Das Menetekel

Predigt über Daniel 5 zum Aschermittwoch

Verlesener Text: Daniel 5,23b‑28

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wir Menschen sind komische Leute. Einerseits möchten wir unseren Mitmenschen gern überlegen sein, anderer­seits sehnen wir uns nach guter Gemein­schaft mit ihnen. Einerseits möchten wir selbst­bestimmt leben, anderer­seits sehnen wir uns nach Gottes Begleitung und Wegweisung. Das war in alten Zeiten nicht anders als heute.

Nehmen wir zum Beispiel den König Belsazar, von dem das Buch Daniel berichtet. Eigentlich war Belsazar gar kein richtiger König, er war nur der Sohn des babylo­nischen Herrschers Nabunid. Aber Nabunid hatte sich auf einen längeren Feldzug begeben und für diese Zeit seinem Sohn Belsazar die Regierungs­geschäfte übertragen. In dieser Position hätte Belsazar eigentlich dringend etwas für die Ver­teidi­gung des Landes tun müssen, denn der mächtige persische Feldherr Cyrus rückte gegen die Hauptstadt Babylon an. Stattdessen feierte Belsazar prunkvoll seine kommis­sarische Königs­macht. In der Bibel steht: „König Belsazar machte ein herrliches Mahl für seine tausend Mächtigen und soff sich voll mit ihnen.“ Bei diesem Gelage kommt einerseits seine Sehnsucht nach Gemein­schaft zum Ausdruck und anderer­seits das Bedürfnis, sich als überlegener Herrscher feiern zu lassen. Als das Fest in vollem Gange ist, lässt Belsazar ein paar besonders wertvolle Beutestücke aus der Schatz­kammer holen. Es handelt sich um goldene und silberne Gefäße, die sein Großvater Nebukad­nezar einst aus dem Jerusalemer Tempel geraubt hatte, bevor er ihn zerstören ließ. Diese heiligen Kannen und Becher waren dem einen wahren Gott geweiht, dem Schöpfer Himmels und der Erden. Aber nun entweiht Belsazar sie, indem er sich zusammen mit seinen Gästen und mit den Frauen seines Harems daraus volllaufen lässt. Dabei rühmen sie ihre babylo­nischen Götzen, die scheinbar stärker sind als der Gott Israels. So de­monstriert Belsazar mit Macht, Prunk und Reichtum seine scheinbare Über­legen­heit über Gott und Menschen – und greift doch zugleich nach dem Strohhalm des Aber­glaubens.

Ganz anders ist der König, dem dieser Titel vor allen anderen zusteht – kein Unterkönig, kein König auf Zeit, sondern der König aller Könige: Jesus hat darauf verzichtet, Über­legen­heit zur Schau zu stellen. Er hat sich stattdessen erniedrigt. Was ihm am Herzen lag, das war einzig die gute Gemein­schaft mit seinem himmlischen Vater und mit den Menschen. Zwar hat auch er fröhlich gefeiert, dabei aber stets seinen Vater geehrt und seine Mitmenschen geliebt.

Belsazars aus­gelassene Feier nimmt plötzlich eine unerwartete Wendung. Gottes Hand wird sichtbar und macht aus dem über­heblichen Herrscher eine angst­schlottern­de Kreatur. Gottes Hand schreibt auf die weiße Wand des Festsaals vier aramäische Schrift­zeichen. Dass sie etwas Wichtiges zu bedeuten haben, ist dem König sofort klar; was sie aber zu bedeuten haben, das bleibt rätselhaft. Der König geht das Problem zunächst so an, wie es seiner ver­meintlichen Über­legen­heit entspricht: Er besitzt ja außer über­ragender Macht und über­ragendem Reichtum auch überragende Weisheit. Zwar ist er persönlich nicht besonders klug, aber er hat das passende Personal dafür. So lässt er die geballte Intelligenz Babylons antreten – alle Wissen­schaftler und Weisen, die er zu dieser nächtlichen Stunde aus dem Bett holen kann. Sie sollen ihm die Schrift deuten. Aber Fehl­anzeige: Keiner kann sich einen Reim darauf machen. Vor Gottes Hand muss menschliche Weisheit kapitu­lieren; in Gottes Gegenwart gibt es keine Überlegen­heit. Auch das Ausloben einer üppigen Prämie nützt nichts. Doch schließlich erinnert sich die Königin­mutter: Es gibt da noch einen aus­ländischen Gelehrten, einen Juden, den greisen Propheten Daniel. Vielleicht ist der in der Lage, die Schrift an der Wand zu deuten. Daniel wird herbei­geholt, lehnt von vornherein die Prämie dankend ab und hält Belsazar und seinen Zechgenossen zunächst einmal eine Predigt über Demut. Am Beispiel des früheren Königs Nebukad­nezar macht er klar, dass es bei Gott keine Über­legen­heit geben kann, sondern dass Gott jeden früher oder später erkennen lässt, was für ein armseliges Geschöpf er ist im Gegenüber zum Schöpfer.

Daniel tritt hier nicht als Wissen­schaftler oder großer Gelehrter auf, sondern als Bote des all­mächtigen Gottes. Damit zeigt er zugleich, dass wahre Weisheit nichts mit überlegenem Geheim­wissen zu tun hat, sondern vielmehr mit Gottes­furcht und mit der Bereit­schaft, sich vom Herrn alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis schenken zu lassen. Das galt damals, und das gilt auch noch heute. Damals haben die Weisen Babylons allerlei geheimnis­vollen Hokuspokus getrieben, um sich mit der Aura überlegener Klugheit zu umgeben, und die Leute haben ihnen ehrfürchtig geglaubt. Heute glauben viele ehrfürchtig der Wissen­schaft; und sie glauben umso lieber und umso mehr, je weniger sie selbst von der Wissen­schaft verstehen. Der aber, der ehrlich fragt und forscht, wird dabei bald die Grenzen mensch­lichen Wissens erkennen und demütig werden.

Nach seiner Bußpredigt macht Daniel sich daran, die Schrift an der Wand zu deuten. Es handelt sich um die aramäischen Schrift­zeichen für Gewichts­einheiten: Mene-Mene, Tekel und Parsin. Die Namen dieser Gewichts­einheiten sind von drei Verben her­geleitet; die bedeuten auf deutsch „zählen“, „wägen“ und „teilen“. Gott zeigt Daniel, dass es hier nicht um die Gewichte als solche, sondern um die zugrunde liegenden Wortstämme geht. Nun braucht Daniel nur noch aus­zuführen, was diese drei Wortstämme für Belsazar bedeuten: Gott hat die Tage seines Königtums gezählt, es geht jetzt zuende. Gott hat Belsazars Verhalten richtend abgewogen und fest­gestellt, dass es nicht viel wert ist. Und Gott hat be­schlos­sen, das babylo­nische Großreich zu teilen, also zu zer­schlagen, und es den Medern und Persern zu geben. Genauso kommt es dann: Noch in derselben Nacht greifen die Perser die Stadt an und töten Belsazar.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, aus dieser Geschichte stammt der Begriff „Mene­tekel“. Er wird in der deutschen Sprache gebraucht für ein warnendes Vorzeichen und für die Ankündigung von drohendem Unheil. Auch wenn wir Heutigen nicht die göttliche Hand sehen, die das Menetekel damals an die Wand schrieb, so gilt es doch auch uns. Ebenso gelten Daniels mahnende Worte nicht nur dem Belsazar, sondern uns. Gott hat auch unsere Tage gezählt; niemand kann sein Leben gegen Gottes Willen auch nur um eine Sekunde verlängern. Und wie unsere Tage gezählt sind, so sind auch die Dinge gezählt, mit denen wir uns so gern überlegen fühlen wollen – Macht oder Reichtum oder Weisheit, je nachdem. Schnell geht das Leben zu Ende, und dann ist das alles plötzlich nichts mehr wert. Wenn wir gestorben sind, wird der Welten­richter auch unsere Taten abwiegen. Vor allem wird er unsere Liebe wägen und unsere Gottes­furcht. Haben wir das Band der Gemein­schaft in Liebe gefestigt, oder wollten wir lieber den anderen überlegen sein? Haben wir uns in demütiger Gottes­furcht unserm Schöpfer unter­geordnet, oder wollten wir uns lieber selbst ver­wirklichen? Wie Belsazar werden wir zu hören bekommen, dass unser Verhalten zu leicht ist, um im Gericht zu bestehen. Ja, wir sind zu leicht­fertig. Und so bleibt uns folge­richtig auch der dritte Teil des Menetekels nicht erspart: Wir werden von Gottes Reich getrennt, wir werden aus­geschlos­sen.

Werden wir das? Nein, ruft da der König, dem dieser Titel vor allen anderen zusteht. Nein, das Reich wird nicht von dir gerissen. Halte dich einfach an mir fest, ich bringe dich durchs Gericht hindurch in Gottes ewige Herrlich­keit! Denn ich selbst habe ja die Gott­verlassen­heit für dich getragen und dir so deine Strafe abgenommen. Das Reich muss uns doch bleiben. In diesem Reich, in der Ewigkeit, ist dann niemand mehr dem anderen überlegen, und die Sehnsucht nach guter Gemein­schaft ist gestillt. Da zählen nicht mehr Macht, Reichtum und Weisheit, da zählt nur noch die Liebe. Da braucht niemand mehr um seine Selbst­verwirk­lichung zu ringen, denn der Vater selbst schenk uns Leben in Fülle. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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