Mutter Jerusalem

Predigt über Jesaja 66,10‑13 zum Sonntag Lätare

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Viele Städte in Brandenburg haben dieses Problem: Die Einwohner­zahl sinkt und das Durch­schnitts­alter steigt. Man kann es den jüngeren Menschen nicht verdenken, dass sie wegziehen. Es gibt einfach nicht genügend Arbeits­plätze, wo jeder genug verdienen kann, um einen guten Lebens­standard zu haben und womöglich noch eine Familie zu ernähren. Die Folge: Es werden in diesen Städten immer weniger Kinder geboren. Dadurch verstärkt sich der Trend: Die Einwohner­zahl sinkt und das Durch­schnitts­alter steigt. Seit uralten Zeiten werden Städte mit Müttern verglichen: Sie bringen Kinder hervor und ernähren sie. Die eben be­schriebe­nen Städte in Brandenburg gleichen kranken Müttern: Sowohl mit dem Kinder­kriegen als auch mit dem Ernähren der Kinder klappt es nicht so richtig.

Das Wort des Propheten Jesaja, das wir eben gehört haben, vergleicht die Stadt Jerusalem mit einer Mutter. Traurige Zeiten liegen hinter ihr: Kriegs­zeiten, Trümmer­zeiten. In diesen Zeiten hatte Jerusalem nur wenige Einwohner, die meisten Leute waren weg – so wie bei den schrump­fenden Städten in Branden­burg. Aber nun kündigt Gott durch Jesaja eine Wende an, eine Freuden­zeit: Jersusalem wird wieder eine Mutter vieler Kinder werden – und kann sie auch ernähren! Jerusalem wird wieder ihrem Namen Ehre machen – dem Namen, der übersetzt bedeutet: „Gründung des Friedens“. Jesaja prophe­zeite: „Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an dem Reichtum ihrer Mutter­brust.“

Wenn man sich die über drei­tausend­jährige Geschichte von Jerusalem vor Augen hält, dann hat es da viele Höhen und Tiefen gegeben; Friedens­zeiten haben sich mit schreck­lichen Kriegs­zeiten ab­gewechselt. Gegenwärtig ist Jerusalem ein Zankapfel zwischen Arabern und Juden; der moderne Staat Israel hat nicht zuletzt wegen Jerusalem seit den letzten 60 Jahren keinen richtigen Frieden erlebt. Da stellt sich die Frage: Welche Freudenzeit meinte Jesaja denn; welche Epoche des Friedens ließ Gott durch ihn ankündigen? Viele Juden und auch manche Christen vertreten die Ansicht: Diese Zeit kommt erst noch. Sie verstehen das Jesaja-Wort und ähnliche Prophe­zeiungen als An­kündigung, dass irgendwann in der Zukunft, irgendwann vor dem Jüngsten Tag Jerusalem nicht nur zum geo­grafischen Zentrum des weltweiten Judentums werden wird, sondern auch zu einer Friedens­hauptstadt für alle Völker der Erde. Stimmt das, ist das wirklich Gottes Botschaft durch Jesaja und die anderen Propheten?

Durch Jesus selbst und durch seine Apostel wissen wir, dass er, der Mensch gewordene Gottessohn, Ziel und Erfüllung aller alt­testament­lichen Prophe­zeiungen ist, und damit auch der Schlüssel zu ihrem rechten Ver­ständnis. Jesus aber hat deutlich gemacht, dass mit seinem Kommen und mit dem neuen Bund der Jerusalemer Tempel nicht mehr die Stätte ist, wo Gott bei seinem Volk wohnt und von wo aus er segnet. Jesus verkündete, dass sein Leib nun der neue Tempel ist. Er sagte von seinem Leib: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten“ (Joh. 2,19). Und er sagte von der Zeit des neuen Bundes: „Es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet… Es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit“ (Joh. 4,21.23). Seinen Jüngern verhieß er: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matth. 18,20). Mit all diesen Worten machte er deutlich: Im neuen Bund sind Gottes Reich und Jerusalem nicht geo­grafisch, sondern geistlich zu verstehen. Überall, wo auch nur zwei oder drei Gläubige sich im Namen Jesu versammeln, da ist Jerusalem, da ist Gott gegen­wärtig, da ist der Tempel – ganz egal, auf welchem Kontinent. Im Hebräer­brief wird uns darum zugesagt: „Ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln und zu der Versammlung und Gemeinde der Erst­geborenen, die im Himmel auf­geschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus“ (Hebr. 12,22‑24). Dieses himmlische Jerusalem ist unsichtbar bereits jetzt überall da gegen­wärtig, wo Christen sich in Jesu Namen versammeln. In der Ewigkeit wird es dann mit seiner ganzen Pracht und Herrlich­keit sichtbar werden, wie es im Buch der Offenbarung auf­geschrieben ist. Um dieses himmlische Jerusalem, um dieses Gottesreich geht es in Jesajas Weissagung.

Damit wird das Jesajawort zu einer Freuden­botschaft, die ganz direkt an uns adressiert sind. Denn wir versammeln uns ja bei Jesus, dem Tempel des neuen Bundes. Wir sind in Gottes Reich hinein­geboren worden; darum ist das geistliche Jerusalem unsere Mutter. Und was für eine Mutter! Eine Mutter, die uns reichlich mit allem Nötigen versorgt und die uns tröstet, wenn wir traurig sind. Wir gehören als Kinder zum Haushalt des himmlischen Vaters, und er schenkt uns mütter­lichen Trost durch das himmlische Jerusalem, wie Jesaja prophezeit hat: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden.“

Dieser Trost und diese Freude sollen uns ganz anschaulich vor Augen treten im Bild der Mutter. Es ist die Mutter Kirche, das Volk der Christen­heit, die Gemeinde der Heiligen, die Versammlung aller Gläubigen. Diese Mutter hat uns geistlich geboren durch die heilige Taufe, das Bad der Wieder­geburt. Diese Mutter lässt uns an ihren prallen Brüsten die süße Milch des Evangeliums trinken, das uns in aller Not und Traurigkeit tröstet, wie Jesaja verhieß: „Nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes, denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an dem Reichtum ihrer Mutter­brust.“ Wer bei dieser Mutter trinkt, der ist im Frieden. Er saugt die Milch des Evangeliums auf mit jedem Bibelwort, mit jeder Predigt, mit jedem Sakraments­empfang. Durch die Milch des Evangeliums findet er Frieden mit Gott in der Vergebung der Sünden, und die Frucht davon ist Friede unter allen Kindern dieser Mutter. Jesaja sagte: „Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen über­strömenden Bach.“ Wie einst in alt­testament­licher Zeit die Priester im Jerusalemer Tempel Gottes Frieden auf die Gläubigen legten, so geschieht es heute am Ende eines jeden Gottes­dienstes: „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und gebe dir Frieden!“ Bei allen, die sich diesem Frieden nicht ver­schließen, zieht er ins Herz ein und erfüllt es mit himmlischer Freude, mit Ruhe und Geborgen­heit, auch unter schwie­rigsten äußeren Lebens­verhältnis­sen. Es ist so, wie wenn die Mutter ihr geängstetes Kind auf den Schoß nimmt und liebevoll umarmt. Jesaja sagte: „Ihre Kinder sollen auf dem Arme getragen weden, und auf den Knien wird man sie liebkosen.“

Liebe Gemeinde, wahren Frieden und die ewige Seligkeit finden wir nur beim himmlischen Vater, nur durch Jesus und nur bei der Mutter Kirche, wo das Evangelium von Jesus zu finden ist. Darum kommt die Kirche auch aus­drücklich in unserm Glaubens­bekenntnis vor: „Ich glaube an eine heilige christliche Kirche, die Gemeinde der Heiligen.“ Es ist das neue Jerusalem, das nicht an einem bestimmten Punkt auf der Weltkugel fest­zumachen ist, sondern das überall da zu finden ist, wo Christen sich um ihren Herrn und seine Gnaden­mittel sammeln, um Wort und Sakrament. Denn da ist die Nahrung zu finden, mit der alle Menschen für die Ewigkeit satt werden können. Das neue Jerusalem ist eine gesunde und reiche Mutter; sie wird noch viele Kinder zur Welt bringen und kann sie alle ernähren. Es besteht also kein Grund, diese Mutter zu meiden oder von ihr weg­zuziehen, so wie viele Menschen die Städte in Brandenburg verlassen, weil sie dort nicht mehr Lohn und Brot finden. Wichtig ist aber, dass wir uns nicht täuschen lassen und dass wir geistliche Nahrung nur dort suchen, wo unsere Mutter ist. Wichtig ist, dass wir uns bei geistlicher Gemein­schaft ver­gewissern: Was wird da über Jesus gepredigt? Ist es wirklich dasselbe Evangelium, das schon die Apostel gepredigt haben, oder ist es etwas anderes? Sind es wirklich die Sakramente Taufe und Abendmahl, wie Jesus sie eingesetzt hat, oder macht man etwas anderes daraus? Unser luthe­risches Bekenntnis ist hier eine gute Hilfe. Es sagt uns ganz klar, wo wir die Mutter Kirche finden können, das neue Jerusalem, die Stadt, die schon Jesaja geweissagt hat. Es heißt im 7. Ar­tikel des Augsburger Bekennt­nisses: „Die Kirche ist die Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2012.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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