Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Immer wieder hört man Sätze, die beginnen so: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott…“ Auch Christen sagen solche Sätze, sogar studierte Theologen. Sie sagen zum Beispiel: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott Menschen Leid zufügen will.“ Oder: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott Menschen unbarmherzig straft.“ Oder: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott irgendjemanden in die Hölle schickt.“ Vor solchen Sätzen muss ich warnen. Diejenigen, die so reden, meinen nämlich, Gott könne nur das tun, was sie sich vorstellen können. Wäre das wahr, dann wäre Gott an die engen Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft gebunden. Letztlich wäre Gott dann nichts anderes als eine menschliche Wunschfigur, also ein Götze. Wer seinen Glauben und seine Theologie auf „Ich kann mir nicht vorstellen, dass“-Sätze gründet, der glaubt letztlich an ein selbstgemachtes Götzenbild.
Der Herr Zebaoth, der eine wahre und lebendige Gott, ist anders und viel größer, als Menschen sich das vorstellen können. Er selbst hat uns das offenbar gemacht durch seine Boten und in seinem Wort. Der Prophet Amos zum Beispiel hat die Menschen im Volk Israel darauf hingewiesen, wer Gott wirklich ist. Er nannte Gott „der das Siebengestirn und den Orion macht“. Kennt ihr das Sternbild Orion, das aus sieben Hauptsternen besteht und deshalb auch „Siebengestirn“ genannt wird? Heute kennen es freilich nur noch diejenigen, die sich für den Sternhimmel interessieren, denn unsere Nächte sind künstlich erleuchtet, und wir sehen nicht viele Sterne. Aber wer den Orion kennt, der weiß, was das für ein imposantes Sternbild ist mit den drei Gürtelsternen in der Mitte und den vier Ecksternen. Das hat der große und erhabene Gott gemacht, verkündete Amos. Und dieser große Gott macht noch mehr. Amos sagte: „der aus der Finsternis den Morgen macht und aus dem Tag die finstere Nacht, der das Wasser im Meer herbeiruft und schüttet es auf den Erdboden – er heißt HERR.“ Der erhabene Schöpfergott lässt Dinge entstehen und auch wieder verschwinden, tut etwas und tut dann auch wieder das Gegenteil davon. Am Morgen bringt er Licht in die Finsternis der Nacht, und am Abend verdunkelt er den Tag. Er zieht das Wasser des Meeres empor durch die Kraft der Sonne und lässt es dann wieder herabfallen als Regen oder als Schnee. Alles hat Gott in der Hand, den Sternhimmel ebenso wie das Tageslicht, das Wetter ebenso wie die Menschen.
Jawohl, auch die Menschen. Niemand bilde sich ein, er sei sein eigener Herr. Letztlich ist nur einer Herr, und das ist Gott der Herr. Wie er den Tag nicht nur hell machen, sondern auch wieder verfinstern kann und wie er das Wasser nicht nur emporziehen, sondern auch wieder fallen lassen kann, so kann er den Menschen nicht nur heilen und segnen, sondern auch strafen und verdammen. Auch mit den mächtigsten Menschen kann er so handeln, und auch mit ganzen Bevölkerungen. Darum endet Amos' Gottesbeschreibung mit den Worten: „der über den Starken Verderben kommen lässt und bringt Verderben über die feste Stadt.“ Ja, Gott kann Menschen auch Leid zufügen und sie strafen und sogar zur Hölle verdammen. Es spielt keine Rolle, ob wir uns das vorstellen können, die Bibel jedenfalls lässt keinen Zweifel daran. Darum sollen wir Gott fürchten, ihn also auch in seinem Zorn und mit seinen Drohungen ernst nehmen.
Gott hatte damals allen Grund, den Menschen in Israel seinen Zorn anzudrohen. Seine Warnungen richteten sich besonders an die reiche Oberschicht. Freilich hatte er nichts gegen ihren Reichtum als solchen, aber er hatte etwas dagegen, wie sie dazu gekommen waren und wie sie ihn zu mehren trachteten. Sie taten es nämlich mit krummen Touren und auf Kosten der Armen. Amos urteilte über sie: „Sie sind dem gram, der sie im Tor zurechtweist, und verabscheuen den, der ihnen die Wahrheit sagt.“ Das Stadttor war der Ort, wo die Richter und Ältesten Rechtsfälle klärten. Es geschah, dass die Reichen dort ernste Worte zu hören bekamen, weil sie die Armen ausbeuteten und sich unrechtmäßig bereicherten. Die Reichen Israels forderten unverschämt hohe Pachtzahlungen für das Ackerland, auf dem sie arme Bauern wirtschaften ließen. Sie überhäuften redliche Menschen mit Anklagen, um einen Vorteil daraus zu ziehen. Sie waren bestechlich und bestachen auch selbst andere, damit die Leute den Mund hielten über ihre Gaunereien. Dabei schwelgten sie in Luxus, tranken den edelsten Wein und lebten in prachtvollen Villen mit steinernen Mauern, während die Armen in elenden Lehmhütten hausen mussten. Amos sagte diesen Leuten Gottes Urteil mitten ins Gesicht: „Weil ihr die Armen unterdrückt und nehmt von ihnen hohe Abgaben an Korn, so sollt ihr in den Häusern nicht wohnen, die ihr von Quadersteinen gebaut habt, und den Wein nicht trinken, den ihr in den feinen Weinbergen gepflanzt habt. Denn ich kenne eure Freveltaten, die so viel sind, und eure Sünden, die so groß sind, wie ihr die Gerechten bedrängt und Bestechungsgeld nehmt und die Armen im Tor unterdrückt.“ Ja, Gott wird sie strafen, Gott wird ihre Sünden unbarmherzig heimsuchen – auch wenn sie sich das damals nicht vorstellen konnten, und auch wenn wir uns das heute nicht vorstellen können. Gott nimmt keine Rücksicht auf unsere Vorstellungskraft, er ist ein gerechter Richter.
Gott hätte in der heutigen Zeit ebenso Grund zu solcher Strafandrohung. Wie viele Menschen gibt es, die sich unrechtmäßig bereichern! Wieviele Menschen unterdrücken die Armen und beuten sie aus! Wieviele schwelgen in unverdientem Luxus! Wieviele sind bestechlich und bestechen andere! Es gibt zwar mutige und vernünftige Leute, die dagegen ihre Stimme erheben, aber die Reichen kümmern sich nicht darum und drehen ihnen nur eine Nase. Die Mahner und Warner müssen resigniert erkennen, was auch Amos damals bemerkte: „Der Kluge muss zu dieser Zeit schweigen, denn es ist eine böse Zeit.“
Liebe Gemeinde, wir erkennen, was Gott gefällt: dass wir uns an Recht und Ordnung halten, dass wir unsere Mitmenschen fair behandeln und dass wir vor allem mit sozial Schwachen barmherzig umgehen. Nun bilden wir uns ja schnell ein, dass uns das auch gelingt. Die Ausbeuter und die in unrecht erworbenem Luxus leben, das sind die anderen, nicht wir. Trotzdem sollten wir uns selbstkritisch fragen, ob wir nicht auch in unseren bescheidenen Lebensverhältnissen zur Unbarmherzigkeit neigen. Oder dazu, dass wir uns auf unrechte Weise bereichern. Lieben wir denn wirklich unsern Nächsten wie uns selbst? Auch den Nächsten, der nicht gerade unser Lieblings-Nächster ist? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir erkennen, dass Gottes Anklage auch uns trifft. Wir haben sein Gericht verdient, seine unbarmherzige Strafe. Auch wenn wir uns das nicht vorstellen können: Gott hat allen Grund, mit uns böse zu sein.
Was tun? Zuerst müssen wir Gott von Herzen danken, dass wir unsere Sünde erkennen. Wir tun es ja nicht aus eigener Klugheit, sondern weil der Heilige Geist uns die Augen dafür öffnet. Ja, der Heilige Geist zeigt uns, dass wir zeitlich und ewig Gottes Strafe verdient haben. Statt zu sagen: „Das kann ich mir nicht vorstellen“, erkennen wir: „Ich armer, elender, sündiger Mensch!“ So führt das Erkennen von Gottes Willen zum Bekennen der Sünde. Aber auch dabei sollten wir nicht stehenbleiben. Vielmehr sollten wir darüber nachdenken, warum denn Gott gerade Barmherzigkeit von uns erwartet. Er tut es deshalb, weil das seinem eigenen Wesen entspricht. Gott ist von Grund auf liebevoll und barmherzig. Zwar lässt er Leiden zu, straft unbarmherzig und kann sogar das Urteil der Höllenstrafe verhängen, aber das entspricht nicht seinem eigentlichen Wesen, er tut es nur höchst ungern. Viel lieber ist er barmherzig, vergibt und hilft zurecht. Letztlich war das auch der Grund, warum er den Propheten Amos mit so einer harten Botschaft beauftragt hatte: Er wollte, dass die unbarmherzigen Reichen umkehren und zurückfinden zu Gottes Barmherzigkeit. Und heute und zu allen Zeiten möchte er, dass wir Menschen untereinander auch barmherzig sind, so wie Gott im Grunde seines Herzens barmherzig ist. Wenn uns das klar wird, dann lernen wir den gnädigen Gott kennen. Vor allem haben wir ihn kennengelernt in seinem Sohn Jesus Christus. In ihm lacht uns Gottes Liebe und Gottes Barmherzigkeit am allermeisten an. Durch ihn haben wir Vergebung der Sünde, durch ihn bleibt uns die Hölle erspart. Zwar mag Gott uns noch durch Leid und auf andere Weise strafen, aber das ist dann nichts anderes als eine erzieherische Strafe, in väterlicher Liebe ausgeübt.
Lassen wir uns nicht täuschen: Gott ist zu fürchten, er kann so streng und grausam sein, wie wir uns das gar nicht von ihm vorstellen können. Aber wenn wir erkennen, was sein Wille ist, und bekennen, dass wir den göttlichen Willen missachtet haben, und dann den kennen lernen, durch den wir Vergebung der Sünden haben, dann bekommen wir die Gewissheit: Gottes Barmherzigkeit und Gottes Liebe triumphieren über seinen Zorn. Amen.
PREDIGTKASTEN |