesen, dann ist damit jedoch all das gemeint, was auf den tiefsten Punkt seiner Erniedrigung folgte. Wenn jemand den tiefsten Punkt erreicht, kann es danach ja nur bergauf gehen. Der tiefste Punkt von Jesu Erniedrigung aber ist sein Tod am Kreuz. Als er ausrief: „Es ist vollbracht“, da überschritt er diesen Punkt, und was folgte, war Erhöhung, Auffahrt, Triumph. Jesus deutet in seinem Predigt-Nachgespräch also an, dass er seinen Jüngern etwas noch Schockierenderes zumuten wird als das Essen seines Fleisches und das Trinken seines Blutes: das Schockierende nämlich, dass sein Leib einmal als blutiges Sühnopfer dargebracht wird, um den Zorn des himmlischen Vaters über die Sünden der Welt zu besänftigen. Das ist der Wendepunkt, das ist der Sieg Christi über die Sünde – der größte Sieg, den diese Welt jemals gesehen hat.
Der Opfertod Jesu am Kreuz ist tatsächlich so anstößig und schockierend, dass heutzutage auch für ihn viele Christen und hochgelehrte Theologen allerlei komplizierte Erklärungen erfinden, warum man das nicht so sagen kann. Seit einigen Jahren herrscht in der Theologie ein regelrechter Streit über die Frage, ob Gott am Kreuz wirklich seinen Sohn geopfert hat, damit sein Zorn über die Sünden der Menschheit besänftigt werde. Viele moderne Jünger sagen: „Das ist eine harte Rede, wer kann sie hören?“ Der gesunde Menschenverstand sagt: So grausam kann Gott doch nicht sein; das passt nicht zum meinem Gottesbild. Und viele Prediger vermeiden es lieber, so vom Kreuz Jesu zu sprechen. Wenn sie überhaupt vom Tod Jesu sprechen, dann nur als Beispiel für das Leiden der menschlichen Kreatur, nicht aber als Sieg des Herrn über die Sünde und ihre tödlichen Folgen. Ebenso haben viele Prediger zu Ostern Schwierigkeiten mit dem leeren Grab und der leiblichen Auferstehung des Herrn; ebenso zum Himmelfahrtstag mit der Tatsache, dass Jesus vor den Augen seiner Jünger sichtbar emporgehoben wurde, bis eine Wolke ihn ihren Blicken entzog.
Eigentlich gibt es nur zwei Weisen, mit der schockierenden Botschaft des Herrn und seiner Apostel ehrlich umzugehen: Entweder man nimmt sie mit all ihrer Anstößigkeit an, oder man lehnt sie ab. Entweder man glaubt Jesu Worten, oder man glaubt ihnen nicht. Dieses Entweder-Oder macht Jesus seinen Jünger mit den folgenden Worten klar. Er sagt: „Der Geist ist's, der lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und Leben. Aber es gibt einige unter euch, die glauben nicht.“ Es geht hier um das Entweder-Oder von heiß oder kalt, von Glaube oder Unglaube, von Fleisch oder Geist. „Fleisch“ steht dabei für all die Überzeugungen und Urteile, die der Mensch aus sich selbst hervorbringt; „Fleisch“ steht somit auch für das, was dem gesunden Menschenverstand entspricht. Bei der Alltagsbewältigung sowie bei allen innerweltlichen Fragen und Problemen ist der gesunde Menschenverstand durchaus sehr hilfreich, aber bei der Gotteserkenntnis versagt er jämmerlich. „Geist“ dagegen steht hier für alles, was Gott uns mit seinem Heiligen Geist offenbart, also durch Jesus und durch die Apostel und durch die Propheten und durch das Zeugnis der Bibel. „Geist“ steht somit auch für das, was Jesus in dem Predigtnachgespräch bezeichnet hat als „die Worte, die ich zu euch geredet habe.“ Dem „Fleisch“, also dem gesunden Menschenverstand, erscheint es schockierend und anstößig, mindestens unverständlich. Wirklicher Glaube, also wirkliches Vertrauen, bindet darum dem „Fleisch“ bei Fragen der Gottesoffenbarung einen Maulkorb um und stimmt uneingenschränkt Jesus zu, wie schockierend es auch sein mag, was er lehrt. Denn wir Menschen haben ja keinen eigenen Maßstab dafür, was ewige Wahrheit ist und was zum ewigen Leben führt, wir können uns da nur blind führen lassen. So akzeptiert der Glaubende vertrauensvoll Christi Worte selbst als Maßstab – ganz ohne komplizierte Deutungsversuche und einfach so, wie der Herr sie gesagt hat.
Gott weiß natürlich von Anfang an, welche Menschen solchen Glauben haben und welche nicht. Er weiß von Anfang an, wer bis zum Schluss ein treuer Jünger Jesu bleiben wird und wer sich vorher von ihm abwendet, weil ihm die Zumutung zu groß wird. Erstere nennt die Bibel die „Auserwählten“. Das bedeutet nicht, dass Gott willkürlich einigen den Glauben schenkt und anderen verweigert. Nein, Gott will ja, dass alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, denn er hat alle lieb. Aber weil er von vornherein weiß, wer seine Einladung annehmen wird und wer nicht, kann die Bibel von „Auserwählten“ sprechen, denen Gott den Glauben schenkt und bewahrt. Wir lesen in unserem Bibelabschnitt: „Jesus wusste von Anfang an, wer die waren, die nicht glaubten, und wer ihn verraten würde. Und er sprach: Darum habe ich euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn vom Vater gegeben.“
Jesus hat in seinem Predigtnachgespräch nichts zurückgenommen von seiner schockierenden Lehre, er hat sie im Gegenteil verschärft. Jesus ist kein Werbung treibender Unternehmer, der möglichst vielen Leuten ein Schmerzmittel verkaufen will. Jesus hält es aus, dass viele seiner bisherigen Anhänger nun verärgert und enttäuscht sind. Der Evangelist Johannes berichtet: „Von da an wandten sich viele seiner Jünger ab und gingen hinfort nicht mehr mit ihm.“ Auch wir sollten das aushalten, liebe Brüder und Schwestern. Natürlich versuchen wir mit aller Liebe und Geduld, Menschen in die Kirche einzuladen und sie für Gottes Reich zu gewinnen, und es wäre schlimm, wenn wir das nicht versuchen würden. Aber auch wir wollen hier kein Schmerzmittel verkaufen oder den gesunden Menschenverstand bedienen. Wir haben vielmehr einen Auftrag vom Herrn, und der lautet: „Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe!“ (Matth. 28,19). Wir sind berufen und gesandt, Worte des Geistes weiterzusagen, nicht Worte des Fleisches. Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, auch die unverständliche und sogar schockierende Seite des Evangeliums zu verkündigen. Weder die leibliche Gegenwart des Herrn im Abendmahl noch sein Sühneopfer am Kreuz noch seine leibliche Auferstehung und Himmelfahrt dürfen wir verschweigen, abschwächen, umdeuten oder für überholt erklären. Auf die Gefahr hin, dass nur wenige kommen und noch weniger bleiben: Bei der Botschaft des Evangeliums dürfen wir keine Kompromisse machen.
Jesus hält es aus, dass ihn viele zunächst begeisterte Jünger später wieder verlassen. Er fragt lediglich diejenigen, die bei ihm geblieben sind: „Wollt ihr auch weggehen?“ Es ist so, als sagte er liebevoll und auch ein bisschen traurig: Ich werde euch nicht hindern, ich zwinge niemanden zu seinem Heil. Ihr seid frei; ihr könnt mich verlassen, wenn ihr wollt. Es ist die Frage, die Jesus auch uns immer wieder stellt, denn auch wir sind ja seine Jünger: „Wollt ihr auch weggehen?“ Vielleicht nur innerlich, indem ihr für euch selbst Abstriche macht von Gottes heiligem Evangelium und der christlichen Lehre? Gebe Gott, dass wir wie Petrus und alle treuen Jünger antworten: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |