Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Der Freiheitskämpfer Nelson Mandela ist in der Tradition seines afrikanischen Stammes aufgewachsen. Dazu gehört, dass er als Jugendlicher beschnitten wurde. In seinen Lebenserinnerungen hat er ausführlich von dieser Zeremonie berichtet: Zusammen mit gleichaltrigen Jungs verbrachte er zunächst einige Wochen an einem abgelegenen Ort im Beschneidungs-Lager. Als dann der große Tag herangekommen war, mussten sich alle nebeneinander nackt auf den Boden setzen. Ohne Betäubung wurde dann jedem von ihnen mit einem scharfen Messer ein Stück von der Penis-Vorhaut abgeschnitten. Danach musste jeder ausrufen: Jetzt bin ich ein Mann! Nelson Mandela schreibt, dass er vor Schmerzen diese Worte kaum hervorbringen konnte.
Nicht nur bei den Bantus werden junge Männer traditionell beschnitten, auch in anderen Kulturen ist das üblich. So werden ebenfalls in islamischen Familien die Jungs beschnitten. Eine besondere Rolle spielt die Beschneidung bei den Juden. Die jüdische Beschneidung ist kein Übergangsritus vom Jungen zum Mann, so wie es bei Mandela der Fall war, der ausrufen musste: Jetzt bin ich ein Mann! Bei den Juden werden männliche Babys bereits im Alter von acht Tagen beschnitten; so war es ja auch bei Jesus. Die Beschneidung ist für die Juden das Zeichen der Volkszugehörigkeit. Gott hatte schon ihrem Stammvater Abraham geboten, alle männlichen Personen in seinem Haushalt zu beschneiden. So fühlen sich alle beschnittenen Juden als Abrahams-Söhne und Angehörige von Gottes auserwähltem Volk. Gläubige Juden sind davon überzeugt: Wir gehören zu Gottes Lieblings-Volk; Gott hat Wohlgefallen an uns. Und das ist in der Tat das größte Glück, das ein Mensch finden kann: Wenn Gott Wohlgefallen an ihm hat.
Die erste Generation Christen hatte ein riesiges Problem mit der Beschneidung. Einige sagten: Wenn Nicht-Juden durch Christus Gottes Wohlgefallen erlangen wollen, dann müssen sie erst einmal Juden werden, dann müssen sie sich also erst einmal beschneiden lassen. Nur wenn sie auf diesem Wege Abrahams-Söhne werden, können sie den Segen empfangen, der Abraham und seinen Nachkommen mit dem Messias verheißen wurde.
Nun ist das ja nicht unser Problem. Für uns ist es heute selbstverständlich, dass alle Menschen Christen werden können, egal aus welchem Volk sie kommen und ob sie beschnitten sind oder nicht. Jesus hat ja gesagt: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden“ (Markus 16,16), und er meinte tatsächlich: „Jeder, der da glaubt und getauft wird, der wird selig werden.“ Wird sind überzeugt: Die ganze Menschheit kann zu Gottes Lieblings-Volk gehören, denn an der ganzen Menschheit hat er Wohlgefallen; die ganze Welt hat er lieb. Unser Problem liegt ein bisschen anders: Wir tun uns schwer damit, Gottes Beispiel zu folgen. Wir tun uns schwer damit, alle unsere Mitmenschen lieb zu haben. Auch die Unhöflichen. Auch die Faulen. Auch die Zuwanderer aus Rumänien. Auch die Muslime. Auch die Rechtsradikalen. Auch die Kriminellen. Denken wir daran, dass Jesus auch für sie ans Kreuz gegangen ist? Denken wir daran, dass Christus auch sie ins Himmelreich einlädt? Vielleicht wären wir ganz froh, wenn Gott nur ein bestimmtes Lieblings-Volk hätte und die anderen ausgrenzte – das Volk der wohlerzogenen Mitteleuropäer, oder das Volk der anständigen Menschen, oder das Volk der bekenntnistreuen Lutheraner.
Nein, sagt Paulus, ganz entschieden nein! Gott hat kein Lieblings-Volk auf Kosten anderer; Gott bevorzugt niemanden. Dieses Nein begründet Paulus ausführlich in den ersten Kapiteln des Römerbriefs. Zunächst zeigt er, dass alle Menschen gleicherweise Sünder sind und Gottes Wohlgefallen nicht verdienen; da gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Nicht-Juden. Und dann entfaltet er das Evangelium: Alle Menschen können durch Jesus ohne besondere Leistungen Gottes Wohlgefallen erlangen, allein durch den Glauben. Gottes Wohlgefallen ist dabei gewissermaßen ein Gütesiegel, das besagt: Du bist in Ordnung und gehörst deshalb zu Gottes Eigentumsvolk; du bist okay; du bist „gerecht“, wie es in biblischer Sprache heißt. Wenn Gott einem Menschen dieses Gütesiegel zuspricht beziehungsweise „anrechnet“, dann ist der Mensch gerechtfertigt. Dieses Gütesiegel ist, wie gesagt, unverdient; es ist ein Geschenk; man bekommt es gratis – zu deutsch: aus Gnade. Jeder, der es annimmt, hat es; das Annehmen aber nennt man Glauben. Der ganze Zusammenhang wird als Glaubensgerechtigkeit bezeichnet. Es handelt sich um den Hauptartikel der christlichen Lehre; alles andere, was Christen glauben, hängt damit untrennbar zusammen.
Auf dieser Grundlage geht Paulus die Frage an, ob jemand denn erst durch Beschneidung ein Jude werden muss, um die Glaubensgerechtigkeit zu empfangen. Seine Meinung ist klar: Natürlich muss man nicht erst ein Jude werden, um ein Christ zu werden. Aber er weiß, dass unter den Christen in Rom welche sind, die das anders sehen. Die versucht er nun mit einer ausführlichen Begründung zu überzeugen. Er zitiert dazu aus einem wunderbaren Psalm Davids, dem 32. Psalm, dem zweiten Bußpsalm. Er zitiert David so: „Selig sind die, denen die Ungerechtigkeiten vergeben und denen die Sünden bedeckt sind! Selig ist der Mann, dem der Herr die Sünde nicht zurechnet!“ Ja, es ist tatsächlich das größte Glück, das ein Mensch finden kann: Wenn Gott Wohlgefallen an ihm hat und ihm seine Sünden nicht ankreidet, sondern wenn er ihm stattdessen das Gütesiegel seiner Rechtfertigung schenkt. Das galt bereits vor Christus, das galt auch schon für David, das galt auch schon für Abraham. Paulus weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Gott dem Abraham ausdrücklich seinen Glauben als Gerechtigkeit angerechnet hat; Vater Abraham ist also ein Vater der Glaubensgerechtigkeit. Und dann erinnert Paulus daran, dass Gott dem Abraham diese Gerechtigkeit geschenkt hat, bevor er ihm auftrug, sich selbst und alle männlichen Personen in seinem Haushalt zu beschneiden. Er macht den Judenchristen also die erstaunliche Tatsache bewusst: Abraham empfing die Glaubensgerechtigkeit als Unbeschnittener! Die Beschneidung, fährt Paulus fort, hat Gott dann erst nachträglich als Siegel und Zeichen dieser Glaubensgerechtigkeit eingesetzt. Wenn nun sogar Abraham als Unbeschnittener durch den Glauben gerecht geworden ist, dann können doch wohl auch Heidenchristen ohne Beschneidung selig werden! Damit ist die Frage, die die Urchristenheit so sehr beschäftigte, eindeutig geklärt.
Ich fasse zusammen: Kein Mensch kann sich Gottes Wohlgefallen verdienen, denn alle sind Sünder. Aber jeder kann Gottes Gütesiegel geschenkt bekommen, mit dem der Herr ihm zuspricht: Du bist okay, du bist richtig in Gottes Augen, du bist gerecht, und darum gehörst du zu Gottes Lieblings-Volk. Jeder Mensch kann dieses von Christus erworbene Heil im Glauben empfangen. Wenn aber wirklich jeder es empfangen kann ohne jegliche Vorbedingung, dann dürfen wir uns niemals über andere erheben und meinen, wir wären etwas Besseres. Die Judenchristen hatten damals unrecht, wenn sie sagten: Die Nicht-Juden sollen erst einmal anständige Juden werden und sich beschneiden lassen, dann akzeptieren wir sie. Und wir hätte heute unrecht, wenn wir sagten: Die anderen Leute sollen erst einmal so werden wie wir, dann akzeptieren wir sie. Gott liebt ohne Wenn und Aber; er liebt ohne Vorurteile und Ausgrenzung. Wenn wir richtig lieben wollen, dann müssen wir es ebenso machen.
Zum Schluss komme ich noch einmal auf die Beschneidung zurück. Zwar ist sie keine Vorbedingung zum Christ-Werden, dennoch ist sie von Bedeutung. Wie hat Paulus sie doch genannt? Ein „Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens“. In anderen Briefen führt er aus, dass Gott auch der neutestamentlichen Gemeinde so ein „Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens“ gestiftet hat: die Taufe nämlich. Er nennt sie „eine Beschneidung, die nicht mit Händen geschieht“ (Kol. 2,11). Die Taufe besiegelt uns, dass unsere Sünden vergeben und wir in Gottes Augen gerecht sind. Die Taufe zeigt uns: Wir gehören zu Gottes Lieblings-Volk und dürfen bis in alle Ewigkeit dabei bleiben. Es ist so, wie Jesus verheißen hat: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden.“ Denn „Selig sind die, denen die Ungerechtigkeiten vergeben und denen die Sünden bedeckt sind. Selig ist der Mann, dem der Herr die Sünde nicht zurechnet.“ Diese Seligkeit ist und bleibt das größte Glück, das ein Mensch finden kann. Amen.
PREDIGTKASTEN |