Auf die Stimme des Hirten hören

Predigt über Johannes 10,27‑30 zum Sonntag Miserikordias Domini

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn man mit der Bahn fährt, sieht man viele Leute, die hören. Manche von ihnen haben große Kopfhörer über den Ohren. Aber sie hören bestimmt keine Predigten und keine weisen Lehren, vermutlich auch keine Erzählungen und keine Gedichte, sondern sie hören Musik. Das Ohr will vom Alltagslärm abgelenkt und mit schönen Klängen erfreut werden. Wenn es darum geht, etwas zu lernen oder etwas Neues zu erfahren, dann ist das Auge heutzutage wichtiger als das Ohr. Der heutige Mensch will vor allem etwas sehen: Bunte Bilder, phantas­tische Filme, Gesichter, Tanz, Bewegung, Sen­sationen, Kata­strophen… Auf Worte hören und von ihnen lernen, das ist nicht so angesagt. Da schwimmen wir Christen mal wieder gegen den Strom. Uns sind Worte wichtig, und wir hören auf sie. Die ge­sprochenen Worte der Lesungen und Predigten sind tragende Säulen unserer Gottes­dienste. Das war zu allen Zeiten so. Martin Luther schrieb in einer unserer Bekenntnis­schriften, in den Schmalkal­dischen Artikeln: „Es weiß gottlob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören.“ Das Hören ist dabei charakte­ristisch für die Gläubigen, nämlich das Hören auf die Stimme des guten Hirten Jesus Christus. So hat es des Herr ja selbst gesagt, so steht es in unserm Predigt­text: „Meine Schafe hören meine Stimme.“

Über dieses Hören lasst uns jetzt nachdenken. Hören ist erstens ein Wahrnehmen mit den Ohren. Aber es ist mehr: Es ist zweitens ein Verstehen mit dem Geist. Und es meint noch mehr: Es ist drittens ein Beherzigen mit dem ganzen Leben.

Fangen wir mit Erstens an: Hören ist ein Wahrnehmen mit den Ohren. Stellt euch eine Schulklasse vor. Der Mathematiklehrer bringt den Schülern bei: 2000 ist größer als 1500. Die Schüler hören das – wenn bestimmte Voraus­setzungen erfüllt sind: Die Schüler dürfen nicht hör­behindert sein. Sie dürfen auch keinen Lärm machen. Und sie müssen natürlich anwesend sein in der Unterrichts­stunde. Wenn all diese Bedingungen erfüllt sind, dann nehmen sie mit den Ohren wahr: 2000 ist größer als 1500.

Auch bei der Stimme des Herrn Jesus Christus geht es zunächst darum, dass wir sie mit den Ohren wahrnehmen – wir und möglichst viele andere Menschen. Zwar kann man Gottes Wort auch mit den Augen in der Bibel lesen, aber eigentlich ist es zum Vorlesen und Gehört­werden gedacht. Paulus lehrte im Römerbrief: „Der Glaube kommt aus der Predigt, die Predigt aber aus dem Wort Christi“ (Römer 10,17). Für „Predigt“ steht da auf Griechisch „akoä“, „das Gehörte“. Paulus bestätigt also: Das akustische Wahrnehmen der Stimme Christi in der Evangeliums­verkündigung ist es, das den Glauben stärkt.

Ein weiteres Merkmal dieses Wahrnehmens mit den Ohren besteht darin, dass es in der Gemein­schaft geschieht. Das Bild mit den Schafen und der Stimme des Hirten macht dies deutlich: Die Schafe befinden sich in einer Herde und scharen sich um den Hirten, der zu ihnen redet. Wir können hier ebenso wieder an die Schulklasse und den Lehrer denken. So haben es die Christen von Anfang an gemacht: Sie haben sich um diejenigen versammelt, die ihnen Christi Wort gesagt haben. Das waren in der Anfangszeit die Apostel gewesen. Darum heißt es von der ersten christ­lichen Gemeinde: „Sie blieben beständig in der Apostel­lehre“ (Apostel­gesch. 2,42). Das bedeutet: Sie ver­sammelten sich regelmäßig, um zu hören, wie die Apostel ihnen von den Worten und Taten des Herrn Jesus Christus erzählten. Ja, das Wahrnehmen mit den Ohren geschieht in der Gemein­schaft der Christen.

Kommen wir zweitens zum Verstehen mit dem Geist. Wieder begeben wir uns zuerst in die Schul­klasse. Der Lehrer sagt: 2000 ist größer als 1500. Nicht jeder, der diese Worte akustisch hört, versteht sie auch. Grund­voraus­setzung des Verstehens ist es, dass der Lehrer die Sprache der Schüler spricht. Aber auch wenn alle Deutsch verstehen, heißt das nicht unbedingt, dass sie den Inhalt des Satzes kapieren. Wer mathe­matisch unbegabt ist, fragt sich vielleicht: Wieso größer? 2000 schreibt man mit vier Ziffern, und 1500 schreibt man auch mit vier Ziffern, was soll daran größer sein? Verstehen bedeutet letztlich erfassen, was der Lehrer eigentlich meint.

Bei der Stimme des guten Hirten und bei Gottes Wort müssen wir noch einen Schritt weiter­gehen. Auch wenn wir die Botschaft der Bibel in unserer Sprache hören und auch wenn uns der gram­matische Sinn der Sätze klar ist, heißt das noch nicht, dass wir den tiefen geistlichen Sinn erfassen. Das ist keine Sache des Verstandes und der Intelli­genz, es ist eine Sache des Heiligen Geistes. Das, was Gottes Wort sagt, bleibt dem natürlichen Menschen­verstand sogar oftmals völlig un­verständ­lich. Dass Jesus am Kreuz sterben musste zu Vergebung unserer Sünden oder dass er mit seinem Leib und Blut heute zu uns kommt im Heiligen Abendmahl, das kommt ver­nünftigen Leuten gänzlich un­vernünftig vor – wenn ihnen nicht der Heilige Geist den tiefen geistlichen Sinn eröffnet. Der Max-und-Moritz-Autor Wilhelm Busch wusste etwas davon, denn er sagte: „Wer in Glaubens­sachen den Verstand befragt, kriegt un­christliche Antworten.“ Das muss auch so sein. Jesus offenbarte: „Mein Vater ist größer als alles.“ Weil das so ist, ist Gott natürlich auch größer als unsere menschliche Vernunft, und das, was er uns offenbart, ist ebenfalls größer. Es kann nur kindlich staunend geglaubt, nicht aber logisch verstanden werden. Der Apostel Paulus sprach daher von den „Geheim­nissen des Glaubens“.

Wer diese „Geheim­nisse des Glaubens“ durch den Heiligen Geist vertrauens­voll annimmt und ernst nimmt, der hat „Erkenntnis der Wahrheit“, heißt es in der Bibel. Genau das bedeutet das Verstehen mit dem Geist. Anders als wissen­schaftliche Erkenntnis ist dieses Verstehen mit dem Geist aber nicht die Frucht nach langem Mühen und großer An­strengung, sondern es ist ein Geschenk Gottes. Gott durch die Stimme Christi erkennen bedeutet eigentlich, von Christus erkannt werden. Christus sagte: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie.“ Verstehen mit dem Geist bedeutet folglich Gemein­schaft mit Christus, und durch ihn Gemein­schaft mit dem himmlischen Vater. Verstehen mit dem Geist bedeutet an Christus glauben.

Wenn jemand die Stimme Christi mit den Ohren hört und mit dem Geist versteht, dann ist damit noch nichts über sein Verhalten gesagt, über seinen Lebens­wandel. Auch der hat etwas mit dem Hören auf die Stimme Christi zu tun. Auf Christus hören bedeutet nämlich drittens ein Beherzigen mit dem ganzen Leben. Noch einmal bemühen wir unsere Schulklasse als Gleichnis. Setzen wir mal voraus, dass bis zum Schulabgang es alle kapiert haben: 2000 ist größer als 1500. Nun werden die Schüler ins Leben entlassen, durchlaufen eine Ausbildung und können hoffentlich alle einen Beruf ergreifen. Da ist einer, der verdient schließlich 1500 Euro netto im Monat – gar nicht schlecht. Und er hat auch gehört, begriffen und nicht vergessen, dass 2000 größer ist als 1500. Trotzdem beherzigt er das nicht in seinem Leben. Er leistet sich allen möglichen Luxus, den er sich eigentlich nicht leisten kann. Er gibt durch­schnittlich 2000 Euro im Monat aus, obwohl nur 1500 Euro herein­kommen. Er beherzigt das Gehörte nicht; er beherzigt nicht, dass 2000 mehr ist als 1500, und das wird ihm zum Verhängnis. Denn über kurz oder lang wird er so viel Schulden haben, dass er nur schwer wieder davon herunter­kommt.

Ebenso ist es mit dem Hören auf die Stimme des guten Hirten. Es gilt also, das zu beherzigen, was er sagt. In den Sprachen der Bibel ist „hören“ und „gehorchen“ ein und dasselbe Wort, und für „glauben“ wird manchmal der Begriff „der Wahrheit gehorchen“ verwendet. Dabei geht es natürlich auch um richtiges Verhalten in den ver­schiedenen Lebens­situationen dieser Welt; es geht um Gebote und Nächsten­liebe. Vor allem aber geht es darum, aus dem Vertrauen in den guten Hirten zu leben. Wer seiner Liebe und seiner Erlösungs­tat vertraut, kann fröhlich und gelassen sein. Er wird Gottes Worte über Menschen­worte stellen und aus ihnen immer Trost und Kraft empfangen. Er wird auch ständig beten, ständig alle Alltags­sorgen und Alltags­freuden vertrauens­voll vor den Herrn bringen. Ja, auch das bedeutet es, auf die Stimme des guten Hirten zu hören: ihr vertrauens­voll zu gehorchen, sie mit dem ganzen Leben zu beherzigen. Wer bis ans Lebensende in diesem Vertrauen bleibt, der hat Gemein­schaft mit anderen Gläubigen und mit Gott in Zeit und Ewigkeit. Denn niemand kann die Schafe dem guten Hirten aus der Hand reißen; niemand kann ihm den Besitz der Herde streitig machen. Er sagte: „Ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen.“

Wir haben betrachtet, was es bedeutet, als Schafe der göttlichen Herde auf die Stimme des guten Hirten zu hören. Es ist erstens ein Wahrnehmen mit den Ohren, zweitens ein Verstehen mit dem Geist, drittens ein Beherzigen mit dem ganzen Leben. Und wer ist der gute Hirte? Keine Frage, das ist Jesus selbst! Aber nicht Jesus allein, sondern Jesus in Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater. Schon im Alten Testament heißt es ja von Gott: „Der HERR ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln“ (Psalm 23,1). Wenn Jesus von den Schafen sagte: „Niemand wird sie aus aus meiner Hand reißen“, dann sagte er auch im selben Atemzug: „Niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen“, und er fügte hinzu: „Ich und der Vater sind eins.“ Wir sehen: Der gute Hirte Jesus Christus sagt nichts anderes, als was der himmlische Vater sagt; seine Stimme ist Gottes Stimme; und ohne Jesus kann niemand hören, was der Vater sagen will. Die Stimme des guten Hirten Jesus Christus aber wurde von seinen Aposteln weiter­getragen; er hat zu ihnen gesagt: „Wer euch hört, der hört mich“ (Lukas 10,16). Die Botschaft der Apostel wurde im Neuen Testament auf­geschrieben; das Neue Testament und die ganze Bibel enthalten nichts anderes als die Stimme des guten Hirten. Die Botschaft der Bibel aber wird bis zum heutigen Tag von den Pastoren öffentlich zu Gehör gebracht und ausgelegt. Das Wort „Pastor“ bedeutet „Hirte“, nämlich Hilfshirte oder Unterhirte unter dem einen guten Hirten Jesus Christus. Darum hören die Schafe der Herde Christi auf ihre Pastoren, die Pastoren aber hören auf die Bibel, das Wort der Apostel Jesu Christi, der das Wort des himmlischen Vaters offenbar gemacht hat und sagte: „Meine Schafe hören meine Stimme.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2012.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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