Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
In den Wochengottesdiensten dieser Passionszeit möchte ich mit euch die sieben Worte bedenken, die unser Herr und Heiland Jesus Christus am Kreuz gesprochen hat. Es handelt sich dabei nicht einfach um die letzten Worte eines berühmten Menschen; es sind ja weder seine letzten Worte, noch können wir sie mit den Worten anderer Sterbender vergleichen. Mit diesen sieben Worten am Kreuz hat uns Jesus vielmehr sein Herz geöffnet, und damit zugleich das große liebende Herz unsers himmlischen Vaters. Der schwärzeste Tag der Weltgeschichte wurde zum wichtigsten und seligsten Tag, zum Tag unserer Erlösung – nichts anderes bezeugen uns die sieben Kreuzesworte.
Beim ersten, vierten und siebenten Kreuzeswort handelt es sich um Gebete. Jesus hat uns damit ein Beispiel gegeben, dass Anfang, Mitte und Ende all unsers Redens und Tuns vom Gebet durchdrungen sein sollen. So beginnt das erste Kreuzeswort mit dieser wunderbaren Anrede an Gott, die wir nur deshalb in den Mund nehmen dürfen, weil Jesus sie uns vorgesprochen hat: „Vater!“ Dabei ist zu bedenken: Jesus betete so, als er in größten Schmerzen war. Die nächtlichen Verhöre, das Anspucken und das Auspeitschen waren harmlos im Vergleich zu der Qual, an einen Holzbalken genagelt und an einem Foltergestell aufgehängt zu werden. Es wäre nur allzu verständlich, wenn Jesus in dieser Situation das Wort „Vater!“ hinausgeschrien hätte wie einen verzweifelten Hilferuf. Aber es ist kein Hilferuf, sondern, o Wunder, es ist eine Fürbitte: „Vater, vergib ihnen!“ Jesus hat Feindesliebe nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt – bis hin zur bittersten Konsequenz. Er bat um Vergebung für die Folterknechte, für seine Peiniger, die römischen Soldaten, die ihn ans Kreuz nagelten. Die menschliche Natur will am liebsten fluchen und diesen brutalen Leuten schlimmste Strafen auf den Hals wünschen. Aber Jesus möchte, dass sie diese Sünde im letzten Gericht nicht vorgehalten bekommen. Jesus will, dass sie selig werden. Damit hat er erfüllt, was der Prophet Jesaja so voraussagte: „Er hat für die Übeltäter gebeten“ (Jes. 53,12).
Jesu Fürbitte galt nicht nur den Kriegsknechten, sondern auch allen anderen, die an seiner Verurteilung schuld waren. In seiner Pfingstpredigt und auch später hielt Petrus diese Schuld dem ganzen jüdischen Volk vor; sie hatten schließlich mit ihren „Kreuzige!“-Rufen Pilatus zu seinem Todesurteil gedrängt. Aber Petrus sagte den Juden auch: „Liebe Brüder, ich weiß, dass ihr's aus Unwissenheit getan habt wie auch eure Oberen“ (Apostelgesch. 3,17). Und Paulus schrieb den Korinthern von den weltlichen Herrschern, die Jesu Hinrichtung zu verantworten hatten: „Wir reden von der Weisheit…, die keiner von den Herrschern dieser Welt erkannt hat; denn wenn sie die erkannt hätten, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt“ (1. Kor. 2,7‑8). Und schließlich müssen auch wir selbst uns zu denen rechnen, die für Jesu Tod verantwortlich sind: Letztlich sind es ja die Sünden der ganzen Welt, auch unsere Sünden, die ihn ans Kreuz gebracht haben. So dürfen wir uns im Geist unters Kreuz stellen und miterleben, wie Jesus da in seiner größten Qual auch für uns Fürbitte tut: „Vater, vergib ihnen!“ Der Apostel Johannes hat darum später in seinem ersten Brief geschrieben: „Wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus“ (1. Joh. 2,1).
Ja, Jesus betet für uns und alle Sünder: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Aber wissen wir wirklich nicht, was wir tun? Und haben dann die, die bewusst sündigen, keine Hoffnung auf Vergebung? Wir merken: Dieser zweite Teil von Jesu erstem Kreuzeswort hat es in sich: „… denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Vielleicht waren die Kriegsknechte damals wirklich so einfältig und abgestumpft, dass sie nicht merkten, was sie da Böses taten. Vielleicht dachten sie: Wir tun ja nur unsere Pflicht. Ebenso wie die Aufseher in den Konzentrationslagern „nur ihre Pflicht“ taten, oder die Mauerschützen an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Aber auch wenn Menschen „nur ihre Pflicht“ tun, bleibt böses Handeln dennoch böse; und die so tun, sind dafür verantwortlich. Was die weiteren Mitschuldigen an der Kreuzigung anbetrifft, so merkten sie durchaus, dass sie etwas falsch machten: Pilatus wusste ganz genau, dass er da einen Unschuldigen zum Tode verurteilt. Und der hohepriesterliche Rat hätte um die Festnahme Jesu nicht so viel Geheimniskrämerei machen und dafür auch noch 30 Silberlinge ausgeben müssen, wenn er es mit gutem Gewissen hätte tun können. Auch wir, liebe Brüder und Schwestern in Christus, merken meistens sehr genau: Was ich hier gerade tue oder was ich getan habe, das kann Gott nicht gefallen. Könnte es also sein, dass wir Jesu Fürbitte gar nicht auf uns beziehen dürfen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“? Vergessen wir aber nicht, in welcher Situation Jesus das gesagt hat: Er sagte es, als man ihn, den eingeborenen Sohn, den wahren Gott, ans Kreuz schlug. Würdest du nicht zu Tode erschrocken innehalten, wenn du merktest, dass du mit deinem Verhalten den Gottessohn kreuzigst? Aber wir merken es nicht, wir erkennen es leider erst im Nachhinein. Wer allerdings mit voller Absicht Gott quälen und aus dem Weg räumen will, der begeht eine Sünde, die Jesus „Sünde wider den Heiligen Geist“ nannte; für diese Sünde gibt es keine Vergebung. Seht, so hat Jesus seine Bitte gemeint: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Auch wenn wir immer wieder sündigen und uns das immer wieder erschreckend bewusst wird: Unsern Heiland aus dem Weg räumen wollen wir nicht. Im Gegenteil: Wir brauchen ihn nötiger als alles andere, und darum suchen wir ihn und nehmen dankbar an, was er uns durch sein Leiden und Sterben schenkt: die Vergebung unserer Sünden. Diese Liebe des Herrn verändert uns. Sie verändert uns in der Weise, dass wir beten können: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Denn Jesu Fürbitte um Vergebung gibt uns nicht nur Heil und ewiges Leben, sondern sie gibt uns auch ein gutes Vorbild. Der erste Christ, der um seines Glaubens willen umgebracht wurde, hat sich an diesem Vorbild orientiert. Es war Stephanus, einer der sieben Diakone in der Jerusalemer Urgemeinde. Als man ihn wegen seines Bekenntnisses zu Christus steinigte, waren seine letzten Worte: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (Apostelgesch. 7,60). Ein Mensch, der solche Feindesliebe aufbringt, tut Übermenschliches. Natürlicherweise würde man sagen: Wenn mir andere so gemein und böswillig mitspielen, dann kann ich ihnen nicht vergeben. Aber von Jesus empfangen wir die Kraft, dieses Übermenschliche zu tun. Ja, von Jesus empfangen wir die Kraft, unsern Schuldigern zu vergeben – allen Schuldigern. Statt zu fluchen oder zu grollen oder die, die an uns schuldig geworden sind, links liegen zu lassen, können wir wie Jesus beten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |