Beschneidung und Glaubens­gerechtigkeit

Predigt über Römer 4,6-12 zum Sonntag Septuagesimä

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Der Freiheits­kämpfer Nelson Mandela ist in der Tradition seines afri­kanischen Stammes auf­gewachsen. Dazu gehört, dass er als Jugend­licher beschnitten wurde. In seinen Lebens­erinne­rungen hat er ausführlich von dieser Zeremonie berichtet: Zusammen mit gleich­altrigen Jungs verbrachte er zunächst einige Wochen an einem abgelegenen Ort im Be­schneidungs-Lager. Als dann der große Tag heran­gekommen war, mussten sich alle neben­einander nackt auf den Boden setzen. Ohne Betäubung wurde dann jedem von ihnen mit einem scharfen Messer ein Stück von der Penis-Vorhaut ab­geschnitten. Danach musste jeder ausrufen: Jetzt bin ich ein Mann! Nelson Mandela schreibt, dass er vor Schmerzen diese Worte kaum hervor­bringen konnte.

Nicht nur bei den Bantus werden junge Männer traditio­nell be­schnitten, auch in anderen Kulturen ist das üblich. So werden ebenfalls in islamischen Familien die Jungs be­schnitten. Eine besondere Rolle spielt die Be­schneidung bei den Juden. Die jüdische Be­schneidung ist kein Übergangs­ritus vom Jungen zum Mann, so wie es bei Mandela der Fall war, der ausrufen musste: Jetzt bin ich ein Mann! Bei den Juden werden männliche Babys bereits im Alter von acht Tagen be­schnitten; so war es ja auch bei Jesus. Die Be­schneidung ist für die Juden das Zeichen der Volks­zugehörig­keit. Gott hatte schon ihrem Stammvater Abraham geboten, alle männlichen Personen in seinem Haushalt zu be­schneiden. So fühlen sich alle be­schnittenen Juden als Abrahams-Söhne und Angehörige von Gottes aus­erwähltem Volk. Gläubige Juden sind davon überzeugt: Wir gehören zu Gottes Lieblings-Volk; Gott hat Wohl­gefallen an uns. Und das ist in der Tat das größte Glück, das ein Mensch finden kann: Wenn Gott Wohl­gefallen an ihm hat.

Die erste Generation Christen hatte ein riesiges Problem mit der Be­schneidung. Einige sagten: Wenn Nicht-Juden durch Christus Gottes Wohl­gefallen erlangen wollen, dann müssen sie erst einmal Juden werden, dann müssen sie sich also erst einmal beschneiden lassen. Nur wenn sie auf diesem Wege Abrahams-Söhne werden, können sie den Segen empfangen, der Abraham und seinen Nachkommen mit dem Messias verheißen wurde.

Nun ist das ja nicht unser Problem. Für uns ist es heute selbst­verständ­lich, dass alle Menschen Christen werden können, egal aus welchem Volk sie kommen und ob sie beschnitten sind oder nicht. Jesus hat ja gesagt: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden“ (Markus 16,16), und er meinte tat­sächlich: „Jeder, der da glaubt und getauft wird, der wird selig werden.“ Wird sind überzeugt: Die ganze Menschheit kann zu Gottes Lieblings-Volk gehören, denn an der ganzen Menschheit hat er Wohl­gefallen; die ganze Welt hat er lieb. Unser Problem liegt ein bisschen anders: Wir tun uns schwer damit, Gottes Beispiel zu folgen. Wir tun uns schwer damit, alle unsere Mitmenschen lieb zu haben. Auch die Un­höflichen. Auch die Faulen. Auch die Zuwanderer aus Rumänien. Auch die Muslime. Auch die Rechts­radikalen. Auch die Krimi­nellen. Denken wir daran, dass Jesus auch für sie ans Kreuz gegangen ist? Denken wir daran, dass Christus auch sie ins Himmelreich einlädt? Vielleicht wären wir ganz froh, wenn Gott nur ein bestimmtes Lieblings-Volk hätte und die anderen ausgrenzte – das Volk der wohl­erzogenen Mittel­europäer, oder das Volk der anständigen Menschen, oder das Volk der bekenntnis­treuen Lutheraner.

Nein, sagt Paulus, ganz entschieden nein! Gott hat kein Lieblings-Volk auf Kosten anderer; Gott bevorzugt niemanden. Dieses Nein begründet Paulus ausführlich in den ersten Kapiteln des Römer­briefs. Zunächst zeigt er, dass alle Menschen gleicher­weise Sünder sind und Gottes Wohl­gefallen nicht verdienen; da gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Nicht-Juden. Und dann entfaltet er das Evangelium: Alle Menschen können durch Jesus ohne besondere Leistungen Gottes Wohl­gefallen erlangen, allein durch den Glauben. Gottes Wohl­gefallen ist dabei gewisser­maßen ein Gütesiegel, das besagt: Du bist in Ordnung und gehörst deshalb zu Gottes Eigentums­volk; du bist okay; du bist „gerecht“, wie es in biblischer Sprache heißt. Wenn Gott einem Menschen dieses Gütesiegel zuspricht beziehungs­weise „an­rechnet“, dann ist der Mensch gerecht­fertigt. Dieses Gütesiegel ist, wie gesagt, unverdient; es ist ein Geschenk; man bekommt es gratis – zu deutsch: aus Gnade. Jeder, der es annimmt, hat es; das Annehmen aber nennt man Glauben. Der ganze Zusammen­hang wird als Glaubens­gerechtig­keit bezeichnet. Es handelt sich um den Haupt­artikel der christ­lichen Lehre; alles andere, was Christen glauben, hängt damit untrennbar zusammen.

Auf dieser Grundlage geht Paulus die Frage an, ob jemand denn erst durch Be­schneidung ein Jude werden muss, um die Glaubens­gerechtig­keit zu empfangen. Seine Meinung ist klar: Natürlich muss man nicht erst ein Jude werden, um ein Christ zu werden. Aber er weiß, dass unter den Christen in Rom welche sind, die das anders sehen. Die versucht er nun mit einer aus­führlichen Begründung zu überzeugen. Er zitiert dazu aus einem wunderbaren Psalm Davids, dem 32. Psalm, dem zweiten Bußpsalm. Er zitiert David so: „Selig sind die, denen die Un­gerechtig­keiten vergeben und denen die Sünden bedeckt sind! Selig ist der Mann, dem der Herr die Sünde nicht zurechnet!“ Ja, es ist tatsächlich das größte Glück, das ein Mensch finden kann: Wenn Gott Wohl­gefallen an ihm hat und ihm seine Sünden nicht ankreidet, sondern wenn er ihm stattdessen das Gütesiegel seiner Recht­fertigung schenkt. Das galt bereits vor Christus, das galt auch schon für David, das galt auch schon für Abraham. Paulus weist in diesem Zusammen­hang darauf hin, dass Gott dem Abraham aus­drücklich seinen Glauben als Gerechtig­keit angerechnet hat; Vater Abraham ist also ein Vater der Glaubens­gerechtig­keit. Und dann erinnert Paulus daran, dass Gott dem Abraham diese Gerechtig­keit geschenkt hat, bevor er ihm auftrug, sich selbst und alle männlichen Personen in seinem Haushalt zu be­schneiden. Er macht den Juden­christen also die erstaun­liche Tatsache bewusst: Abraham empfing die Glaubens­gerechtig­keit als Un­beschnitte­ner! Die Be­schneidung, fährt Paulus fort, hat Gott dann erst nach­träglich als Siegel und Zeichen dieser Glaubens­gerechtig­keit eingesetzt. Wenn nun sogar Abraham als Un­beschnitte­ner durch den Glauben gerecht geworden ist, dann können doch wohl auch Heiden­christen ohne Be­schneidung selig werden! Damit ist die Frage, die die Ur­christen­heit so sehr be­schäftigte, eindeutig geklärt.

Ich fasse zusammen: Kein Mensch kann sich Gottes Wohl­gefallen verdienen, denn alle sind Sünder. Aber jeder kann Gottes Gütesiegel geschenkt bekommen, mit dem der Herr ihm zuspricht: Du bist okay, du bist richtig in Gottes Augen, du bist gerecht, und darum gehörst du zu Gottes Lieblings-Volk. Jeder Mensch kann dieses von Christus erworbene Heil im Glauben empfangen. Wenn aber wirklich jeder es empfangen kann ohne jegliche Vor­bedingung, dann dürfen wir uns niemals über andere erheben und meinen, wir wären etwas Besseres. Die Juden­christen hatten damals unrecht, wenn sie sagten: Die Nicht-Juden sollen erst einmal anständige Juden werden und sich beschneiden lassen, dann akzeptieren wir sie. Und wir hätte heute unrecht, wenn wir sagten: Die anderen Leute sollen erst einmal so werden wie wir, dann akzeptieren wir sie. Gott liebt ohne Wenn und Aber; er liebt ohne Vorurteile und Aus­grenzung. Wenn wir richtig lieben wollen, dann müssen wir es ebenso machen.

Zum Schluss komme ich noch einmal auf die Be­schneidung zurück. Zwar ist sie keine Vor­bedingung zum Christ-Werden, dennoch ist sie von Bedeutung. Wie hat Paulus sie doch genannt? Ein „Siegel der Gerechtig­keit des Glaubens“. In anderen Briefen führt er aus, dass Gott auch der neu­testament­lichen Gemeinde so ein „Siegel der Gerechtig­keit des Glaubens“ gestiftet hat: die Taufe nämlich. Er nennt sie „eine Be­schneidung, die nicht mit Händen geschieht“ (Kol. 2,11). Die Taufe besiegelt uns, dass unsere Sünden vergeben und wir in Gottes Augen gerecht sind. Die Taufe zeigt uns: Wir gehören zu Gottes Lieblings-Volk und dürfen bis in alle Ewigkeit dabei bleiben. Es ist so, wie Jesus verheißen hat: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden.“ Denn „Selig sind die, denen die Un­gerechtig­keiten vergeben und denen die Sünden bedeckt sind. Selig ist der Mann, dem der Herr die Sünde nicht zurechnet.“ Diese Seligkeit ist und bleibt das größte Glück, das ein Mensch finden kann. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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