Siehe, das ist dein Sohn! Siehe, das ist deine Mutter!

Predigt über Johannes 19,26‑27 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Das erste Kreuzeswort unsers Herrn betraf die, die ihn ans Kreuz schlugen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Das zweite Kreuzeswort betraf einen, der zusammen mit Jesus ans Kreuz geschlagen worden war: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Das dritte Kreuzes­wort, das wir jetzt bedenken wollen, betraf zwei Menschen, die die Kreuzigung miterlebten – zwei Menschen, die Jesus sehr nahe standen: Seine Mutter Maria und den Jünger Johannes. Alle anderen Jünger waren geflohen und hatten sich versteckt; nur dieser eine hatte es gewagt, seinen Herrn bis ans Kreuz zu begleiten. So ähnlich ist es danach immer wieder geschehen in der Christen­heit: Viele verlassen ihren Herrn, wenn es brenzlig wird, aber einige bleiben treu bei ihm.

Zum dritten Mal also denkt unser Herr mit einem Kreuzes­wort an andere. Er blickt Maria an und sagt: „Frau, siehe, das ist dein Sohn!“ Er blickt Johannes an und sagt: „Siehe, das ist deine Mutter!“ Wenn wir das einfach so hören, schenken wir dem Wörtchen „siehe“ keine Beachtung; es scheint ein bedeutungs­loses Füllwort zu sein. Aber wir sollten uns bewusst machen, dass bei unserm Herrn Jesus Christus kein Wort bedeutungs­los ist. So ist es auch mit dem Wörtchen „siehe“. Es begegnet uns häufig in der Bibel. Hebräisch sprechende Menschen benutzten es in ganz alten Zeiten, wenn sie anderen einen Auftrag gaben. So forderte zum Beispiel Josef die Ägypter auf, nachdem der Pharao ihn zu seinem obersten Verwalter gemacht hatte: „Siehe, da habt ihr Korn zur Saat, und nun besät das Feld!“ (1. Mose 47,23). Auch das dritte Kreuzes­wort ist ein Auftrag. Zuerst beauftragt Jesus seine Mutter, den Jünger Johannes wie einen Sohn anzusehen: „Frau, siehe, das ist dein Sohn!“ Jesus redet sie mit „Frau“ an, wie er es ein paar Jahre zuvor auf der Hochzeit zu Kana getan hat. Auch da hatte er mit Autorität zu ihr geredet und gesagt: „Was geht's dich an, Frau, was ich tue? Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh. 2,4). Hier nun sagt er: „Frau, siehe, das dein Sohn!“ Den Jünger Johannes aber beauftragt Jesus, sich künftig so um Maria zu kümmern, wie sich ein Sohn um seine Mutter kümmern soll: „Siehe, das ist deine Mutter!“ Jesus kann ja nun nicht mehr direkt selbst für seine Mutter sorgen, wie es eigentlich die Pflicht des Ältesten ist; darum delegiert er diese Aufgabe an Johannes. Obwohl er in großem Leid und Schmerz steckt, erweist er sich als treuer Sohn, der das 4. Gebot ernstnimmt: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.“

Ja, so wird dieses dritte Kreuzes­wort meistens verstanden und ausgelegt: als Ausdruck der liebevollen Fürsorge des Sohnes für seine Mutter. Johannes hat Maria dann ja auch in seinem Haushalt auf­genommen. Aber damit ist noch nicht alles gesagt, was zu diesem Wort zu sagen ist. Martin Luther schrieb in seiner Haus-Postille zu der schon damals allgemein ver­breiteten Deutung: „Ob nun wohl solches nicht unrecht gedeutet ist, so ist es doch viel zu eng. Denn was der Herr hier am Kreuz tut und redet, soll man nicht ein­schränken auf wenige einzelne Personen. Er fasst mit seinem Werk und Worten die ganze Welt, besonders aber seine christliche Kirche. Darum müssen wir dieses Wort, obgleich Christus zu Maria und Johannes allein redet, auch einen allgemeinen Befehl sein lassen gegen alle Christen und die ganze Kirche, dass wir alle unter­einander (weil Christus am Kreuz hängt und uns alle durch seinen Tod von Sünde und Tod erlöst) sollen sein wie Mutter und Sohn, die einander herzlich lieb haben, und helfen und raten, womit sie können.“

In diesem weiteren Sinn betrifft auch das dritte Kreuzes­wort wieder uns alle: Christus setzt uns, seine Jünger, in ein enges Verhältnis zueinander wie nahe Verwandte, wie Eltern und Kinder, wie Mutter und Sohn. Schon vorher hat er ja aus­drücklich gelehrt: „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“ (Markus 3,35). Gottes Willen tun ist nichts anderes als an den Sohn Gottes glauben und an seine Erlösung. Wenn wir also durch Glaube und Taufe Gottes Kinder geworden sind, dann gehören wir zu Gottes Familie. Wir sollen dann auch füreinander da sein wie nahe Angehörige; wir sollen liebevoll einander annehmen. Diese herzliche Liebe soll sogar unser besonderes Erkennungs­zeichen vor den anderen Menschen sein, wie Christus sagte: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe unter­einander habt“ (Joh. 13,35). Wie er einst zu den beiden ihm nahe­stehenden Menschen unter dem Kreuz sagte: „Siehe, das ist dein Sohn; siehe, das ist deine Mutter!“, so sagt er uns: Siehe, das ist dein Bruder in Christus! Siehe, das ist deine Schwester in Christus! Siehe, er sei dir wie ein Sohn! Siehe, sie sei dir wie eine Mutter! Dieses Kreuzes­wort ist ein heiliges Vermächtnis und eine große Aufgabe unsers Herrn, der selbst am Kreuz die größte Liebe an uns allen erwiesen hat.

Ich komme noch einmal auf das Wörtchen „siehe“ zurück. An vielen Stellen im Alten Testament bezeichnet es nicht eine Anweisung, wie es in alter Zeit war, sondern eine An­kündigung. Ganz viele Propheten­worte beginnen mit so einem an­kündi­genden „Siehe“. Jesaja sagte: „Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären“ (Jesaja 7,14). Jeremia prophe­zeite: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen“ (Jer. 31,31). Und Hesekiel weissagte im Namen des Herrn: „Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen“ (Hes. 34,11). So wird das „Siehe“ von einem Kennzeichen des Gesetzes zu einem Kennzeichen der Verheißung, also des Evan­geliums. Wir können das auf Jesu drittes Wort am Kreuz beziehen: Dass der Herr Menschen, die nicht miteinander verwandt sind, unter dem Kreuz einander zu engsten Verwandten setzt, das ist nicht nur sein Wunsch und seine Anweisung, sondern das ist zugleich eine große Verheißung. Er hat damit prophezeit, dass die Erlösung am Kreuz nicht nur einzelne Menschen aus der Gewalt der Sünde und des Todes heraus­reißt, sondern dass er diese Menschen auch zu engster Gemein­schaft zusammen­schweißt: zu einem Volk, zu einer Familie, zu einem Leib – dem Leib Christi. Was diese Verheißung bedeutet, das feiern und erleben wir unter anderem im Heiligen Abendmahl (und eigentlich nirgends intensiver als da): Indem wir den Leib des Herrn empfangen und aus einem Kelch sein Blut trinken, werden wir zur Einheit seines Leibes, seiner heiligen Gemeinde. „Siehe, das ist dein Sohn; siehe das ist deine Mutter“ – man wird es überall da merken, wo der Geist Christi sich stärker erweist als der Geist des Egoismus, der Geist der Vorurteile und der Geist der Spaltung.

Liebe Brüder und Schwestern, gebe Gott, dass es unter uns so ist. Gebe Gott, dass unter uns solche Liebe und gegenseitige Annahme herrscht, wie sie dem Willen des Ge­kreuzigten entspricht. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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