Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Eine Besonderheit bei Gottesdiensten zum Neujahrsfest besteht darin, dass es zwei verschiedene Evangeliumslesungen dafür gibt. Die eine handelt vom kleinen Jesus, die andere vom großen. Die eine bezieht sich auf das Fest der Beschneidung und Namengebung unseres Herrn acht Tage nach seiner Geburt, die andere bezieht sich auf den Beginn eines neuen Kalenderjahrs und berichtet vom Auftritt Jesu in der Synagoge von Nazareth. Die eine haben wir vorhin gehört, die andere eben als Predigttext.
Gottes Sohn kam in Bethlehem zur Welt und erhielt dort acht Tage später den Namen Jesus, auf deutsch „Retter“. Als wenig später König Herodes auf ihn aufmerksam wurde, konnten Maria und Josef mit ihrem kleinen Sohn nicht in ihre Heimatstadt Nazareth zurückkehren, sondern mussten für einige Jahre in Ägypten um Asyl bitten. Dann aber kehrten sie nach Nazareth zurück. Dort wuchs Jesus auf und lernte das Handwerk seines Vaters: Er wurde ein Zimmermann. Das tat er so lange, bis sein himmlischer Vater ihn an sein besonderes Werk rief. Gott tat es, indem er Jesus durch Johannes taufen ließ, indem er ihn „salben“ ließ für seinen Auftrag, wie es auch heißt. Jesus wurde „gesalbt“ als der versprochene Prophet, Priester und König. Viele glaubten, dass er dieser langersehnte Gesalbte ist, auf hebräisch „Messias“, auf Griechisch „Christos“. Zu der Zeit wohnte Jesus nicht mehr in Nazareth, sondern er war nach Kapernaum umgezogen. Von dort aus begann er, im Land umherzuziehen. Seine Wege führten ihn dabei auch wieder nach Nazareth, den Ort seiner Kindheit und Jugend.
Hier setzt unser Neujahrsevangelium ein. Wir lesen: „Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge…“ Wie allen frommen Juden war es Jesus klar, dass man nach sechs Arbeitstagen einen Ruhetag einlegen soll, den Sabbat. Diesen siebenten Tag hat Gott geheiligt. Die Feiertagsheiligung geschieht dadurch, dass man in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen Gottes Wort hört und ihn anbetet. Im Grunde genommen gilt das für uns Christen heute noch ebenso wie für die Juden damals, nur dass wir sonntags in die Kirche gehen, während die Juden damals am Sabbat in die Synagoge gingen. Auch der Ablauf unseres Sonntagsgottesdienstes hat Ähnlichkeit mit dem Ablauf eines Synagogengottesdienstes zu Jesu Zeit: Am Beginn stehen Lobpreis und Anbetung, dann folgen zwei Lesungen und dann eine Predigt. Während wir aber in unseren Gottesdiensten eine Brieflesung und eine Evangelienlesung aus dem Neuen Testament hören, so hörten die Synagogenbesucher damals erst einen Abschnitt aus den fünf Büchern Mose und dann einen Abschnitt aus den Prophetenbüchern des Alten Testaments. Wir sind es von unseren Gottesdiensten gewohnt, dass ein Pastor den Gottesdienst leitet und zugleich vieles selbst macht: auf alle Fälle die Predigt, aber auch Gebete und Lesungen, wenn nicht gerade ein Lektor dafür da ist. Das war zu Jesu Zeit anders: Zwar gab es einen Synagogenvorsteher, der den Gottesdienst leitete, aber die Lesungen, die Predigt und andere Teile wurden von verschiedenen anwesenden Männern übernommen. Sie wurden entweder vom Synagogenvorsteher dazu aufgefordert oder meldeten sich freiwillig.
Jetzt können wir uns den Synagogengottesdienst in Nazareth, von dem unser Predigttext berichtet, besser vorstellen. Es heißt da: „Jesus stand auf und wollte lesen. Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht.“ Der Gottesdienst war schon zum größten Teil vorbei; Lobpreisteil und erste Lesung waren vorüber. Da meldete Jesus sich für die zweite Lesung, also die aus den Prophetenbüchern. Der Synagogenvorsteher ging an den wuchtigen Holzkasten, der vor aller Augen stand, und holte aus ihm eine Rolle hervor, die in ein Tuch gehüllt war. Er packte sie aus und gab sie Jesus, dem freiwilligen Lektor. Jesus stellte sich auf den erhöhten Platz des Vorlesers, legte die Rolle auf einem Pult vor sich ab und entrollte sie lange, bis fast an ihr Ende. Es war eine Schriftrolle vom Prophetenbuch Jesaja. Eine ganz bestimmte Stelle suchte Jesus, fand sie auch und begann zu lesen: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“ Danach rollte er die ganze Schriftrolle ruhig wieder zusammen, gab sie zurück und setzte sich auf den Stuhl, der auf dem Sockel stand. Dieser Stuhl war für den Prediger gedacht (vorgelesen wurde im Stehen, aber gepredigt im Sitzen). Indem Jesus sich auf diesen Stuhl setzte, zeigte er den Menschen: Ich möchte auch den letzten Teil des Gottesdienstes übernehmen, die Predigt nämlich.
Machen wir uns klar: Jesus war als Gast in die Synagoge von Nazareth gekommen, er wohnte ja eigentlich in Kapernaum. Dennoch war er hier kein Fremder; er war in Nazareth aufgewachsen. Seine früheren Spielkameraden saßen da in der Gemeinde, seine Verwandten und seine Arbeitskollegen, mit denen zusammen er Häuser errichtet hatte, als er noch ein Zimmermann war. Die waren natürlich alle neugierig und sehr gespannt, was Jesus denn predigen würde. Der Evangelist Lukas berichtet: „Aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.“
Ja, und dann predigte Jesus. Er hielt eine sehr kurze Predigt. Sie bestand nur aus einem einzigen Satz. Wenn ich hier sonntags eine so kurze Predigt halten würde, dann würdet ihr euch wahrscheinlich veräppelt vorkommen. Aber letztlich ist ja nicht die Länge einer Predigt das Entscheidende, sondern ihr Inhalt. Der Inhalt von Jesu Predigt war das volle Evangelium, Gottes wichtigste Botschaft an alle Menschen, ja, die wichtigste Botschaft der Welt überhaupt. Jesu Predigt lautete so: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“
Das Jesajawort war erfüllt, weil eben jener Gesalbte jetzt mitten unter den Hörern war, von dem Jesaja prophezeit hatte. Jesus ist der Gesalbte, der Armen das Evangelium predigt. Auch uns Armen predigt er dieses Evangelium, die wir so arm sind an Liebe, so arm an guten Werken, so arm an Glauben. Er sagt uns die frohe Botschaft, dass er uns reich machen will. Jesus ist der Messias, der Blinde sehend macht. Er hat nicht nur einigen Sehbehinderten das Augenlicht wiedergegeben, sondern er hat gemacht, dass alle Menschen, von Natur aus geistlich blind, durch ihn Gottes Liebe erkennen können. Auch unsere geistliche Blindheit kann Jesus heilen: Wenn er uns begegnet durch sein Wort, dann sehen wir Gottes Liebe. Jesus ist der Christus, der den Gefangenen und den Zerschlagenen die Freiheit schenkt. Wer unter der Knechtschaft der Sünde lebt und unter dem Sklaventreiber Satan stöhnt, der darf nun aufatmen: Jesus schenkt Freiheit durch Vergebung der Sünden; Jesus befreit von Tod und Teufel; Jesus schenkt ewiges Leben.
Wisst ihr, was ein Jubeljahr ist? Ihr kennt es sicher aus der Redewendung „alle Jubeljahre“. Ein Jubeljahr war im alten Israel ein Erlassjahr oder Gnadenjahr nach 49 normalen Jahren. „Alle Jubeljahre“ bedeutet also eigentlich „alle fünfzig Jahre“, und unser Wort „Jubiläum“ hat da auch seinen Ursprung. Im Jubeljahr, im fünzigsten Gnadenjahr, mussten in Israel die Sklaven frei gelassen werden. Der Prophet Jesaja hatte nun angekündigt, dass der verheißene Messias ein besonderes und universelles Gnadenjahr mit sich bringen wird, wo alle Menschen frei werden. Jesus selbst hatte diese Verheißung in der Synagoge von Nazareth vorgelesen: „Der Herr hat mich gesalbt, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn“, und er hatte in seiner Predigt kurz und klar ausgelegt: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“
Das Jubeljahr, das Jesaja vorausgesagt hatte und das Jesus in der Synagoge von Nazareth ausrief, das ist immer noch nicht zu Ende. Die Freiheit der Gotteskindschaft, die Jesus bringt, hört niemals auf. Darum ist seit Jesu Kommen jedes Jahr ein Jubeljahr, ein Erlassjahr, ein Gnadenjahr – auch das soeben angebrochene neue Jahr! Amen.
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