Der Löwe, der als Lämmlein kommt

Predigt über Offenbarung 5,1‑14 zum 1. Advent

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Advent heißt Ankunft, und die Adventszeit stellt uns die Frage: Was wird denn bei uns ankommen; was kommt auf uns zu? Diese Woche tagt die 18. UN-Klima­konferenz in Doha. Im Zusammen­hang mit ihr werden Sorgen laut um schlimme klimatische Ver­änderungen auf der ganzen Welt. Aber egal was die Delegierten auf dieser Konferenz vereinbaren oder auch nicht ver­einbaren: Niemand kann genau sagen, was wettermäßig auf uns zukommt, nicht einmal für heute in einer Woche. Das gilt nicht nur für Winde und Tempera­turen, sondern das gilt auch im über­tragenen Sinn – für das Wirtschafts­klima zum Beispiel, oder für das Klima in zwischen­menschlichen Beziehungen. Kein Meteoro­loge, kein Wissen­schaftler und kein Politiker kann sicher sein, was die Zukunft bringt. Dabei wüssten viele das nur zu gern, denn sie machen sich Sorgen um die Zukunft. Manche unternehmen hilflose Versuche, der Zukunft ihre Geheimnisse zu entreißen: Sie lassen sich Horoskope erstellen oder Karten legen. Selbst Politiker von höchstem Rang haben sich schon von Wahrsagern beraten lassen. Aber es hilft alles nichts: Die Zukunft bleibt ein Buch mit sieben Siegeln.

Damit sind wir bei unserem Predigt­text. Aus diesem Abschnitt der Offenbarung des Johannes stammt das sprichwört­liche „Buch mit sieben Siegeln“. Dieser Abschnitt hat eine Schlüssel­funktion für die ganze Johannes-Apokalypse. Davor enthält das letzte Buch der Bibel Botschaften mit Bezug auf die Gegenwart, besonders auf die Situation der sieben klein­asiatischen Gemeinden, denen die sieben Send­schreiben gewidmet sind. Danach enthält die Offenbarung Visionen über die Zukunft bis zur Vollendung des Heils, also bis hin zur ewigen Seligkeit im Himmel. Das Buch mit den sieben Siegeln steht sinnbild­lich für diese Zukunft. Es handelt sich eigentlich um eine Schrift­rolle, denn ein Buch mit vielen Seiten kannte man damals noch nicht. Diese Schrift­rolle ist auf beiden Seiten voll­geschrieben (“innen und außen“, wie es heißt), und da wird die gesamte Welt­geschichte erzählt. Johannes sieht, wie der himmlische Vater auf einem Thron sitzt und diese Schrift­rolle (und damit die ganze Welt­geschichte) in seiner rechten Hand hält. Niemand weiß, was da auf­geschrieben ist, und niemand kann deuten, wie das alles zusammen­hängt und warum alles so und nicht anders geschieht. Die Schrift­rolle ist ja zusammen­gerollt und mit sieben Siegeln ver­schlossen. Sieben ist die Zahl der Vollkommen­heit; also ist die weitere Welt­geschichte vollkommen geheim. Johannes hört einen mächtigen Engel mit lauter Stimme fragen: „Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?“ Aber da findet sich niemand; die Welt­geschichte bleibt verborgen. Das bereitet dem Johannes große Sorgen – er ist ja ein Mensch wie du und ich, und auch wir machen uns um die Zukunft Sorgen. Johannes ist so betrübt, dass er zu weinen anfängt. Er hat Angst vor dem, was ihm und der Welt noch bevorsteht an Not, Angst und Leiden.

Aber da findet sich Trost. Jemand sagt zu Johannes: „Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.“ Es gibt also doch einen, der das Geheimnis um die Zukunft lüften kann – einen einzigen; der ist der Schlüssel zu allen Geheim­nissen und zur ganzen Welt­geschichte. Mächtig ist er und wird darum „Löwe“ genannt: „der Löwe aus dem Stamm Juda“ (1. Mose 49,9‑10). Der sterbende Stammvater Israel hatte vor langer Zeit über seinen Sohn Juda folgendes Segenswort gesprochen: „Juda ist ein junger Löwe… Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held komme, und ihm werden die Völker anhangen.“ Dieser Löwenheld allein ist würdig, das Buch der Zukunft aufzu­rollen. Innerhalb des Stammes Juda kommt er aus der Königs­familie Davids, darum wird er auch „die Wurzel Davids“ genannt, oder besser: ein Spross aus dieser Wurzel. Er ist der verheißene Davidssohn, der nach den Weis­sagungen vieler Propheten Frieden bringen und ewig regieren wird. Wirklich eine würdige Person zum Öffnen der sieben Siegel!

Und dann sieht Johannes den, der so großartig angekündigt worden ist. Aber was sieht er eigentlich? Er schrieb: „Ich sah ein Lamm dastehen, wie ge­schlach­tet.“ Eigentlich müsste man sogar übersetzen: „ein Lämmlein“. Es trägt noch die Spuren einer gewaltigen Schnitt­wunde am Hals, so wie man damals Lämmer als Opfertiere schlach­tete, aber es liegt nicht tot vor Gottes Thron, sondern es lebt und steht da. Ein Opfer­lämmchen, klein, schwach, dem Messer des Schlächters aus­geliefert – das ist der Löwe aus Judas Stamm, das ist der mächtige Davidssohn. Wie sonderbar, wie un­glaublich! Aber wir wissen: Gerade so hat es Gott gefallen, sein Reich des neuen Bundes aufzu­richten. Gerade durch den schwachen Jesus am Kreuz hat er die Sünde und den Tod besiegt. Der starke Löwe tritt auf wie ein schwaches Opferlamm – das ist der Kern des Evan­geliums, der Kern unseres christ­lichen Glaubens. Aber Gott hat den Ge­kreuzigten vom Tod auferweckt und zu seiner Rechten gesetzt, sodass er nun der Schlüssel zur Zukunft und zur ganzen Welt­geschichte ist – er allein, kein anderer. Zum Zeichen dafür sieht Johannes das Lamm sieben Hörner haben – sieben als Zahl der Vollkommen­heit und das Horn als Symbol der Macht. Ebenso sieht Johannes sieben Augen am Lamm – sieben wieder als Zahl der Vollkommen­heit und das Auge als Symbol der Einsicht, Weitsicht und Weisheit. „Sieben Geister Gottes“ werden diese Augen genannt, wiewohl es doch nur einen Heiligen Geist gibt. Gemeint ist hier die Fülle der Geistes­gaben, so wie sie der Prophet Jesaja bereits vom Spross aus Davids Wurzel voraus­gesagt hat: „Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn“ (Jes. 11,2).

Nun sieht Johannes, wie das Gotteslamm die Schrift­rolle aus der Hand seines Vaters nimmt, und wir müssen dabei an die Worte denken, die der auf­erstandene Christus seinen Jüngern sagte: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden“ (Matth. 28,18). Und dann erlebt Johannes ein großes Gotteslob wie in einer Ketten­reaktion. Der eine Gott und das eine Lamm werden angebetet – zuerst von vier merk­würdigen Gestalten, die viele Bibel­ausleger mit den vier Evange­listen gleich­setzen; dann von vierund­zwanzig „Ältesten“, die die zwölf Stammväter Israels für den alten Bund re­präsen­tieren sowie die zwölf Apostel für den neuen Bund; dann von Millionen von Engeln; schließlich von allen Geschöpfen. Sie beten an und bekennen dem Gotteslamm: „Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist ge­schlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen…“ Auch rufen sie: „Das Lamm, das ge­schlachtet ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.“ Und schließlich hallt es in der ganzen Schöpfung wider: „Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, macht ihr euch Sorgen um die Zukunft? Um das Klima der Welt, um das Klima der Wirtschaft, um das Klima eurer zwischen­menschli­chen Be­ziehungen, um eure Gesundheit und um euer Lebens­glück? Dann lasst euch trösten, wie Johannes getröstet wurde. Niemand kennt euren weiteren Lebensweg und die Zukunft der Welt­geschichte; niemand kann letztlich verstehen, warum alles gerade so und nicht anders kommt – niemand außer einem: dem Löwen, der als Lämmlein kommt. Nur er ist würdig, die Siegel von Gottes Zukunfts­buch zu brechen, und darum ist auch nur er würdig, dass wir ihm vertrauen. Er nimmt dich an die Hand und führt dich gut durch dein Leben, denn du bist blind für die Zukunft, er aber hat sieben Augen. Er stößt den Teufel weg und behütet deine Seele auch in den schwersten Stunden deines Lebens, denn er hat sieben Hörner. Für dich hat er sich schlachten lassen als ein Sündopfer, und für dich steht er wieder lebend vor dem Thron des all­mächtigen Vaters. Vetraue ihm nur, er ist der Schlüssel zum Lebenssinn, der Schlüssel zur Zukunft, der Schlüssel zu Gott und der Schlüssel zur ewigen Seligkeit!

Advent heißt Ankunft, und die Adventszeit stellt uns die Frage: Was wird denn bei uns ankommen; was kommt auf uns zu? Jetzt können wir fröhlich antworten: Wir wissen nicht, was noch alles auf uns zukommt auf unserem Lebensweg, aber wir wissen, wer auf uns zukommt! Nämlich der, der einst gekommen ist, um sich als Gotteslamm für unsere Sünden schlachten zu lassen, und der, der heute mit uns durchs Leben geht: der Löwe, der als Lämmlein kommt. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2012.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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