Satt werden

Predigt über Psalm 17,15 zum Ewigkeitssonntag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Nicht nur Menschen in Kata­strophen­gebieten, sondern auch Menschen in ganzen Regionen der Erde werden nicht satt. Sie sehnen sich nach ausreichend Essen und nach sauberem Trink­wasser, aber ständig herrscht Mangel daran; ihr Hunger und ihr Durst bleiben ungestillt.

In unserem reichen Land können wir uns jeden Tag satt essen. Wir hungern höchstens freiwillig, wenn es um unsere Gesundheit geht oder um die schlanke Linie. Trotzdem kennen auch die meisten von uns das Gefühl, nicht satt zu werden: Wenn in geselliger Runde Chips oder Schokolade bereit stehen, dann spüren wir ein inneres Bedürfnis, immer wieder zuzulangen. Der Magen ist schon längst satt, aber der Mund kann nicht genug bekommen von diesen leckeren Dingen.

Unter Hunger verstehen wir zunächst einmal die Sehnsucht nach Essen, und sei es auch nur nach Chips und Schokolade. Aber nicht nur der Mund kennt solche Sehnsucht, auch die Augen und die Ohren kennen sie. Es gibt viele schöne Dinge zu bewundern auf der Welt, und an manchen können wir uns gar nicht sattsehen. Ebenso ist es mit guter Musik: Man kann nie genug davon bekommen, man kann sich nicht satthören an ihr. Auch sieht man immer wieder gern interessante Spielfilme und hört immer wieder gern Neuig­keiten. Augen und Ohren sind un­ersätt­lich.

Auch wer leidet, hat Sehnsucht: Er möchte, dass das Leiden aufhört. Wer Schmerzen hat, der möchte, dass sie abklingen. Wer schwach ist, der sehnt sich danach, wieder stark zu sein. Wer traurig ist, will wieder lachen können. Und wer sich mit einem Mitmenschen verkracht hat, den hungert nach Versöhnung, nach neuer guter Gemein­schaft. Auch wer nicht an irgendetwas Bestimmten leidet, sehnt sich doch allgemein nach Glück. Fast alle haben solchen Lebens­hunger – aber es ist wie mit den Chips und der Schokolade: Man wird nie richtig satt. Selbst wenn es einem gut geht, sehnt man sich nach immer noch mehr Lebens­glück.

Und auch Hunger nach Gerechtig­keit gibt es. Schon Kinder sehnen sich nach Gerechtig­keit. Sie finden es äußerst ungerecht, wenn sie das Gefühl haben, dass sie gegenüber Ge­schwistern oder Mitschülern be­nachteiligt werden. Das ist bei Erwachsenen nicht anders. Die soziale Gerechtig­keit ist nur deswegen ein so großes politisches Thema, weil viele sich be­nachteiligt fühlen und sie Hunger haben nach fairer Behandlung. Besonders groß wird der Hunger nach Gerechtig­keit dann, wenn Menschen himmel­schreiendes Unrecht erleiden. Das ist zum Beispiel bei Dissidenten in Diktaturen der Fall, oder bei Christen in Ländern mit Christen­verfolgung: Nur weil ihre Meinung oder ihr Glaube nicht mit den Mächtigen überein­stimmt, werden sie be­nachtei­ligt, verfolgt, ein­gesperrt, gefoltert und sogar getötet. Große Sehnsucht nach Gerechtig­keit hatten einst die afri­kanischen Sklaven in Amerika: Sie waren in ihrer Heimat geraubt und dann wie eine Ware auf einen fremden Kontinent verschifft worden; dort mussten sie für den Wohlstand anderer hart arbeiten. Diese Sklaven sehnten sich nach Gottes aus­gleichender Gerechtig­keit in der himmlischen Seligkeit, wo es ihnen dann für immer gut gehen würde.

Als David noch kein König war, kam er für mehrere Jahre in eine Situation, die ihn nach Gerechtig­keit hungern ließ. König Saul war eifer­süchtig auf David und wollte verhindern, dass er König wurde. Er wollte ihn umbringen und ließ ihn deshalb im ganzen Land suchen. So wurde David zum unschuldig Verfolgten und war ständig auf der Flucht; nirgends konnte er sich sicher fühlen. Zu seinem Hunger nach Gerechtig­keit gesellte sich oft auch der Hunger des Bauches und manche andere Entbehrung. Vor diesem Hintergrund können wir verstehen, was David im 17. Psalm gebetet hat. Es heißt da unter anderem: „Behüte mich wie einen Augapfel im Auge, beschirme mich unter dem Schatten deiner Flügel vor den Gottlosen, die mir Gewalt antun, vor meinen Feinden, die mir nach dem Leben trachten.“ David hungerte nach Gottes Schutz und Hilfe. Davids große Sehnsucht nach Gott und nach Gottes Gerechtig­keit gipfelt im Schlusssatz des Psalms, den wir bereits als Predigttext gehört haben: „Ich aber will schauen dein Antlitz in Gerechtig­keit, ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde.“

Hunger nach Essen, Hunger nach Leben, Hunger nach Glück, Hunger nach Gerechtig­keit, Hunger nach Gott – das sind Sehnsüchte, die uns Menschen durch das Leben begleiten. Meistens ist es aber so wie mit den Chips und der Schokolade: Wir werden niemals richtig satt. Kein Mensch kann seinen ganzen Lebens­hunger stillen in den 80 oder 90 Runden Karussell­fahrt auf dem Planeten Erde. So ist es nur folge­richtig, wenn sich unsere Sehnsüchte auf den Himmel ausrichten als Zielpunkt: Da wird dann unser ganzer Hunger umfassend gestillt sein. Für die afri­kanischen Sklaven in Amerika war das ganz nahe­liegend, denn in dieser Welt hatten sie nicht viel Hoffnung auf Glück. Es bewegt tief, wenn man sich mal mit ihren Liedern be­schäftigt, den Spirituals, die die himmlische Hoffnung in wunder­schönen und manchmal auch etwas merk­würdigen Bildern zum Ausdruck bringen. Es ist dieselbe Sehnsucht, die David am Ende des 17. Psalms in Worte gefasst hat: „Ich will schauen dein Antlitz in Gerechtig­keit, ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde.“ Für David ist der Himmel wie das Aufwachen am Morgen nach einer unruhigen Nacht mit bösen Träumen: Er möchte sich den Schlaf aus den Augen reiben und im strahlenden Morgenlicht von Gottes Antlitz stehen; das wird ihn dann für alle erlittene Un­gerechtig­keit ent­schädigen.

Mancher wendet ein: Das ist zu schön, um wahr zu sein. Mancher spottet: Das ist eine Vertröstung aufs Jenseits, damit die Menschen sich mit ihren armseligen Lebens­verhältnisse abfinden. Karl Marx hat aus diesem Grund die Religion „Opium für das Volk“ genannt. Ist der Himmel also nur ein schöner Wunsch­traum, in den unsere Sehnsüchte aus der rauhen Wirklich­keit fliehen können?

Davids Sehnsucht und unser aller Sehnsucht bleibt nicht ohne Antwort. David wünschte sich von Gott: „Ich will schauen dein Antlitz in Gerechtig­keit, ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde.“ Und der Davidssohn Jesus Christus hat allen, die so seufzen, verheißen: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtig­keit, denn sie sollen satt werden“ (Matth. 6). Wer sich nach Gottes Gerechtig­keit und Gottes Nähe sehnt, der wird nicht enttäuscht werden, sondern einmal wirklich Gott schauen, so hat Jesus es seinen Jüngern und allen Gläubigen verheißen. Jesus selbst ist der Schlüssel dazu, dass unsere Himmels­sehnsucht kein unerfüllter Wunschtraum bleibt. Zwar heißt es in einem anderen Psalm: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden“ (Psalm 126,1), aber das bezieht sich darauf, dass alles traumhaft schön sein wird im Himmel und dass alle unsere Erwartungen übertroffen werden. Mit David könnten wir ebenso auch sagen: Wenn der Herr die in Sünde gefangene Welt endgültig ans Ziel der Erlösung führen wird, dann werden wir sein wie die Er­wachenden. Wir werden uns den Erdenschlaf aus den Augen reiben, und alles Leid und alle Not werden uns dann vorkommen wie hinter uns liegende Alpträume. Es wird so sein, wie wenn man am helllichten Tag verwundert denkt: Was habe ich letzte Nacht bloß für verrückte Sachen geträumt?

Wir dürfen gewiss sein: Gott wird uns ans Ziel unserer Sehnsüchte führen. Jesus hat uns dieses Ziel versprochen und mit seinem Leiden und Sterben erworben; Jesus ist uns nach seiner Auf­erstehung auch an dieses Ziel voraus­gegangen. Da werden wir dann satt werden durch Gottes Gegenwart, da werden wir wunschlos glücklich sein. Niemand wird mehr Mangel an Nahrung oder sauberem Wasser haben; anderer­seits wird keiner mehr aus un­gestilltem Verlangen zuviel essen. Niemand wird mehr un­gestillten Hunger nach Glück haben, denn Gott wird dort alles Leid fernhalten und alle Tränen von unseren Augen abwischen. Augen und Ohren werden endlich satt werden von dem fröhlichen Fest und Gotteslob der Engel im Himmel, von ihrem Anblick und von ihrer Musik. Keiner wird mehr einen anderen beneiden oder sich ungerecht behandelt fühlen, weil jeder die Fülle hat. Ja, so wird auch unser Hunger nach Gerechtig­keit dann vollkommen gestillt sein.

„Ich will schauen dein Antlitz in Gerechtig­keit“, so hoffte David, und so bekannte und prophezeite er zugleich. Die Grundlage der himmlischen Seligkeit ist freilich nicht die von vielen erwartete aus­gleichende Gerechtig­keit. Wenn Gott uns nach dem Tod in der Weise lohnen oder strafen würde, wie wir es mit unserem Lebens­wandel verdient haben, dann könnte niemand auf den Himmel hoffen, weil keiner gut genug war. Aber auch in diesem Bibelvers gilt, was Martin Luther mit seiner refor­matorischen Erkenntnis über den Begriff „Gerechtig­keit“ heraus­gefunden hat: Hier ist Gottes barmherzige Gerechtig­keit gemeint, also die Gerechtig­keit, die Jesus stell­vertretend für uns erworben und mit der Taufe zugeeignet hat. Und so dürfen wir uns getrost das freundliche Gesicht des Gottes­sohns, Menschen­sohns und Davidssohns Jesus Christus vorstellen, wenn wir mit Hunger und mit Sehnsucht nach dem Himmel Davids Worte nach­sprechen: „Ich will schauen dein Antlitz in Gerechtig­keit, ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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