Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Immer wieder spreche ich mit Christen über ihre Taufe. Manche äußern dann ihr Bedauern, dass sie schon als kleine Kinder getauft worden sind. Sie sehen zwar durchaus den Segen und die Notwendigkeit der Säuglingstaufe ein, aber sie hätten es doch gern bewusst miterlebt, wie sie zu Jesus Christus kamen. Alle, die wir als Säuglinge Christen geworden und dem Herrn seither treu geblieben sind, haben tatsächlich niemals bewusst erfahren, wie es sich anfühlt, von der Nacht des Unglaubens in das helle Licht des Glaubens zu treten. Nun habe ich allerdings noch nie einen Menschen getroffen, der es bedauert, nicht blind geboren zu sein und dann erst in seiner Jugendzeit das Augenlicht geschenkt bekommen zu haben. Vielmehr können wir alle froh sein, dass wir von klein auf sehen können. Es macht uns nichts aus, dass wir keine bewusste Erinnerung an unser frühkindliches Sehenlernen haben. Allerdings könnte es sein, dass wir die Herrlichkeit des Lichts, der Formen und der Farben nun selbstverständlich hinnehmen und gar nicht merken, wie großartig dies alles ist. Das ist bei einem Blindgeborenen, der später geheilt wurde, anders. Er hat die schreckliche Nacht der Blindheit bewusst erlebt und ist nun überglücklich, dass er jetzt sehen kann.
Im neunten Kapitel des Johannesevangeliums lesen wir von einem Mann, der beides an einem einzigen Tag erlebte. Jesus heilte ihn nämlich an ein und demselben Tag von beidem: von der Blindheit der Augen, sodass er plötzlich sehen konnte, und von der Blindheit des Herzens, sodass er plötzlich glauben konnte. Unser Predigttext beschreibt die zweite Heilung, das Geschenk des Glaubens. Es ist diesselbe Heilung, die Gott auch uns geschenkt hat – gleich ob wir das bewusst erlebt haben oder ob wir da noch kleine Kinder waren. Ich selbst und jeder, bei dem Letzteres der Fall ist, können mit dieser Geschichte staunen lernen, was für eine herrliche Tat Jesus da an uns getan hat.
Schauen wir uns genauer an, was damals geschehen ist! Jesus und seine Jünger treffen einen jungen Mann, der noch nie in seinem Leben sehen konnte. Die Jünger fragen Jesus, wer an dieser Behinderung schuld ist. Jesus antwortet ihnen: Niemand, sondern er ist blind, damit Gottes Herrlichkeit an ihm offenbar wird. Dann heilt Jesus den Blinden. Überglücklich geht der Geheilte fort – und bekommt Ärger mit den Pharisäern. Die Heilung ist nämlich an einem Sabbat geschehen, und nach den Satzungen der Pharisäer darf am Sabbat nicht geheilt werden. Als Jesus davon erfährt, sucht er den Geheilten noch einmal auf. Jetzt will er ihm noch nachhaltiger helfen. Er beginnt mit einer Frage: „Glaubst du an den Menschensohn?“
Liebe Brüder und Schwestern, wir sehen: Die Initiative für den Glauben geht von Jesus aus. Das ist immer so. Kein Mensch kann aus eigener Vernunft und Kraft zum Glauben kommen. Der christliche Glaube ist keine Weltanschauung, für die man sich aus freien Stücken entscheiden kann. Es ist vielmehr so, dass Jesus auf die eine oder andere Weise in das Leben eines Menschen tritt und ihn anredet. Oftmals geschieht das durch andere Menschen; aber Jesus kennt viele Weisen zu heilen. Hier setzt er mit einer Frage an. Wie würdet ihr denn diese Frage beantworten: „Glaubst du an den Menschensohn“? Wahrscheinlich wüsstet ihr, dass „Menschensohn“ einer der vielen Titel ist, die Jesus selbst trägt, und so würdet ihr antworten: Ja, natürlich glaube ich an Jesus Christus! Oder vielleicht auch: Ich möchte gern an ihn glauben, aber oft ist mein Glaube so klein und schwach, dass ich mich frage, ob ich denn wirklich glaube. „Menschensohn“ beziehungsweise „Menschenkind“ ist zunächst einfach eine Bezeichnung für jeden Menschen. Wer diese Bezeichnung für Jesus bejaht, der bejaht damit, dass Jesus wirklich und gänzlich ein Mensch ist. Nun trägt Jesus aber nicht einfach den Titel „Menschensohn“, sondern „der Menschensohn“. Es handelt sich also um das eine besondere Menschenkind, das aus allen anderen Menschenkindern herausragt. Es ist so ähnlich wie beim Wort „Herr“: Es gibt viele Herren in der Welt, aber es gibt nur einen, der den Titel „der Herr“ trägt. Oder noch ein anderes Beispiel: Es gibt viele Bücher in der Welt, aber ein Buch ragt aus ihnen heraus, nämlich das Buch, das Buch der Bücher, auf griechisch „ho biblos“, die Bibel. Jesus ragt als der Menschensohn vor allem deswegen aus allen Menschenkindern heraus, weil er zugleich der Gottessohn ist, der eingeborene Sohn des Vaters im Himmel. Er ist ganz menschlich und zugleich ganz göttlich – das gehört zum Grundbekenntnis des christlichen Glaubens. Genau nach diesem Glauben fragte Jesus damals den Geheilten und fragt uns heute, wenn er sagt: „Glaubst du an den Menschensohn?“
Der vormals Blinde fragt irritiert zurück: „Herr, wer ist's?, dass ich an ihn glaube.“ Er glaubt noch nicht, er kann noch nicht glauben – ebensowenig wie er am Morgen dieses Tages sehen konnte. Aber wir hören aus seiner Gegenfrage heraus: Er möchte glauben. Er hat etwas von Gottes Handeln in seinem Leben gespürt und will von nun an ein heiliges Leben führen. Anders ausgedrückt: Er läuft vor Jesu Anfrage nicht weg, sondern lässt sich auf ein Gespräch mit ihm ein.
Liebe Brüder und Schwestern, da sehen wir, was von unserer Seite aus wichtig ist: dass wir vor Jesu Anredes nicht weglaufen, sondern uns auf ein Gespräch mit ihm einlassen. Wer mit Jesus nichts zu tun haben will, den zwingt er nicht zum Heil. Wer aber auf den Ruf seines Wortes antwortet, den beschenkt er. Wenn Paulus sich damals der Jesus-Erscheinung vor Damaskus bockig verweigert hätte, wäre er kein Christ und kein Apostel geworden. Und wenn ein Getaufter sagt: Meine Taufe bedeutet mir nichts; ich will mit Jesus nichts zu tun haben, dann verweigert er dadurch die Annahme des göttlichen Geschenks. Wenn aber ein Angefochtener sagt: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ (Markus 9,24), dann bittet er nicht vergeblich. Wir können uns nicht zum Glauben zwingen, das brauchen wir auch gar nicht, aber wir können im Gespräch bleiben mit dem, der unsere angeborene Herzensblindheit heilen kann.
Er kann es nicht nur, sondern er will es und tut es auch – zu seiner Zeit und auf seine Weise. So war das damals bei dem geheilten Blinden. Nun kommt nämlich das Entscheidende. Jesus sagt zu ihm: „Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist's.“ Mit anderen Worten: Jesus offenbart sich diesem jungen Mann. Er offenbart seine Herrlichkeit als Menschensohn und Gottessohn. Er offenbart sich dem Geheilten, wie er sich zuvor seinen Jüngern offenbart hat. Er offenbart sich dem Geheilten, wie er sich hinterher noch unzähligen anderen Menschen offenbart – bis hin in unsere Tage, bis hin zu uns.
Liebe Brüder und Schwestern in Christus, Jesus offenbart sich uns heute durch die Bibel und durch Predigten und durch das Heilige Abendmahl und durch viele Menschen, die uns im Leben als seine Zeugen begegnen. Während er sich offenbart, öffnen sich unsere Glaubensaugen, sodass wir die Herrlichkeit des Herrn erkennen und seine unendlich große Liebe. Auch hier und heute, jetzt in diesem Gottesdienst, sagt Jesus uns auf vielfache Weise: Du erlebst ihn hier, den Menschensohn, und der mit dir hier redet, der ist's.
Nun ist das Wunder des Glaubens geschehen, nun ist der Blindgeborene auch in geistlicher Hinsicht geheilt. Der Blinde kann nun sehen, der Ungläubige kann nun glauben. Das wird deutlich an seiner Erwiderung. „Er sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an.“ Er bekennt seinen Glauben, der nicht irgendein Glaube ist, auch kein allgemeiner Gottesglaube, sondern der eine wahre und seligmachende Christusglaube. Dieser Glaube betet den Menschensohn und Gottessohn an, der ihm begegnet ist.
Liebe Brüder und Schwestern, so ist das auch mit uns. Jesus hat sich uns offenbart, und wir antworten ihm. Wir sagen: Herr, ich glaube! Und wir beten ihn an. Besonders schön ist es, wenn wir das gemeinsam tun und uns auf diese Weise gegenseitig im Glauben bestärken. Auch das geschieht hier im Gottesdienst. Wenn wir nach der Evangeliumslesung immer das Glaubensbekenntnis sprechen, dann tun wir beides gleichzeitig: Wir bekennen unsern Glauben und wir beten Gott an. Das haben schon die ersten Christen zur Zeit der Apostel so gemacht und alle Generationen von Christusgläubigen bis hin zu uns. Was für eine großartige Sache! Jesus hat uns geheilt, Jesus lässt uns seine Herrlichkeit sehen, Jesus schenkt uns Glauben. Egal ob wir schon unser ganzes Leben lang Christen sind oder ob sich die Augen unseres Herzens erst kürzlich geöffnet haben: Es ist ein großes Wunder und eine Gnadengabe des Herrn.
Wer nicht blind ist, sieht auch manches, was ihn ärgert und bekümmert; trotzdem wird er sich nicht wünschen, blind zu sein. Und wer an Jesus glaubt, der erkennt viel Gottlosigkeit in der Welt; trotzdem wird er sich nicht wünschen, ungläubig zu sein. Freuen wir uns also darüber, dass wir getauft sind und an Jesus glauben können! Danken wir ihm mit unserm ganzen Leben dafür, dass er durch seinen Heiligen Geist dieses Wunder an uns getan hat! Amen.
PREDIGTKASTEN |