Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Es gibt Ereignisse, da wissen wir nicht, wie sie vonstatten gehen: Ein Kranker wird überraschend gesund; jahrelange Feinde versöhnen sich plötzlich; ein Volk bewirkt mit einer gewaltlosen Revolution seine Wiedervereinigung. Wenn wir nicht verstehen, wie etwas geschieht, dann wundern wir uns und sprechen folglich von einem Wunder. Auch Wunder der Technik kennen wir: Ein Flugzeug fliegt am Himmel und fällt nicht herunter, obwohl es viel schwerer als Luft ist. Zwei Leute unterhalten sich miteinander über Handys, obwohl der eine gerade in Australien im Autobus sitzt und der andere in Deutschland mit der Eisenbahn fährt. Und mithilfe einer kleinen silbernen Scheibe können wir uns einen abendfüllenden Spielfilm in bester Qualität anschauen. Da wundern wir uns, weil wir nicht wissen, wie es geschieht – jedenfalls nicht so genau.
Gewundert haben sich die Leute schon immer. Besonders verblüfft waren die Menschen vor 2000 Jahren im Heiligen Land über die Wunder Jesu. In unserem Predigttext haben wir gehört, wie Jesus einen Stummen heilte. Niemand konnte erklären, wie er das gemacht hat, und darum heißt es: „Die Menge verwunderte sich.“ Bei dem Stummen wie auch bei vielen anderen Menschen hat Jesus etwas in Ordnung gebracht, was vorher nicht in Ordnung war, und die Leute hatten keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist.
Wirklich keine Ahnung? Ein bisschen Ahnung hatten sie schon. Und Ahnung hatte auch der Arzt Lukas, der das in seinem Evangelium aufgeschrieben hat. Sie alle wussten: Die Behinderung des Stummen war darauf zurückzuführen, dass ein böser Geist von ihm Besitz ergriffen hatte. Sie wussten auch, dass Jesus diesen bösen Geist vertrieben hatte und der Mann deshalb wieder reden konnte. Das kommt uns modernen Menschen allerdings merkwürdig vor. Geister, das sind heutzutage für die meisten Leute lediglich animierte Figuren in Gruselfilmen oder Kinder, die sich zu Halloween verkleiden. Wenn jemand stumm ist, dann führen wir das nicht auf einen bösen Geist zurück, sondern dann suchen wir nach einer medizinischen Erklärung. Wir denken: Vielleicht hat der Mann eine Kehlkopfkrankheit und kann deshalb nicht sprechen, oder die Nerven im Sprachzentrum seines Gehirns sind kaputt. Wenn ein Stummer wieder reden kann, dann würden wir vermuten: Das, was an seinem Körper krank war, hat ein Arzt wieder in Ordnung gebracht, oder es ist von selbst geheilt.
Stellen wir diese beiden Ahnungen ruhig mal einander gegenüber – die Ahnung von damals und die Ahnung von heute, die Geister-Ahnung und die naturwissenschaftliche Ahnung. Wenn wir das tun, dann kann uns etwas klar werden, was zum weiteren Verständnis dieses Bibeltextes und auch darüber hinaus ungeheuer wichtig ist. Es kann uns damit nämlich klar werden, dass es zwei Welten gibt: eine geistige Welt und eine materielle Welt. In der geistige Welt herrschen Geistwesen, in der materiellen Welt herrschen Naturgesetze. Wir Menschen sind Wesen beider Welten, wir leben gleichzeitig parallel in ihnen. Wir haben einen Geist beziehungsweise eine Persönlichkeit wie die anderen Wesen in der geistigen Welt, also wie die Engel und wie die bösen Geister und wie Gott selbst: Wie sie können wir denken, sprechen und kreativ sein. Zugleich aber haben wir einen materiellen Körper wie die Tiere und die Pflanzen und die Dinge der materiellen Welt; biologisch sind wir den Säugetieren zum Verwechseln ähnlich. Nun meinen allerdings viele moderne Menschen, die materielle Welt sei das Eigentliche und einzig Wirkliche. Den menschlichen Geist halten sie bloß für eine spezielle Funktion der 1,3 Kilogramm Hirnmasse. Das ist nichts anderes als die Philosophie des Materialismus, die sich unter uns breit gemacht hat: Da wird alles von der Materie her gesehen und erklärt. Der moderne Mensch ist noch dazu so eingebildet zu meinen, dass er mit dieser materiellen Sicht der Dinge der Wirklichkeit am nächsten kommt. Erklärungen von der geistigen Welt her hält er für rückständig oder naiv. Aber wenn es in ein paar hundert Jahren noch Menschen auf der Erde geben sollte, dann werden sie unser heutiges materialistisches Weltbild vermutlich für ebenso rückständig halten wie heute viele das geistige Weltbild von früher. Sicherlich waren die Menschen zur Zeit Jesu naturwissenschaftlich ziemlich ahnungslos; aber umgekehrt gilt: Die naturwissenschaftlich orientierten Menschen unserer Zeit sind hinsichtlich der geistigen Welt ziemlich ahnungslos. Die Bibel aber lehrt uns, dass es beide Welten gibt und dass beide sich real auf unser menschliches Leben auswirken: die Welt der Geistwesen und die Welt der Materie.
Das bedeutet im Blick auf den Stummen und jeden anderen Behinderten oder Kranken: Seine Krankheit hat nicht nur eine medizinische Dimension, sondern auch eine geistige Dimension. Nicht nur materiell ist etwas in Unordnung geraten, so wie bei einem mechanischen Gerät ein Bauteil schadhaft werden kann, sondern auch geistig ist etwas in Unordnung geraten: Ein böser Geist, ein Diener des Teufels, will einen Menschen mit solcherlei Störungen ärgern und letztlich an Gottes Güte verzweifeln lassen. Darum ist die Diagnose „böser Geist“ ebenso richtig wie eine medizinische Diagnose – die eine aus dem Blickwinkel der geistigen Welt, die andere aus dem Blickwinkel der materiellen Welt.
Nach der Heilung des Stummen diskutierte Jesus mit der erstaunten Menge. Diese Diskussion können wir nur verstehen, wenn wir beachten: Sie bezieht sich auf die geistige Dimension des Geschehenen. Dabei war sowohl Jesus als auch allen anderen klar: Es gibt böse Geister; sie sind gefallene Engel, die Gott den Gehorsam aufgekündigt haben. Sie haben es darauf abgesehen, all das kaputt zu machen, was Gott sehr gut geschaffen hat. Ihr Anführer heißt Satan. Er wird manchmal auch spöttisch „Beelzebul“ genannt; auf deutsch: „Herr der Fliegen“. Jesu Feinde behaupteten nach der Heilung des Stummen, Jesus stehe mit Beelzebul im Bunde und besiege durch dessen Macht die bösen Geister. Sie meinten also, Jesus würde nur zum Schein etwas in Ordnung bringen mit seinen Heilungen; in Wahrheit arbeite er jedoch darauf hin, die Menschen ins Verderben zu stürzen. Andere Augenzeugen der Heilung waren nicht sicher, was sie von Jesus halten sollten, und wollten mehr Wunder sehen, bevor sie sich eine Meinung über ihn bildeten.
Jesus wendete sich zunächst an die Gruppe der Widersacher. Er argumentierte dabei so: „Jedes Reich, das mit sich uneins ist, wird verwüstet, und ein Haus fällt über das andre. Ist aber der Satan auch mit sich selbst uneins, wie kann sein Reich bestehen?“ Das leuchtet ein, und das gilt ganz allgemein: Wenn in irgendeiner Gemeinschaft die Leute gegeneinander kämpfen, dann wird diese Gemeinschaft früher oder später zerfallen. Man kann das zum Beispiel an politischen Parteien beobachten: Wenn die Entscheidungsträger einer Partei hauptsächlich in Machtkämpfe untereinander verwickelt sind, dann ist mit dieser Partei kein Staat zu machen, und die Umfragewerte rutschen in den Keller. Wenn also Satan und die bösen Geister untereinander zerstritten wären, dann könnten sie nicht viel ausrichten. Aber leider ist Satan mit den bösen Geistern immer noch bestens aufgestellt: Sie arbeiten unheimlich gut zusammen auf das gemeinsame Ziel hin, Gottes Werke kaputt zu machen und Menschen auf ihre Seite zu ziehen.
Jesus nannte noch ein zweites Argument gegen seine Widersacher: „Wenn ich die bösen Geister durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein.“ Unter den Juden gab es Heiler, die sich redlich darum bemühten, den Einfluss böser Geister von Menschen abzuwenden und sie auf diese Weise zu heilen. Jesus nannte sie „eure Söhne“. Keiner der Feinde Jesu, die sich ja für fromme Menschen hielten, zweifelte daran, dass diese Heiler im Einklang mit Gott dem Herrn handelten. Jesus zeigt nun: Es ist ungerecht, wenn man ihn nicht ebenso wohlwollend beurteilt wie jene, denn er tut ja nichts anderes: Er treibt böse Geister aus und heilt.
Die beiden Gegenargumente sind nun allerdings nicht das Wichtigste in der Rede Jesu. Das Wichtigste sagte Jesus vielmehr mit folgenden Worten: „Wenn ich durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen. Wen ein Starker gewappnet seinen Palast bewacht, so bleibt, was er hat, in Frieden. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt die Beute.“ Beachten wir: Jesus redet ganz aus der Perspektive der geistigen Welt! Der „Starke“, von dem er spricht, ist Satan, und der „Palast“ ist Satans Machtbereich. Die bösen Geister sind Satans Untergebene. Sie sind ihm zu Willen und schützen seinen „Palast“, seinen Machtbereich. Der „Stärkere“ aber ist niemand anders als Jesus selbst. Er ist gekommen, um die Werke des Satans zu zerstören. Er ist gekommen, um in Beelzebuls Machtbereich einzubrechen und ihm sein schmutziges Handwerk zu legen. Zum Zeichen dafür hat er Kranke geheilt. Er zeigte damit: Was der Teufel kaputt macht, das mache ich wieder heil. Wo der Teufel seinen Machtbereich behaupten will, da wird er von Gottes Machtbereich verdrängt, also vom Reich Gottes und seiner Engel. Besessenheit ist nichts anderes als ein Besitzanspruch des Teufels, und genau diesen Besitzanspruch macht Jesus ihm streitig, wenn er Besessene heilt.
Liebe Brüder und Schwestern in Christus, wir können uns glücklich preisen, dass wir zum Machtbereich des Stärkeren gehören: zum Machtbereich des Herrn Jesus Christus, zu Gottes Reich. Das hat Gott uns mit der heiligen Taufe geschenkt und besiegelt. Zwar gibt es auch unter uns immer noch Krankheiten, Behinderungen und andere leidvolle Zustände, die so aussehen, als wollte der Teufel kaputt machen, was Gott sehr gut geschaffen hat. Aber wir können gewiss sein: Besitzen kann Satan uns nicht mehr mit seinen bösen Geistern, denn wir gehören auf Gottes Seite. Aus der Perspektive der geistigen Welt wohnen wir nicht im Palast des „Starken“, sondern im Reich des „Stärkeren“. Und all das, was noch Satans Zerstörungswerk in unserem Leben zu sein scheint, das dient in Wahrheit dem Heilswerk Jesu. Er will ja auch bei uns alles in Ordnung bringen, was nicht in Ordnung ist – wie er es bei dem Stummen damals getan hat. Darum können wir mit Paulus bekennen: „Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind“ (Römer 8,28). Berufen hat uns Jesus aber letztlich dazu, dass wir in Gottes Reich ewig leben. Dieses Ziel steht uns klar vor Augen. Da wird Jesus dann sein Werk vollenden. Da wird Jesus, der Stärkere, dann alles bei uns in Ordnung gebracht haben, was noch nicht in Ordnung ist. Da wird dann die materielle Welt so, wie wir sie heute kennen, vergangen sein. Gott wird dann einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen – geistige und materielle Welt werden dann in vollkommener Harmonie miteinander verschmelzen, und alle Zerstörungsversuche des Satans werden dann vergessen sein. Amen.
PREDIGTKASTEN |