Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Brit Mila heißt die Zeremonie, mit der jüdische Jungen am achten Tag ihres Lebens beschnitten werden. Noch heute machen es die meisten jüdischen Eltern mit ihren Knaben so, wie auch Josef und Maria es mit Jesus machten: Sie lassen ein Stück von der Vorhaut des Säuglings entfernen und geben dabei offiziell den Namen des Kindes bekannt.
Im vergangenen Jahr ist eine öffentliche Diskussion um die Beschneidung Minderjähriger entbrannt. Auslöser war das Urteil eines deutschen Gerichts, das die Beschneidung als strafbare Körperverletzung bezeichnet hat; dabei wurde das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit betont. Viele haben dieses Urteil kritisiert und gesagt, es sei ein Eingriff in die Religionsfreiheit und in das Erziehungsrecht der Eltern. Inzwischen hat sich der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit dafür ausgesprochen, Beschneidungen an Minderjährigen unter bestimmten Voraussetzungen weiterhin zu tolerieren. Eine endgültige Klärung der Frage steht noch aus.
Die Diskussion deckt ein tiefer liegendes Problem unserer heutigen Gesellschaft auf. Es stellt sich nämlich die Frage: Wer darf letztlich über ein Kind bestimmen? Früher war die Antwort klar: Natürlich die Eltern! Wenn sie Juden waren, dann ließen sie es beschneiden, und wenn sie Christen waren, dann ließen sie es taufen. Sie entscheiden ja auch sonst alles mögliche für ihre unmündigen Kinder: den Namen, die Nahrung, die Kleidung, den Zahnarztbesuch, die Schule und die Erziehungsmethoden. Nur wenn Eltern ganz offensichtlich versagten und grobe Fehler machten, hat der Staat bisher eingegriffen. Weil wir heute in einer multikulturellen Gesellschaft leben, gibt es allerdings enorme Unterschiede zwischen den verschiedenen Familien. Nicht nur, dass einige Kinder beschnitten sind und andere getauft und wieder andere nichts von beidem; nein, große Unterschiede zeigen sich zum Beispiel auch bei der frühkindlichen Erziehung. Da will die Gesellschaft nun stärker eingreifen und für Gerechtigkeit sorgen. Man hat manchmal den Eindruck, dass deswegen Kinder möglichst jung in Kitas gebracht werden sollen: Die verschiedenen Erziehungsmilieus der Familien sollen so ergänzt werden, dass die Kinder gleiche Bildungschancen bekommen. Die Gesamtgesellschaft macht sich damit eine Aufgabe zu eigen, die traditionell ganz Aufgabe der Eltern beziehungsweise der Familien ist.
Was steckt dahinter? Man sieht heute jeden Menschen und auch schon jedes Kind vorwiegend als Einzelwesen an, das bestimmte Rechte und Pflichten hat. Da ist zwar etwas Wahres dran – und doch ist es letztlich eine trügerische Illusion, die persönlichen Selbstbestimmung jedes Menschen als das Wichtigste anzusehen. Bei Afrikanern gibt es das Sprichwort: „Ein Mensch ist ein Mensch nur durch Menschen.“ Das bedeutet: Ein Mensch entfaltet sich erst innerhalb der gelebten Gemeinschaft mit anderen Menschen zum vollen Menschsein. Auch in der Bibel finden wir diese Erkenntnis wieder: Es ist ganz wichtig, dass ein Mensch zu einer bestimmten Familie und zu einem bestimmten Volk gehört. Niemand wäre vor zweitausend Jahren auf die Idee gekommen, Maria und Josef am achten Tag nach Jesu Geburt zu sagen: Halt, beschneidet euren Sohn nicht; wartet erst einmal ab, bis er alt genug ist, um selbst zu entscheiden! Sie waren doch eine jüdische Familie; Jesus gehörte selbstverständlich dazu, und darum tat man das, was alle jüdischen Familien mit ihren achttägigen Jungen taten. Die Beschneidung war für Jungen das äußere Zeichen der Dazugehörigkeit – nicht nur zur Familie, sondern auch zum ganzen Volk. Weil aber das jüdische Volk Gottes besonders Bundesvolk ist, ist die Beschneidung zugleich das Zeichen der Dazugehörigkeit zu Gott und seinem Bund. Als solches hat Gott die Beschneidung bereits dem Stammvater Abraham geboten und gesagt: „Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden; eure Vorhaut sollt ihr beschneiden. Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. Jedes Knäblein, wenn's acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen.“ (1. Mose 17,10‑12)
Liebe Brüder und Schwestern in Christus, auch heute kann ein Mensch nur als Teil einer Gemeinschaft leben und überleben. Kleine Kinder erleben diese Gemeinschaft am besten zunächst im überschaubaren Kreis der Familie. Da werden sie mit allem Nötigen versorgt – nicht nur mit dem, was sie leiblich brauchen, sondern vor allem mit liebevoller Zuwendung. Wenn die in den ersten Lebensjahren fehlt, dann erleiden die Kinder Schäden, die sich im ganzen weiteren Leben auswirken können. Aber auch der Erwachsene braucht Gemeinschaft – in einer Partnerschaft, in einer Familie oder auch in einer Ersatzfamilie. Selbst wenn einer ganz zurückgezogen wie ein Einsiedler lebt, ist er doch auf seine Mitmenschen angewiesen: Er braucht Leute, die für ihn Strom produzieren, die Regale im Supermarkt füllen und seinen Müll abtransportieren. Gott hat den Menschen so geschaffen, und anders kann er nicht leben: Er muss zu einer Gemeinschaft gehören. Die völlige Selbstbestimmung und Bindungslosigkeit ist letztlich lebensfeindlich und eine Illusion.
Mit der Beschneidung hat Gott seinem alttestamentlichen Eigentumsvolk deutlich gemacht, dass auch und vor allem die Bindung an ihn, den Schöpfer, unverzichtbar wichtig ist. Wer beschnitten war, der gehörte zu Abrahams Nachkommenschaft und damit zu Gottes Volk; er war durch die Beschneidung hineingenommen in Gottes Verheißungen für Abraham. Aus diesen Verheißungen ragt eine besonders heraus; der Apostel Paulus hat im Galaterbrief an sie erinnert. Gott versprach dem Abraham: „Durch deinen Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden“ (1. Mose 22,18). Paulus strich dabei heraus, dass hier nicht von vielen Nachkommen die Rede ist, sondern nur von einem einzigen. Dieser eine Abrahamsnachkomme ist kein anderer als Jesus. Das zeigt sich unter anderem auch an seiner Beschneidung: Er ist beschnitten worden, wie Gott es für alle Abrahamsnachkommen verfügt hat; er trug das Zeichen der Dazugehörigkeit zu Gottes Volk. Aber er eröffnete darüber hinaus den Zugang zu Gottes Volk für Menschen aus anderen Völkern – so, wie Gott es dem Abraham verheißen hatte: „Durch deinen Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden.“ Das ist überhaupt der Sinn und Zweck, warum Gott seinen eingeborenen Sohn Mensch werden ließ: Er sollte bewirken, dass alle Menschen, die sich von Gott entfremdet hatten, wieder zu ihm gehören können. Diese Versöhnungstat hat Jesus am Kreuz vollbracht. Jeder, der daran glaubt, darf wissen: Ich gehöre dazu – zu Gott und zu seinem Volk. Ich bin nun Mitglied seiner Familie. In ihr finde ich alles, was ich zum Leben brauche – sogar zum ewigen Leben. Wir merken: Christsein ist keineswegs etwas Privates, was jeder für sich in seinem stillen Herzenskämmerlein leben kann, es ist vielmehr etwas Gemeinschaftliches. Christsein ohne gelebte Gemeinschaft ist zum Sterben verurteilt; ich habe es leider oft erlebt bei Menschen, die sich von der christlichen Gemeinschaft entfernt hatten und deren Glaube dann verkümmerte. Aber das Entscheidende ist natürlich Jesu Erlösung, nicht die leibliche Abstammung oder sonst irgendwelche menschlichen Voraussetzungen. Paulus schrieb: „Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Wohlbemerkt: „Ihr seid einer“, steht da, und nicht: „Ihr seid gleich“. Es geht hier nicht um Chancengleichheit für persönliche Selbstbestimmung, sondern es geht hier um die Einheit in der Gemeinschaft von Gottes Familie beziehungsweise von Gottes Volk; es geht hier um die lebenswichtige Dazugehörigkeit. Und dann folgt der Satz, dem diese Predigt zugrunde liegt: „Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.“ Nach der Verheißung nämlich, die Gott dem Abraham gab: „Durch deinen Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden.“ Entscheidend ist nicht mehr die leiblich Abstammung, entscheidend ist die Gemeinschaft mit Jesus.
Wenn das so ist, müssten wir dann nicht auch alle christlichen Jungs beschnitten werden? War das nicht das Zeichen der Dazugehörigkeit, das Gott dem Abraham geboten hatte? Und hat nicht der Herr selbst dieses Zeichen der Dazugehörigkeit getragen? Ja, so ist es; das Zeichen der Dazugehörigkeit hat nach wie vor seine Bedeutung, auch für Gottes neuen Bund. Und weil da gilt: „Hier ist nicht Mann noch Frau“, sollen nicht nur die Männer dieses Zeichen tragen, sondern auch die Frauen. Und doch hat sich etwas geändert. Der Apostel Paulus schrieb den Kolossern: „In Christus seid ihr beschnitten worden mit einer Beschneidung, die nicht mit Händen geschieht, als ihr nämlich euer fleischliches Wesen ablegtet in der Beschneidung durch Christus“ (Kol. 2,11). In Gottes neuem Bund ist die Beschneidung nichts Chirurgisches mehr (“chirurgisch“ bedeutet „mit der Hand durchgeführt“). Die göttliche „Beschneidung“ durch Christus ist die Taufe; da hat der Heilige Geist uns „beschnitten“ und so die Zugehörigkeit zu Gottes Volk besiegelt. In unserem Kapitel im Galaterbrief heißt es ausdrücklich: „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“ Mit der Taufe haben wir Christus angezogen, den Gottessohn und den beschnittenen Abrahamssohn; auf diese Weise haben wir auch Anteil an seiner Beschneidung und an seiner Abrahamskindschaft. Die Taufe bezeugt uns, dass wir dazugehören zum Volk der Abrahamskinder und damit zum lebendigen Gott.
Liebe Brüder und Schwestern, es ist für jeden Menschen lebenswichtig, zu einer Gemeinschaft zu gehören: zu einer Familie, zu einer Gesellschaft, zu einem Volk. Am wichtigsten ist es aber, zu Gottes Volk zu gehören, denn nur da finden wir Leben die Fülle und ewige Seligkeit. Jesus hat uns das geschenkt. Durch ihn sind wir nicht nur Abrahams und Gottes Kinder, sondern auch, wie Paulus ausdrücklich sagt, Erben. Ja, wir gehören zu denen, die einst das reiche Erbe der ewigen Seligkeit antreten dürfen. Dem dreieinigen Gott sei dafür Lob und Ehre in Ewigkeit. Amen.
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