Jesus schockiert

Predigt über Johannes 6,60‑69 zum Sonntag Lätare

Liebe Gemeinde!

In diesem Gottes­dienst gibt es Menschen­fleisch zu essen und Menschen­blut zu trinken – ist das nicht scho­ckierend? Es ist so scho­ckierend, dass manch einer jetzt denken wird: Der spinnt ja. Es ist so scho­ckierend, dass kaum ein Prediger es wagt, die leibliche Gegenwart des Herrn Jesus Christus im Abendmahl so zu formu­lieren. Es ist so scho­ckierend, dass viele Christen und vor allem hoch­gelehrte Theologe allerlei kompli­zierte Erklärungen erfinden, warum man das nicht so sagen kann. Vor etwa 170 Jahren sagte beispiels­weise ein Pfarrer am Fürsten­walder Dom in einer Predigt: „Es wird hoffentlich keiner unter den Anwesenden noch so aber­gläubisch sein zu meinen, dass sie hier den Leib und das Blut Jesu von Nazareth empfangen sollen.“ Vor etwa 500 Jahren beharrte der Theologe Huldreich Zwingli gegen Martin Luther darauf, dass Brot und Wein im Heiligen Abendmahl nur Leib und Blut Christi bedeuten, aber nicht wirklich sind. Und vor etwa 2000 Jahren nahmen viele aus dem größeren Jüngerkreis um Jesus Anstoß an seinen Worten: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auf­erwecken. Denn mein Fleisch ist die wahre Speise, und mein Blut ist der wahre Trank.“ (Joh. 6,54‑55)

Jesus hat diese Sätze in einer Predigt in Kapernaum gesagt. Was wir eben als Predigttext gehört haben, ist das Nachspiel zu dieser anstößigen Predigt. Sie hat einen Stimmungs­umschwung in seiner großen Jüngerschar bewirkt, die bis dahin mit un­einge­schränk­ter Be­geisterung zu Jesus hielt. Viele empören sich: „Das ist eine harte Rede; das kann man sich ja gar nicht anhören!“ Das ist anstößig und scho­ckierend – ist Jesus jetzt über­geschnappt? Sie wenden sich mit ihrer Empörung allerdings nicht direkt an Jesus. Sie fordern kein Predigt-Nach­gespräch, sondern sie meckern hinter seinem Rücken. Das scheint bis heute eine der Lieblings-Sünden unter Jesus-Jüngern zu sein: hinter dem Rücken zu meckern. Jesus merkt das natürlich; er merkt ja alles. Und er geht auf die Un­zufriedenen ein. Er fragt: „Ärgert euch das?“ Nun würde man erwarten, dass er irgendetwas Be­schwichti­gendes anfügt. Man würde erwarten, dass er mit irgend­welchen Erklärungen den Spitzen-Aussagen seiner Predigt die Schärfe nimmt und Verstehens-Brücken baut. Aber das tut er nicht. Im Gegenteil: Er gießt Öl ins Feuer. Er sagt: „Wie, wenn ihr nun sehen werdet den Menschen­sohn auffahren dahin, wo er zuvor war?“ Damit meint er: Ihr werdet noch viel scho­ckierendere Sachen erleben. Uns fällt bei diesen Worten sofort seine Himmelfahrt ein, aber scho­ckierend war die ja eigentlich nicht. Wenn wir im Johannes-Evangelium von Jesu „Auffahren“ oder „Erhöhung“ lesen, dann ist damit jedoch all das gemeint, was auf den tiefsten Punkt seiner Er­niedri­gung folgte. Wenn jemand den tiefsten Punkt erreicht, kann es danach ja nur bergauf gehen. Der tiefste Punkt von Jesu Er­niedri­gung aber ist sein Tod am Kreuz. Als er ausrief: „Es ist voll­bracht“, da überschritt er diesen Punkt, und was folgte, war Erhöhung, Auffahrt, Triumph. Jesus deutet in seinem Predigt-Nach­gespräch also an, dass er seinen Jüngern etwas noch Scho­ckieren­deres zumuten wird als das Essen seines Fleisches und das Trinken seines Blutes: das Scho­ckierende nämlich, dass sein Leib einmal als blutiges Sühnopfer dargebracht wird, um den Zorn des himmlischen Vaters über die Sünden der Welt zu be­sänftigen. Das ist der Wendepunkt, das ist der Sieg Christi über die Sünde – der größte Sieg, den diese Welt jemals gesehen hat.

Der Opfertod Jesu am Kreuz ist tatsächlich so anstößig und scho­ckierend, dass heutzutage auch für ihn viele Christen und hoch­gelehrte Theologen allerlei kompli­zierte Erklärungen erfinden, warum man das nicht so sagen kann. Seit einigen Jahren herrscht in der Theologie ein regel­rechter Streit über die Frage, ob Gott am Kreuz wirklich seinen Sohn geopfert hat, damit sein Zorn über die Sünden der Menschheit besänftigt werde. Viele moderne Jünger sagen: „Das ist eine harte Rede, wer kann sie hören?“ Der gesunde Menschen­verstand sagt: So grausam kann Gott doch nicht sein; das passt nicht zum meinem Gottesbild. Und viele Prediger vermeiden es lieber, so vom Kreuz Jesu zu sprechen. Wenn sie überhaupt vom Tod Jesu sprechen, dann nur als Beispiel für das Leiden der mensch­lichen Kreatur, nicht aber als Sieg des Herrn über die Sünde und ihre tödlichen Folgen. Ebenso haben viele Prediger zu Ostern Schwierig­keiten mit dem leeren Grab und der leiblichen Auf­erstehung des Herrn; ebenso zum Himmel­fahrts­tag mit der Tatsache, dass Jesus vor den Augen seiner Jünger sichtbar empor­gehoben wurde, bis eine Wolke ihn ihren Blicken entzog.

Eigentlich gibt es nur zwei Weisen, mit der scho­ckierenden Botschaft des Herrn und seiner Apostel ehrlich umzugehen: Entweder man nimmt sie mit all ihrer An­stößig­keit an, oder man lehnt sie ab. Entweder man glaubt Jesu Worten, oder man glaubt ihnen nicht. Dieses Entweder-Oder macht Jesus seinen Jünger mit den folgenden Worten klar. Er sagt: „Der Geist ist's, der lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und Leben. Aber es gibt einige unter euch, die glauben nicht.“ Es geht hier um das Entweder-Oder von heiß oder kalt, von Glaube oder Unglaube, von Fleisch oder Geist. „Fleisch“ steht dabei für all die Über­zeugungen und Urteile, die der Mensch aus sich selbst hervor­bringt; „Fleisch“ steht somit auch für das, was dem gesunden Menschen­verstand entspricht. Bei der Alltags­bewältigung sowie bei allen inner­weltlichen Fragen und Problemen ist der gesunde Menschen­verstand durchaus sehr hilfreich, aber bei der Gottes­erkenntnis versagt er jämmerlich. „Geist“ dagegen steht hier für alles, was Gott uns mit seinem Heiligen Geist offenbart, also durch Jesus und durch die Apostel und durch die Propheten und durch das Zeugnis der Bibel. „Geist“ steht somit auch für das, was Jesus in dem Predigt­nachgespräch bezeichnet hat als „die Worte, die ich zu euch geredet habe.“ Dem „Fleisch“, also dem gesunden Menschen­verstand, erscheint es scho­ckierend und anstößig, mindestens un­verständ­lich. Wirklicher Glaube, also wirkliches Vertrauen, bindet darum dem „Fleisch“ bei Fragen der Gottes­offenbarung einen Maulkorb um und stimmt un­eingen­schränkt Jesus zu, wie scho­ckierend es auch sein mag, was er lehrt. Denn wir Menschen haben ja keinen eigenen Maßstab dafür, was ewige Wahrheit ist und was zum ewigen Leben führt, wir können uns da nur blind führen lassen. So akzeptiert der Glaubende ver­trauens­voll Christi Worte selbst als Maßstab – ganz ohne kompli­zierte Deutungs­versuche und einfach so, wie der Herr sie gesagt hat.

Gott weiß natürlich von Anfang an, welche Menschen solchen Glauben haben und welche nicht. Er weiß von Anfang an, wer bis zum Schluss ein treuer Jünger Jesu bleiben wird und wer sich vorher von ihm abwendet, weil ihm die Zumutung zu groß wird. Erstere nennt die Bibel die „Aus­erwählten“. Das bedeutet nicht, dass Gott willkürlich einigen den Glauben schenkt und anderen verweigert. Nein, Gott will ja, dass alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, denn er hat alle lieb. Aber weil er von vornherein weiß, wer seine Einladung annehmen wird und wer nicht, kann die Bibel von „Aus­erwählten“ sprechen, denen Gott den Glauben schenkt und bewahrt. Wir lesen in unserem Bibel­abschnitt: „Jesus wusste von Anfang an, wer die waren, die nicht glaubten, und wer ihn verraten würde. Und er sprach: Darum habe ich euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn vom Vater gegeben.“

Jesus hat in seinem Predigt­nachgespräch nichts zurück­genommen von seiner scho­ckierenden Lehre, er hat sie im Gegenteil verschärft. Jesus ist kein Werbung treibender Unter­nehmer, der möglichst vielen Leuten ein Schmerz­mittel verkaufen will. Jesus hält es aus, dass viele seiner bisherigen Anhänger nun verärgert und enttäuscht sind. Der Evangelist Johannes berichtet: „Von da an wandten sich viele seiner Jünger ab und gingen hinfort nicht mehr mit ihm.“ Auch wir sollten das aushalten, liebe Brüder und Schwestern. Natürlich versuchen wir mit aller Liebe und Geduld, Menschen in die Kirche einzuladen und sie für Gottes Reich zu gewinnen, und es wäre schlimm, wenn wir das nicht versuchen würden. Aber auch wir wollen hier kein Schmerz­mittel verkaufen oder den gesunden Menschen­verstand bedienen. Wir haben vielmehr einen Auftrag vom Herrn, und der lautet: „Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe!“ (Matth. 28,19). Wir sind berufen und gesandt, Worte des Geistes weiter­zusagen, nicht Worte des Fleisches. Wir dürfen nicht davor zurück­schrecken, auch die un­verständ­liche und sogar scho­ckieren­de Seite des Evangeliums zu ver­kündigen. Weder die leibliche Gegenwart des Herrn im Abendmahl noch sein Sühneopfer am Kreuz noch seine leibliche Auf­erstehung und Himmelfahrt dürfen wir ver­schweigen, ab­schwächen, umdeuten oder für überholt erklären. Auf die Gefahr hin, dass nur wenige kommen und noch weniger bleiben: Bei der Botschaft des Evangeliums dürfen wir keine Kompromisse machen.

Jesus hält es aus, dass ihn viele zunächst begeisterte Jünger später wieder verlassen. Er fragt lediglich diejenigen, die bei ihm geblieben sind: „Wollt ihr auch weggehen?“ Es ist so, als sagte er liebevoll und auch ein bisschen traurig: Ich werde euch nicht hindern, ich zwinge niemanden zu seinem Heil. Ihr seid frei; ihr könnt mich verlassen, wenn ihr wollt. Es ist die Frage, die Jesus auch uns immer wieder stellt, denn auch wir sind ja seine Jünger: „Wollt ihr auch weggehen?“ Vielleicht nur innerlich, indem ihr für euch selbst Abstriche macht von Gottes heiligem Evangelium und der christ­lichen Lehre? Gebe Gott, dass wir wie Petrus und alle treuen Jünger antworten: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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