Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Die Geschichte, die wir eben gehört haben, klingt unheimlich und unwirklich wie ein Alptraum. Ein Traum ist sie in der Tat, nämlich ein von Gott geschickter Traum, eine Vision. Gott zeigte dem Apostel Johannes diese Vision zusammen mit all den anderen Visionen, die im Buch der Offenbarung aufgeschrieben sind. Wenn wir das bedenken, sollten wir diese Geschichte lieber nicht mit einem Alptraum vergleichen, sondern besser mit einem epischen Theaterstück. Wer ein bisschen was vom Theater und von Berthold Brecht weiß, dem ist der Begriff des epischen Theaters vertraut. Es geht dabei nicht darum, eine Illusion von Wirklichkeit zu schaffen und auf diesem Wege Gänsehaut-Gefühle zu erzeugen, wie das normalerweise im Theater und auch bei Spielfilmen der Fall ist. Beim epischen Theater geht es vielmehr darum, dass mit Mitteln der Schauspielerei eine Lehre beziehungsweise eine Botschaft veranschaulicht und einprägsam verdeutlicht wird. So sollen wir diese Visionen ansehen, die Gott dem Johannes schickte und die er dann im Buch der Offenbarung aufgeschrieben hat. Auch die Geschichte unseres Predigttextes will uns Gottes Botschaft anschaulich vor Augen führen und auf diesem Wege einprägen. Betrachten wir sie also wie die Szene in einem epischen Theaterstück!
Erstens: Die Drachenschlange wird auf die Erde geworfen. Mit großem Gepolter fällt sie auf die Erdenbühne. Warum fällt sie? Weil sie geworfen wurde – nämlich hinausgeworfen aus dem Himmel. Die Drachenschlange ist Satan, der Teufel, der ungehorsame Engel, der gegen Gott eine Revolution angezettelt hat. Satan ist mitsamt seinem ganzen Anhang aus dem Himmel hinausgeworfen worden, weil er beim heiligen Gott nichts mehr verloren hatte. Aber er gibt sich nicht geschlagen – noch nicht. Er verlegt den Schwerpunkt seiner unheilvollen Tätigkeiten nun auf die Erde. Wir können ein Lied davon singen, liebe Brüder und Schwestern, denn auch wir sind täglich den Nachstellungen und Verführungen Satans ausgesetzt.
Zweitens: Die Drachenschlange verfolgt die Frau, die den Knaben geboren hat. Wie heißt diese Frau? Wir hängen ihr gleich drei Namensschilder um den Hals: Eva heißt sie, und Maria, und Ekklesia. Eva war die erste Frau, die Mutter aller Menschen. Gott hatte verheißen, dass ihr Nachkomme einmal der Drachenschlange den Kopf zertreten wird (1. Mose 3,15). Das ist die älteste Weissagung der Bibel: Eva brachte aus ihrer Nachkommenschaft den Drachentöter hervor, den Erlöser, den Heiland. Der Apostel Johannes hat bestätigt: „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre“ (1. Joh. 3,8). Der zweite Name der Frau kennzeichnet sie als direkte Mutter des Gottessohnes Jesus Christus: Maria hat den Knaben geboren. Der dritte Name der Frau bezieht sich auf die neue Geburt, die geistliche Geburt, die Wiedergeburt aus Wasser und Geist in der Taufe. Die Wiedergeburt hat in der christlichen Kirche ihren Ort, und das griechische Wort für Kirche heißt Ekklesia. Ekklesia ist die Mutter Kirche, durch die Gottes Heiliger Geist immer wieder neu Gotteskinder für die Ewigkeit hervorbringt. Da kommen wir ins Bild, liebe Brüder und Schwestern: Wir dürfen Gott loben und danken, dass er uns mit der heiligen Taufe durch die Ekklesia wiedergeboren hat aus Wasser und Geist. Zugleich aber sollten wir gewarnt sein, denn wir sehen: Der Teufel hat es auf die Kirche abgesehen!
Drittens: Der Frau werden zwei Adlersflügel gegeben, damit sie vor der Drachenschlange fliehen kann. Der „große Adler“, von dem Johannes schreibt, ist ein Sinnbild für Gott, und seine Flügel stehen für Gottes Kraft. Der Prophet Jesaja predigte: „Die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden“ (Jesaja 40,31). Gott lässt seine Kirche und alle ihre Kinder nicht im Stich. Alle ihre Kinder – auch uns nicht. Wenn der Teufel uns quälen oder verführen will, dann dürfen wir Gott immer wieder neu um Kraft bitten, um Adlersflügel, damit wir dem bösen Feind entkommen können. Die Vision des Johannes beantwortet unsere Bitte, ehe wir sie ausgesprochen haben: Ja, Gott gibt uns solche Flügel, Gott gibt uns seine Kraft!
Viertens: Die Frau flieht in eine Wüste, wo Gott sie am Leben erhält „eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit“. Das ist eine merkwürdige Zeitangabe. Die meisten Ausleger dieser Bibelstelle rechnen alles zusammen und sagen: Das macht dreieinhalb Zeiten gleich dreieinhalb Jahre. Diese Zeitangabe könnte zur Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten passen: Weil König Herodes die Kinder von Bethlehem ermorden ließ, hielten sich Maria, Josef und Jesus wahrscheinlich von 7 v. Chr. bis 4 v. Chr. als Asylanten in diesem fremden Land auf. Zugleich aber kann die Zahl noch anders gedeutet werden: Dreieinhalb Jahre sind 42 Monate – eine Zeitspanne, die zwei weitere Male im Buch der Offenbarug erwähnt wird. Beide Male geht es um die vom Teufel bedrohte Kirche. Diese Zeitspanne steht symbolisch für die sogenannte Endzeit, die Zeit der kämpfenden Kirche, die Zeit zwischen Pfingsten und dem Jüngsten Tag. In diesem Zusammenhang bedenken wir noch einmal die besondere Art und Weise, wie diese Zahl hier angegeben ist: „eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit“. Ich glaube, damit will Gott uns daran erinnert, was auch Jesus mehrfach lehrte: Die Zeit bis zum Jüngsten Tag ist von unbestimmter Dauer; niemand weiß vorher, wann sie zuende ist. Es kann „eine Zeit“ sein; es kann auch länger dauern als gedacht, nämlich „zwei Zeiten“; es kann auch schneller gehen als gedacht, nämlich „eine halbe Zeit“. Die ersten Christen haben nicht geglaubt, dass noch tausende von Jahren vergehen werden, ehe Christus sichtbar wiederkommt. Andererseits sollen wir jeden Tag mit seinem Wiederkommen rechnen – sei es, dass dann direkt der Jüngste Tag anbricht, sei es, dass wir sterben werden. Wie dem auch sei, wir dürfen vorher damit rechnen: Gott erhält seine Kirche in der Fremde dieser Welt. Es ist so, wie Jesus seinem Jünger Simon Petrus von der Ekklesia verheißen hat: „Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen“ (Matth. 16,18).
Fünftens: Jetzt ergießt sich ein gewaltiger Wasserschwall aus dem Maul der Drachenschlange – ein Fluss, eine Flutwelle, ein Tsunami! Er ergießt sich hinter der Mutter her, um sie zu ertränken. Der Teufel will sich nicht geschlagen geben. Was das Leben Jesu betrifft, können wir den grausamen Kindermord des Königs Herodes mit dieser Flutwelle gleichsetzen. Als die Heilige Familie aus Bethlehem nach Ägypten geflohen war, da ließ Herodes der Große alle neu geborenen Kinder in Bethlehem töten. Er hoffte, auf diese Weise seinen vermeintlichen Konkurrenten, den neu geborenen König der Juden, auszuschalten. Dahinter erkennen wir den Versuch des Teufels, Gottes Heilsplan mit Jesus im Keim zu ersticken. Auch später noch hat der Teufel ja auf verschiedene Weise versucht, Christi Erlösungswerk zu vereiteln. Er versucht es bei jedem einzelnen von uns immer noch, indem er unseren Glauben mit einer Flutwelle von Zweifeln und Bedenken ertränken will.
Sechstens: Nun tritt die Erde auf. Sie stellt sich zwischen die Drachenschlange und die Heilige Familie und trinkt mit ihrem Maul die gesamte Wasserflut weg, sodass sie der Mutter und ihrem Kind nicht schaden kann. Wer oder was ist mit der Erde gemeint? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Vielleicht steht sie hier als Sinnbild für die Gräber der in Bethlehem getöteten Kinder. Ja, die Erde nahm das Blut und die Leiber der Kinder auf, die wegen der grausamen Eifersucht des Herodes ihr Leben lassen mussten. Die Kirche hat diese Kinder stets zu den Märtyrern gerechnet, den Blutzeugen des Herrn Jesus Christus. Die Märtyrer spielen in der Offenbarung des Johannes eine bedeutende Rolle. So nehme ich an, dass dies gemeint ist: Die Märtyrer kommen unter dem Zorn der Drachenschlange um, aber dadurch wird das Werk der Ekklesia nicht gehindert, sondern im Gegenteil gefördert. Das Zeugnis der Märtyrer hat immer wieder Menschen beeindruckt und ihnen geholfen, an Jesus zu glauben. Auch wir, liebe Brüder und Schwestern, sollten nicht vergessen, wie ernst es den Märtyrern mit ihrem Christuszeugnis war und bis in unsere heutige Zeit hinein ist.
Siebentens: Der Drache kämpft gegen die übrigen Nachkommen der Frau. Das sind die Brüder und Schwestern des neu geborenen Knaben, des Gottessohnes. Es sind die Kinder der Ekklesia, der Mutter Kirche. Es sind die Getauften, die Wiedergeborenen aus Wasser und Geist, und wir sind darunter. An diesem siebenten und letzten Teil der Szene lernen wir, wie das Leben Jesu mit unserem Leben und dem Leben der Kirche verbunden ist. Wie der Teufel mit großem Zorn unsern Herrn verfolgte, so verfolgt er uns noch heute. Und wie Gott seinen eingeborenen Sohn vor den Angriffen der Drachenschlange beschützte, so beschützt er auch uns, seine Kinder. Denkt daran in Zeiten der Anfechtung, in Zeiten des Zweifels, in Zeiten der Verführung und in Zeiten der Trauer über den Zustand der Kirche! Denkt an die Adlersflügel, denkt an das rettende Asyl, denkt an die hilfreiche Erde, die die Wasserflut der Drachenschlange für uns wegnimmt! Denkt daran und preist Gott für seine Hilfe. Wie er den einen Knaben der Maria dann von den Toten auferweckte und zu sich in den Himmel nahm zu ewiger Seligkeit, so wird er es einmal auch mit uns machen, seinen Kindern. Amen.
PREDIGTKASTEN |