Unsichtbare Wände

Predigt über Römer 7,14‑25a zum 22. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ich sah einmal eine Zirkus­nummer mit einem berühmten Pantomimen. Er tat so, als sei er in einen gläsernen Kasten ein­gesperrt. Diese Illusion gelang ihm sehr beein­druckend. Verzweifelt versuchte er, eine ein­gebildete gläserne Wand zu durch­dringen, aber die Wand hielt ihn gefangen. Erst als seine Assistentin ein imaginäres Loch ihn die imaginäre Wand sägte, gelang es ihm heraus­zukommen.

Zu DDR-Zeiten konnten die West­berliner Bürger in Grenznähe die be­nachbarten Ostberliner Straßenzüge sehen, aber hingehen konnten sie nicht. Eine unsichtbare Wand trennte sie, die nur durch umständlich zu erwerbende Visa oder Passier­scheine überwunden werden konnte. Für die meisten Ostberliner Bürger war diese Wand noch un­durchdring­licher; mancher, der sie mit Gewalt zu durch­brechen suchte, musste das mit seinem Leben bezahlen.

Auch in meinem persön­lichen Leben habe ich immer wieder unsichtbare Wände erlebt. Zum Beispiel beim Klavier­unterricht. Bei bestimmten Übungs­stücken habe ich mich immer wieder an derselben Stelle verspielt. Ich wollte das Stück fehlerfrei spielen, aber es gelang mir nicht. Je mehr ich übte, desto schlimmer wurde es. Ich konnte das Stück einfach nicht so spielen, wie ich es wollte und sollte.

Manchmal ärgere ich mich über etwas, obwohl ich genau weiß: Es lohnt sich nicht, sich darüber zu ärgern. Trotzdem schaffe ich es nicht, den Ärger ab­zustellen. Ich bin dann im Ärger eingesperrt wie in einem gläsernen Kasten. Da sind sie wieder: die unsicht­baren Wände. Ich stelle erschrocken fest: Ich verhalte mich nicht so, wie ich mich eigentlich verhalten will und soll. Ich kenne mich dann nicht in meiner Wut, ich bin dann mit mir selbst höchst un­zufrieden.

Ist das normal? Ich fürchte, ja. Ich kenne andere Menschen, denen geht es ebenso. Vielleicht denken auch viele von euch im Stillen: Ja, das kenne ich; auch bei mir gibt es solche unsicht­baren Wände; auch ich verhalte mich immer wieder so, wie ich mich weder verhalten will noch soll. Sogar Paulus ist es so gegangen, dem berühmten Apostel. Wir haben eben sein Bekenntnis gehört, das er für die Christen in Rom auf­geschrieben hat: „Ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich… Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ Ja, auch Paulus verhielt sich immer wieder so, wie er eigentlich nicht wollte und nicht sollte.

Woher wusste er aber, wie er sich verhalten sollte? Und woher können wir es wissen? Diese Frage ist leicht zu beantworten: Gottes Wort sagt es uns, Gottes Gesetz, die Zehn Gebote. Dieses Gesetz finden wir nicht nur im Kleinen Katechismus und nicht nur zwischen den Buchdeckeln unserer Bibeln, sondern wir finden es auch in unser Herz geschrieben. Daher kommt es, dass sich unser Gewissen meldet, wenn wir etwas gegen Gottes Gesetz tun. Wir fühlen in uns, dass Gottes Gesetz gut und hilfreich ist. Niemand kann sagen, dass die Zehn Gebote die Menschen quälen oder schaden; im Gegenteil: sie helfen zum guten Leben. Das gilt erst recht für das oberste aller Gebote, das Doppelgebot der Liebe: Wir sollen Gott von ganzem Herzen lieben und unseren Nächsten wie uns selbst. Als Christen wissen wir das besonders gut, weil der Heilige Geist in unseren Herzen wohnt. Wenn wir getauft sind und an Jesus glauben, sind wir geistliche Menschen, die Gottes Gesetz lieben und bejahen. Wir wissen, wie wir uns verhalten sollen, und wir wollen das auch – und trotzdem sind da immer wieder diese unsicht­baren Wände, die uns daran hindern, auch wirklich so zu leben. Paulus klagte: „Wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist; ich aber bin fleisch­lich, unter die Sünde verkauft… Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so gebe ich zu, dass das Gesetz gut ist.“

Paulus hatte in weiser Selbst­erkenntnis heraus­gefunden, dass sein eigent­liches erlöstes Ich völlig rein ist und vollkommen willig, das Gute zu tun. Das ist bei jedem so, der an Christus glaubt. Aber Paulus merkte, dass es da etwas in ihm gibt, das diesem reinen und erlösten Ich nicht gehorcht. Dieses Etwas nennt er „Fleisch“. Es gehorcht oftmals nicht seinem erlösten Ich, sondern es ist Sklave eines fremden Herrn, Sklave der Sünde. Paulus hat deshalb ge­schrieben: „Ich bin fleisch­lich, unter die Sünde verkauft.“ Und weiter: „Ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt… Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.“ Paulus merkte, dass sein Fleisch einem fremden und falschen Gesetz gehorcht, einem Gesetz, das der Sklaven­meister Sünde diktiert. Er schrieb: „Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das wider­streitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.“ Auch das ist bei jedem so, der an Christus glaubt. Deshalb konnte Martin Luther sagen, dass der Mensch zugleich ein Gerechter und zugleich ein Sünder ist. Das reine erlöste Ich ist ganz heilig und gerecht vor Gott; Jesus hat es durch sein Opfer am Kreuz so rein gemacht, dass Gott nichts mehr daran auszusetzen findet. Zugleich ist da aber noch das wider­spenstige Fleisch; es gehorcht dem erlösten Ich nicht, denn es ist und bleibt der Sünde versklavt. Beides gehört zum Christen­menschen dazu – und ist doch wie mit einer unsicht­baren Mauer voneinander getrennt.

Diese Mauer bewirkt, dass uns Gottes wunderbares Gesetz schrecklich vorkommt. Denn weil wir uns nicht so verhalten, wie wir eigentlich wollen, wird aus dem hilfreichen Gesetz ein anklagendes Gesetz, ja sogar ein ver­dammendes Gesetz. Der Sünder muss das Gesetz als Fluch empfinden, denn es verurteilt ihn zum Tode und trennt ihn von Gott. Paulus hat feststellen müssen: „So finde ich nun das Gesetz, das mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt.“

Man ist versucht, sich mit einem Kunstgriff aus diesem Elend zu befreien. Wir könnten sagen: Wenn ich eigentlich das Gute will und mir nur nicht gelingt, das im wirklichen Leben umzusetzen, dann kann mir das niemand vorwerfen, auch Gott nicht. Ich habe ja guten Willen, aber ich schaffe es nicht, die unsichtbare Mauer zu durch­brechen. Das wäre jedoch Selbst­betrug. Wir sind und bleiben ver­antwort­liche Menschen – ver­antwort­lich vor Gott mit unserm wirklichen Verhalten, nicht nur mit unserm guten Willen. Paulus hat klar gesehen, dass man sich so nicht aus der Affäre ziehen darf, und darum klagte er: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem tod­verfallenen Leibe?“ Paulus wusste, dass seine Sünde ihn anklagt und letztlich zum Tode verurteilt.

Ich schließe mich dem Paulus an und rufe ebenfalls: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?“ Wer befreit mich von der Anklage des Gesetzes? Wer reißt mich heraus aus dem Tod und schenkt mir neues Leben? Wer hilft mir, dass ich an meiner Sünde nicht verzweifeln und zugrunde gehen muss? Es gibt nur eine Antwort, und diese Antwort ist Licht, Leben, Weg und Wahrheit. Es ist die Antwort des Glaubens. Es ist eine Antwort, die man nicht einfach nur so geben kann als eine Fest­stellung, sondern die mit Lob und Dank einhergeht. Diese Antwort ist eigentlich ein Name. Paulus hat diese Antwort am Ende unsers Abschnitts gegeben und nach seinem ver­zweifelten Aufschrei ausgerufen: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ Jesus ist unser Blitz­ableiter für Gottes Fluch. Wer Jesus vertraut, braucht an seiner Sünde nicht zu verzweifeln und schon gar nicht zu zerbrechen. Mit Jesus können wir der Tatsache mutig ins Auge sehen, dass es da diese garstige unsichtbare Mauer in unserm Leben gibt. Durch Jesus wissen wir, dass diese Mauer uns nicht von Gottes Liebe trennt und auch nicht vom ewigen Leben.

Und Jesus tut noch mehr: Er schlägt ein Loch in diese Mauer. Er befähigt uns durch den Heiligen Geist, das Gute, das wir eigentlich wollen, auch wirklich zu tun. Oft werden wir es kaum merken; das macht aber nichts, so werden wir wenigstens nicht stolz. Wir sehen bei all unseren Bemühungen auch, dass wir noch Jünger sind, Schüler, Lernende, Übende, die leicht in alte Fehler zurück­fallen. Aber weil diese Fehler uns nicht mehr verdammen, können wir es fröhlich und un­verkrampft immer wieder neu probieren: so zu leben, wie wir eigentlich wollen und sollen; so zu leben, wie Gottes Gesetz es sagt. Noch einmal: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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