Der Warnengel

Predigt über 4. Mose 22,21‑35 zum Michaelisfest

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn Gott seine Engel mit Stellen­angeboten suchen würde, dann könnte da etwa folgende Arbeits­beschrei­bung stehen: Sie werden im himmlischen Team Loblieder singen. Außerdem werden Sie im Außendienst auf der Erde eingesetzt, vor allem für den Personen­schutz, aber gelegent­lich auch zum Beraten, Warnen und Strafen. Auch zum Warnen und Strafen? Das passt nicht so richtig zu der Vortellung, die viele vom Tun der Engel haben. Den Schutzengel lassen sie sich gern gefallen; er taucht heutzutage ja in unzähligen Variationen auf Grußkarten, Tassen und anderen Geschenk­artikeln auf. Einen Warnengel jedoch oder einen Strafengel wird man in den ent­sprechenden Läden vergeblich suchen. Dabei ist einem halbwegs bibel­kundigen Menschen bekannt, dass Gott einst mit bewaffneten Engeln den Zugang zum Garten Eden versperren ließ, nachdem Adam und Eva dort hinaus­geworfen worden waren. Und ein gleichfalls bewaffneter Warnengel taucht in der biblischen Geschichte auf, die wir eben gehört haben.

Zugegeben, es ist eine recht merkwürdige Geschichte. Wenn sie nicht in der Bibel stünde, würden wir sie wohl für ein Märchen halten. Aber wir wissen ja, dass in der Bibel keine Märchen stehen, auch wenn man sich manchmal gar nicht vorstellen kann, was da berichtet wird. Hauptperson in dieser Geschichte ist Bileam, ein berühmter Wahrsager, der zu Moses Zeit in Meso­potamien lebt. Der Moabiter­könig Balak beauftragt ihn, das Volk Israel zu verfluchen. Balak hat nämlich Angst vor diesem mächtigen Volk, das es geschafft hat, aus ägyptischer Zwangs­arbeit zu entrinnen, und das nun an der Grenze des Moabiter­landes lagert. Nach einigem Zögern und in der Erwartung eines üppigen Honorars erklärt Bileam sich bereit – obwohl er genau weiß, dass Israel unter Gottes Schutz steht. Er sattelt seine Eselin und macht sich auf die Reise ins Moabiter­land. Unterwegs tritt Gottes Warnengel in Aktion: Er stellt sich mit gezogenem Schwert Bileam beziehungs­weise Bileams Eselin in den Weg. Bileam sieht den Engel nicht, aber die Eselin sieht ihn. Sie weicht dem Gottesboten aus, verlässt den Weg und geht querfeldein weiter. Bileam schlägt sein ver­meint­lich launisches Tier dafür.

Auch heute noch gelten Esel als launisch und störrisch. Und sie gelten als dumm. Wer einen Menschen als Esel bezeichnet, der bescheinigt ihm damit eine geringe Intelli­genz. Vielleicht ist das ein Vorurteil – sowohl den Eseln gegenüber als auch den Menschen, die so beschimpft werden. Bileams Eselin war jedenfalls scharf­sichtiger als ihr Reiter: Sie sah den Warnengel, Bileam nicht. Auch heutzutage gibt es Menschen, die man keineswegs als Esel bezeichnen würde und die doch blind sind für Engel und sogar blind für Gott. Beides passt nicht in ihr Weltbild. Wenn Gott sich in ihrem Leben irgendwie bemerkbar macht durch Menschen oder Tiere oder Engel oder auf andere Weise, dann werden sie schnell ärgerlich. Sie erkennen nicht, dass es Gott ist, der ihnen da etwas sagen will.

Ein zweites Mal stellt sich Gottes Warnengel Bileam in den Weg. Da wird es schon enger, denn da reitet Bileam gerade auf schmalen Pfaden durch einen Weinberg. Wieder weicht die Eselin aus und klemmt dabei Bileams Fuß an einer Mauer ein. Vor Schmerz und Wut prügelt Bileam sein treues Reittier desto stärker. An einer noch engeren Stelle erscheint der Engel mit dem Schwert zum dritten Mal; Bileam kann ihn immer noch nicht sehen. Hier ist es unmöglich aus­zuweichen, und so bleibt die Eselin einfach stehen. Irgendwie muss das Tier die Heiligkeit des Gottesboten vor sich spüren, darum geht es in die Knie. Nun ist Bileam außer sich vor Wut. Er denkt, dass die faule Eselin sich hier mitten auf dem Weg zur Ruhe legen will. Wieder tritt sein Stock in Aktion. Und da geschieht das merkwürdige Wunder, dass Gott die Eselin sprechen lässt. Sie sagt zu ihrem Herrn: „Was habe ich dir getan, dass du mich nun dreimal geschlagen hast?“ Bileam antwortet: „Weil du deine Launen an mir auslässt. Wenn ich ein Schwert dabei hätte, würde ich dich jetzt töten.“ Da erwidert die Eselin: „Du kennst mich doch schon lange. Habe ich denn jemals meine Launen an dir aus­gelassen?“ Bileam muss zugeben, dass das noch nie der Fall war. Da dämmert ihm, dass das Verhalten seines treuen Reittiers einen anderen Grund haben muss. Und endlich erkennt der berühmte Wahrsager, warum die Eselin angehalten hat: Er erblickt den Engel mit dem gezogenen Schwert vor sich. Auch Bileam ist nun von der Heiligkeit dieser Situation und von Gottes­furcht ergriffen; so steigt er ab und beugt sich vor dem Gottes­boten.

Zweimal berichtet die Bibel davon, dass ein Tier wie ein Mensch spricht: Das erste Mal ist es die Schlange im Garten Eden; sie redet im Auftrag des Teufels und verführt die ersten Menschen zur Sünde. Das zweite Mal ist es diese Eselin hier; sie redet im Auftrag Gottes und trägt dazu bei, dass Bileam endlich Gottes Boten wahrnimmt. Wir brauchen uns nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wie das vonstatten gegangen ist. Ob das Eselsmaul tatsächlich menschliche Wörter formen konnte oder ob Bileam aus dem Schreien der Eselin die Botschaft heraus­gehört hat? Ich weiß es nicht, es ist auch nicht wichtig. Der Schöpfer aller Menschen und aller Esel kann leicht bewirken, dass Mensch und Esel sich auch mal verstehen, wenn das nötig ist. In unserer Geschichte ist es nötig, weil sonst der störrische Bileam nichts von dem Engel mitgekriegt hätte. Manchmal muss Gott auch bei uns viel in Bewegung setzen, damit wir merken, wie er in unser Leben eingreift. Manchmal muss schon einiges passieren, ehe wir zum Beispiel etwas von unserem Schutzengel wahrnehmen. Bei Bileam war es ein ein­geklemmter Fuß; heutzutage ist es vielleicht ein blaues Auge oder ein Knochen­bruch. Besonders unsensibel sind wir immer dann, wenn es sich nicht um einen Schutz­engel, sondern um einen Warnengel handelt. Wer möchte sich schon gern seine Pläne durch­kreuzen lassen? Aber wir tun gut daran, hier sensibel zu werden und Gott zu bitten, dass er uns doch rechtzeitig seine Warnungen erkennen lasse. Das ist mitgemeint in dem berühmten Psalmgebet, das ich jedem ans Herz lege: „Weise mir, Herr, deinen Weg, dass ich wandle in deiner Wahrheit“ (Psalm 86,11).

Auf Bileams Gespräch mit der Eselin folgt ein Gespräch mit dem Engel. Der Engel macht Bileam klar, dass Gott kein Gefallen an seinem Vorhaben hat. Gott möchte nicht, dass Bileam ein Volk verflucht, das Gott besonders segnen will. Da wird Bileam ganz kleinlaut. Er sieht ein, dass er etwas falsch gemacht hat, und fragt, ob er besser wieder umkehren soll. Merk­wüdiger­weise verlangt das der Engel nicht von ihm, sondern er sagt: „Zieh hin mit Balaks Männern, aber nichts anderes, als was ich zu dir sagen werde, sollst du reden.“ Gott hat nichts dagegen, dass Bileam ins Moabiter­land reist, aber er hat etwas dagegen, dass er Israel zu verfluchen be­absichtigt und sich das auch noch königlich bezahlen lassen möchte. Was Gott will, das setzt er auch durch, selbst wenn es manchmal auf sehr merkwürdige oder un­durchsichti­ge Weise geschieht. Als Bileam zum Moabiter­könig kommt, bringt er tatsächlich keinen Fluch gegen Israel über seine Lippen. Stattdessen lässt Gott ihn drei Segensworte über sein Volk sprechen. Danach macht er ihn sogar zu einem Propheten wider Willen: Bileam, der heidnische Wahrsager und geldgierige Berufs-Verflucher, muss in Gottes Auftrag den königlichen Stern ankündigen, der einst aus dem Volk Israel aufgehen wird: Jesus Christus, den Heiland aller Menschen.

So erkennen wir schließ­lich, dass Gottes Warnengel hier eine Funktion in Gottes Heilsplan ausübt. Der tödlich bewaffnete Gottesbote leistet seinen Beitrag dazu, dass Bileam, statt Israel zu verfluchen, den Retter ankündigt, der aus Israel für die Völker der ganzen Erde kommt. Inzwischen ist er gekommen, und wir gehören zu ihm. Das verbindet uns mit Bileam, und das verbindet Bileams Warnengel mit all den Engeln, die unsichtbar, oder manchmal auch sichtbar, danach tätig waren und auch heute noch in unserem Leben tätig sind: Alles zielt auf den ein­geborenen Sohn des Vaters hin, den wahren Gott und wahren Menschen Jesus Christus, unsern Erlöser. Ihm dienen alle Engel, und von ihm gehen sie aus, um uns auch heute noch zu beschützen, zu warnen und zu führen auf einem guten Weg, der einst im Himmel an sein Ziel kommen wird. Da werden wir dann selbst so in Gottes Dienst treten können, wie wir es uns in seinem Stellen­angebot für Engel am Anfang dieser Predigt vorgestellt haben: Wir werden im himmlischen Team Loblieder singen. Halleluja, amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum