Das Glaubens-Augenlicht

Predigt über Johannes 9,35‑38 zum 17. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Immer wieder spreche ich mit Christen über ihre Taufe. Manche äußern dann ihr Bedauern, dass sie schon als kleine Kinder getauft worden sind. Sie sehen zwar durchaus den Segen und die Notwendig­keit der Säuglings­taufe ein, aber sie hätten es doch gern bewusst miterlebt, wie sie zu Jesus Christus kamen. Alle, die wir als Säuglinge Christen geworden und dem Herrn seither treu geblieben sind, haben tatsächlich niemals bewusst erfahren, wie es sich anfühlt, von der Nacht des Unglaubens in das helle Licht des Glaubens zu treten. Nun habe ich allerdings noch nie einen Menschen getroffen, der es bedauert, nicht blind geboren zu sein und dann erst in seiner Jugendzeit das Augenlicht geschenkt bekommen zu haben. Vielmehr können wir alle froh sein, dass wir von klein auf sehen können. Es macht uns nichts aus, dass wir keine bewusste Erinnerung an unser früh­kindliches Sehenlernen haben. Allerdings könnte es sein, dass wir die Herrlich­keit des Lichts, der Formen und der Farben nun selbst­verständ­lich hinnehmen und gar nicht merken, wie großartig dies alles ist. Das ist bei einem Blind­geborenen, der später geheilt wurde, anders. Er hat die schreck­liche Nacht der Blindheit bewusst erlebt und ist nun über­glücklich, dass er jetzt sehen kann.

Im neunten Kapitel des Johannes­evangeliums lesen wir von einem Mann, der beides an einem einzigen Tag erlebte. Jesus heilte ihn nämlich an ein und demselben Tag von beidem: von der Blindheit der Augen, sodass er plötzlich sehen konnte, und von der Blindheit des Herzens, sodass er plötzlich glauben konnte. Unser Predigttext beschreibt die zweite Heilung, das Geschenk des Glaubens. Es ist diesselbe Heilung, die Gott auch uns geschenkt hat – gleich ob wir das bewusst erlebt haben oder ob wir da noch kleine Kinder waren. Ich selbst und jeder, bei dem Letzteres der Fall ist, können mit dieser Geschichte staunen lernen, was für eine herrliche Tat Jesus da an uns getan hat.

Schauen wir uns genauer an, was damals geschehen ist! Jesus und seine Jünger treffen einen jungen Mann, der noch nie in seinem Leben sehen konnte. Die Jünger fragen Jesus, wer an dieser Behinderung schuld ist. Jesus antwortet ihnen: Niemand, sondern er ist blind, damit Gottes Herrlich­keit an ihm offenbar wird. Dann heilt Jesus den Blinden. Über­glücklich geht der Geheilte fort – und bekommt Ärger mit den Pharisäern. Die Heilung ist nämlich an einem Sabbat geschehen, und nach den Satzungen der Pharisäer darf am Sabbat nicht geheilt werden. Als Jesus davon erfährt, sucht er den Geheilten noch einmal auf. Jetzt will er ihm noch nach­haltiger helfen. Er beginnt mit einer Frage: „Glaubst du an den Menschen­sohn?“

Liebe Brüder und Schwestern, wir sehen: Die Initiative für den Glauben geht von Jesus aus. Das ist immer so. Kein Mensch kann aus eigener Vernunft und Kraft zum Glauben kommen. Der christliche Glaube ist keine Welt­anschauung, für die man sich aus freien Stücken entscheiden kann. Es ist vielmehr so, dass Jesus auf die eine oder andere Weise in das Leben eines Menschen tritt und ihn anredet. Oftmals geschieht das durch andere Menschen; aber Jesus kennt viele Weisen zu heilen. Hier setzt er mit einer Frage an. Wie würdet ihr denn diese Frage be­antworten: „Glaubst du an den Menschen­sohn“? Wahr­scheinlich wüsstet ihr, dass „Menschen­sohn“ einer der vielen Titel ist, die Jesus selbst trägt, und so würdet ihr antworten: Ja, natürlich glaube ich an Jesus Christus! Oder vielleicht auch: Ich möchte gern an ihn glauben, aber oft ist mein Glaube so klein und schwach, dass ich mich frage, ob ich denn wirklich glaube. „Menschen­sohn“ beziehungs­weise „Menschen­kind“ ist zunächst einfach eine Bezeichnung für jeden Menschen. Wer diese Bezeichnung für Jesus bejaht, der bejaht damit, dass Jesus wirklich und gänzlich ein Mensch ist. Nun trägt Jesus aber nicht einfach den Titel „Menschen­sohn“, sondern „der Menschen­sohn“. Es handelt sich also um das eine besondere Menschen­kind, das aus allen anderen Menschen­kindern herausragt. Es ist so ähnlich wie beim Wort „Herr“: Es gibt viele Herren in der Welt, aber es gibt nur einen, der den Titel „der Herr“ trägt. Oder noch ein anderes Beispiel: Es gibt viele Bücher in der Welt, aber ein Buch ragt aus ihnen heraus, nämlich das Buch, das Buch der Bücher, auf griechisch „ho biblos“, die Bibel. Jesus ragt als der Menschen­sohn vor allem deswegen aus allen Menschen­kindern heraus, weil er zugleich der Gottessohn ist, der eingeborene Sohn des Vaters im Himmel. Er ist ganz menschlich und zugleich ganz göttlich – das gehört zum Grund­bekenntnis des christ­lichen Glaubens. Genau nach diesem Glauben fragte Jesus damals den Geheilten und fragt uns heute, wenn er sagt: „Glaubst du an den Menschen­sohn?“

Der vormals Blinde fragt irritiert zurück: „Herr, wer ist's?, dass ich an ihn glaube.“ Er glaubt noch nicht, er kann noch nicht glauben – ebensowenig wie er am Morgen dieses Tages sehen konnte. Aber wir hören aus seiner Gegenfrage heraus: Er möchte glauben. Er hat etwas von Gottes Handeln in seinem Leben gespürt und will von nun an ein heiliges Leben führen. Anders aus­gedrückt: Er läuft vor Jesu Anfrage nicht weg, sondern lässt sich auf ein Gespräch mit ihm ein.

Liebe Brüder und Schwestern, da sehen wir, was von unserer Seite aus wichtig ist: dass wir vor Jesu Anredes nicht weglaufen, sondern uns auf ein Gespräch mit ihm einlassen. Wer mit Jesus nichts zu tun haben will, den zwingt er nicht zum Heil. Wer aber auf den Ruf seines Wortes antwortet, den beschenkt er. Wenn Paulus sich damals der Jesus-Erscheinung vor Damaskus bockig verweigert hätte, wäre er kein Christ und kein Apostel geworden. Und wenn ein Getaufter sagt: Meine Taufe bedeutet mir nichts; ich will mit Jesus nichts zu tun haben, dann verweigert er dadurch die Annahme des göttlichen Geschenks. Wenn aber ein An­gefochtener sagt: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ (Markus 9,24), dann bittet er nicht vergeblich. Wir können uns nicht zum Glauben zwingen, das brauchen wir auch gar nicht, aber wir können im Gespräch bleiben mit dem, der unsere angeborene Herzens­blindheit heilen kann.

Er kann es nicht nur, sondern er will es und tut es auch – zu seiner Zeit und auf seine Weise. So war das damals bei dem geheilten Blinden. Nun kommt nämlich das Ent­scheidende. Jesus sagt zu ihm: „Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist's.“ Mit anderen Worten: Jesus offenbart sich diesem jungen Mann. Er offenbart seine Herrlich­keit als Menschen­sohn und Gottessohn. Er offenbart sich dem Geheilten, wie er sich zuvor seinen Jüngern offenbart hat. Er offenbart sich dem Geheilten, wie er sich hinterher noch unzähligen anderen Menschen offenbart – bis hin in unsere Tage, bis hin zu uns.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, Jesus offenbart sich uns heute durch die Bibel und durch Predigten und durch das Heilige Abendmahl und durch viele Menschen, die uns im Leben als seine Zeugen begegnen. Während er sich offenbart, öffnen sich unsere Glaubens­augen, sodass wir die Herrlich­keit des Herrn erkennen und seine unendlich große Liebe. Auch hier und heute, jetzt in diesem Gottes­dienst, sagt Jesus uns auf vielfache Weise: Du erlebst ihn hier, den Menschen­sohn, und der mit dir hier redet, der ist's.

Nun ist das Wunder des Glaubens geschehen, nun ist der Blind­geborene auch in geistlicher Hinsicht geheilt. Der Blinde kann nun sehen, der Ungläubige kann nun glauben. Das wird deutlich an seiner Erwiderung. „Er sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an.“ Er bekennt seinen Glauben, der nicht irgendein Glaube ist, auch kein allgemeiner Gottes­glaube, sondern der eine wahre und selig­machende Christus­glaube. Dieser Glaube betet den Menschen­sohn und Gottessohn an, der ihm begegnet ist.

Liebe Brüder und Schwestern, so ist das auch mit uns. Jesus hat sich uns offenbart, und wir antworten ihm. Wir sagen: Herr, ich glaube! Und wir beten ihn an. Besonders schön ist es, wenn wir das gemeinsam tun und uns auf diese Weise gegenseitig im Glauben bestärken. Auch das geschieht hier im Gottes­dienst. Wenn wir nach der Evan­geliums­lesung immer das Glaubens­bekenntnis sprechen, dann tun wir beides gleich­zeitig: Wir bekennen unsern Glauben und wir beten Gott an. Das haben schon die ersten Christen zur Zeit der Apostel so gemacht und alle Gene­rationen von Christus­gläubigen bis hin zu uns. Was für eine großartige Sache! Jesus hat uns geheilt, Jesus lässt uns seine Herrlich­keit sehen, Jesus schenkt uns Glauben. Egal ob wir schon unser ganzes Leben lang Christen sind oder ob sich die Augen unseres Herzens erst kürzlich geöffnet haben: Es ist ein großes Wunder und eine Gnadengabe des Herrn.

Wer nicht blind ist, sieht auch manches, was ihn ärgert und bekümmert; trotzdem wird er sich nicht wünschen, blind zu sein. Und wer an Jesus glaubt, der erkennt viel Gottlosig­keit in der Welt; trotzdem wird er sich nicht wünschen, ungläubig zu sein. Freuen wir uns also darüber, dass wir getauft sind und an Jesus glauben können! Danken wir ihm mit unserm ganzen Leben dafür, dass er durch seinen Heiligen Geist dieses Wunder an uns getan hat! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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