Das neue Lied von Gottes Gerechtigkeit

Predigt über Lukas 15,25‑32 zum Sonntag Kantate

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Der Mensch hat von Kindes­beinen an ein aus­geprägtes Gerechtig­keits­empfinden – vor allem dann, wenn einem Mitmenschen zu Unrecht Gutes widerfährt. Nehmen wir an, drei Geschwister haben im elterlichen Garten gearbeitet. Zur Belohnung spendiert die Mutter Eiskrem. Nehmen wir weiter an, dass der Jüngste vier Kugeln bekommt, die anderen beiden aber nur je zwei Kugeln. Wir können uns vorstellen, wie die beiden Älteren lautstark protes­tieren: „Das ist ungerecht! Wieso kriegt der Kleine doppelt soviel Eis wie wir?“ Dieser Protest würde noch stärker ausfallen, wenn der Kleine gar nicht richtig mit­gearbeitet, sondern die meiste Zeit nur im Sandkasten gespielt hätte. Ja, der Mensch hat ein aus­geprägtes Gerechtig­keits­empfinden, besonders, wenn einem Mitmenschen zu Unrecht Gutes widerfährt.

Jesus hat zu diesem Thema wiederholt Geschichten erzählt. Erinnern wir uns zum Beispiel an das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Da beschwert sich einer, der den ganzen Tag lang für ein Silberstück schwer gearbeitet hat, dass sein Kollege für nur eine Stunde Arbeit denselben Lohn empfängt. Oder nehmen wir den Schlussteil vom Gleichnis über den verlorenen Sohn: Der Vater gibt ein Fest nicht zu Ehren seines braven Sohnes, sondern für den Taugenichts. Kein Wunder, dass der Brave zornig wird und sich beschwert.

Weil bereits Kinder ein aus­geprägtes Gerechtig­keits­empfinden besitzen, geben sich die meisten Eltern große Mühe, ihre Söhne und Töchter gleich zu behandeln. Egal ob es sich um Taschengeld handelt oder um Weihnachts­geschenke, um auf­getragene Dienste oder um gewährte Ausgangs­zeiten, sie wollen keinen bevorzugen und keinen be­nachteili­gen – abgesehen von alters­bedingten Unter­schieden, die sich natürlich nicht vermeiden lassen. Beim himmlischen Vater ist das anders. Er lässt sich Jesu Gleich­nissen zufolge durch die Proteste der ver­meintlich Be­nachteilig­ten nicht beirren. In der Gestalt des Weinberg­besitzers recht­fertigt er seinen Entschluss, jedem einen Silber­groschen zu geben unabhängig davon, wieviel er gearbeitet hat. Und in der Gestalt des Vaters der zwei Söhne erklärt er dem Braven geduldig, warum er für den heim­gekehrten Taugenichts eine Party ver­anstaltet. Wir merken: Gottes Gerechtig­keit ist anders als die Gerechtig­keit der Menschen. Warum das so ist, wollen wir jetzt heraus­finden, wenn wir uns den Schluss des Gleich­nisses vom verlorenen Sohn genau betrachten.

Der brave Sohn hat den ganzen Tag lang auf dem Feld gearbeitet. Es ist immer das alte Lied: Der Acker bringt viel Mühe und Arbeit. Der brave Sohn freut sich nun auf den Feierabend. Da erreichen ungewohnte Klänge sein Ohr – ein neues Lied! Tanzmusik ist vom Elternhaus her zu hören und fröhliches Lachen wie bei einer Party. Was ist das denn? Der brave Bruder begegnet einem Knecht; den fragt er: Was ist denn da los? Der Knecht antwortet ihm: „Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb ge­schlachtet, weil er ihn gesund wiederhat.“ Das Mastkalb – der größte Lecker­bissen, den dieser wohlhabende Haushalt zu bieten hat! Der brave Sohn, der sich gerade noch auf den Feierabend gefreut hat, wird wütend. Sein Bruder ist wieder da, dieser Tauge­nichts? Jahrelang hat er sich nicht blicken lassen, und man hat nur Schlechtes über ihn gehört. Dass der es überhaupt noch wagt, dem Vater unter die Augen zu treten! Da feiere ich nicht mit – denkt sich der Brave und teilt das dem Knecht mit.

Der Knecht meldet seinem Herrn: Dein Sohn ist vom Feld zurück, aber er will nicht mitfeiern. Und nun achtet darauf, wie der Vater reagiert! Er sagt nicht gleich­gültig: Na dann eben nicht! Er wird auch nicht zornig: Wenn ich ein Fest ver­anstalte, dann hat er gefälligst dabei zu sein! Er bleibt ruhig, er bleibt gütig. In der ganzen Geschichte wird der Vater durchgehend ruhig und gütig dar­gestellt, liebevoll und barmherzig. Man könnte fast meinen, er ist zu weich. Wir denken ja manchmal, Gott lässt sich zuviel Böses gefallen, er müsste energischer eingreifen. Aber Gott weiß genau, was er will, und der Vater im Gleichnis ebenso. Es heißt von ihm: „Da ging sein Vater heraus und bat ihn.“ Liebevoll wirbt er um seinen Ältesten, dass er doch mitfeiert und sich mitfreut über die Heimkehr seines Bruders.

Die Milde des Vaters kann die Wut des Sohnes nicht be­sänftigen. Der Sohn explodiert: „Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb ge­schlachtet.“ Ich würde den braven Sohn gern fragen: Hast du denn deinen Vater jemals darum gebeten, für ihn und seine Freunde ein Fest zu geben? Hast du ihn denn mal gefragt, ob du ein Ziegen­böckchen grillen darfst? Und ich würde ebenso die Leute, die Gott allerhand vorwerfen, gern fragen: Betet ihr denn fleißig? Bittet ihr Gott um das, was ihr möchtet? Und wenn ja, merkt ihr denn nicht, wie er euch erhört?

Der brave Sohn bittet nicht, sondern er beschwert sich beim Vater: Für mich machst du nie ein Fest! Es ist sehr verdächtig, dass ihm das aus­gerechnet jetzt einfällt. Wahr­scheinlich ist er vorher gar nicht auf den Gedanken gekommen. Wahr­scheinlich hat er immer ziemlich komfortabel als Sohn eines reichen Mannes gelebt – zwar mit viel Alltags­arbeit, aber doch nicht schlecht. Nun wird er aus­gerechnet jetzt un­zufrieden. Diese Un­zufrieden­heit ist nichts anderes als Eifersucht. Der brave Sohn sagt sich: Ich hätte es viel eher verdient, dass man mir ein Fest ausrichtet; mein Bruder hat es nicht verdient. Das stimmt sogar: Der Taugenichts hat so ein Fest nicht verdient. Er hat es nicht einmal verdient, wieder als Sohn in den Schoß der Familie aufgenommen zu werden. Aber der Vater fragt nicht danach, was er verdient hat, sondern was er jetzt nötig hat. Seht, das ist Gottes barmherzige Gerechtig­keit, das ist Gottes Haltung uns Menschen gegenüber: Er will uns letztlich nicht das zuteil werden lassen, was wir verdient haben, sondern was wir brauchen.

So lässt sich der Vater vom Wutausbruch seines braven Sohns nicht beirren und redet ihm gut zu: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein.“ Er macht ihm deutlich: Du bist keineswegs arm dran, sondern du hast es gut, weil du ganz zu mir gehörst. Und er hat es ja auch wirklich gut. Er ist ja zufrieden von der Arbeit gekommen. Hier haben wir einen wesent­lichen Gesichts­punkt von Gottes Gerechtig­keit: Gott ist niemals barmherzig auf Kosten anderer. Vielmehr ist er für alle da und will allen Gutes tun. Der brave Sohn bekommt bei seinem Vater alles, was das Herz begehrt. Wenn er ihn um einen Braten oder um ein Fest gebeten hätte, dann hätte der Vater ihm das nicht verwehrt. Die Arbeiter in dem anderen Gleichnis, die einen ganzen Tag lang im Weinberg gearbeitet haben, sind nicht übers Ohr gehauen worden, sondern haben einen fairen Lohn bekommen; der Weinberg­besitzer hat ihnen nicht unrecht getan. Und die Kinder mit den zwei Eiskugeln hätten sich darüber freuen und sie mit Behagen verzehren können. Wenn jemand es gut hat, braucht er sich doch nicht darüber zu ärgern, dass es einem anderen noch besser geht! Aber so sind wir Menschen: neidisch und eifer­süchtig. Ein erfahrener alter Pastor hat das „die Sünde des Vergleichs“ genannt: Eigentlich geht es mir gut, aber wenn ich mich mit jemandem vergleiche, der es scheinbar unverdient besser hat, dann bin ich plötzlich nicht mehr zufrieden. Diese Un­zufrieden­heit, diese Eifersucht, dieser Neid ist die Sünde des braven Sohns. Keiner sollte meinen, dass diese Sünde weniger schlimm ist als der leicht­fertige Lebens­wandel des Tauge­nichts.

Das, was wir Menschen Gerechtig­keit nennen, ist oft nur eine mathe­matische Gleich­macherei. Sie zählt und rechnet, ob nicht der andere mehr bekommt, als ihm zusteht. Von solcher mathe­matischen Gerechtig­keit ist heute unsere ganze Gesell­schaft geprägt – oder besser: vergiftet. Gottes Gerechtig­keit ist anders. Gottes Gerechtig­keit ist barmherzig. Gottes Gerechtig­keit beruht darauf, dass Jesus für alle am Kreuz alles Böse gesühnt und alles Heil erworben hat. Wer jetzt noch meint, dass Gott zu manchen Menschen zu gut ist, hat nichts verstanden von Gottes liebevoller Gerechtig­keit, und er hat sie auch noch gar nicht richtig für sich selbst in Anspruch genommen.

Gott möchte, dass wir seine Gerechtig­keit voll begreifen und auch für uns ergreifen. Seine Barmherzig­keit hat das alte Lied der mensch­lichen Gerechtig­keit überwunden und das neue Lied der göttlichen Gerechtig­keit angestimmt, und alle Menschen sollen einstimmen. Aus dem Vaterhaus klingen Singen, Lachen und Tanzmusik, und der Vater sagt zu seinem braven Sohn: „Du solltest fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wieder­gefunden.“ Ob auch der brave Bruder wieder lebendig wird? Ob auch er seine Sünde erkennt und umkehrt? Ob er jetzt das Fest in herzlicher Freude über die Heimkehr seines Bruders mitfeiern kann? Ob er dabei auch selbst richtig heimkehrt in sein Vaterhaus? Jesus hat es uns nicht verraten; sein Gleichnis endet mit der freund­lichen Einladung des Vaters. Wenn du wissen willst, wie es ausgeht, dann frage dich selbst. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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