Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Autisten sind Menschen, die wie auf einer Insel leben. Sie können nur begrenzt mit der Welt um sich herum in Beziehung treten. Autismus ist eine Entwicklungsstörung, die nicht geheilt werden kann. In Anlehnung an diese allseits bekannte Behinderung möchte ich jetzt von einem geistlichen Autismus sprechen. Er ist weniger offensichtlich, aber er betrifft das Glaubensleben vieler Christen in der heutigen Zeit. Mit ihrem Glauben leben sie wie auf einer Insel, sehen nicht nach links und rechts, nicht nach vorn und hinten. Es kommt vor, dass Christen sogar mit nahestehenden Menschen nicht über Gott reden: mit Eltern, Kindern, Freunden, Freundinnen, Nachbarn oder Arbeitskollegen. So wie in früheren Generationen das Sexualleben ein Tabuthema war, so ist in der heutigen Zeit für viele das Glaubensleben ein Tabuthema. Sogar bei der Kirchgliedschaft wirkt sich der geistliche Autismus vieler aus: Da gibt es Leute, die kennen ihre Mitchristen in der Gemeinde nicht und wollen sie auch gar nicht kennenlernen; sie bleiben bewusst den Gottesdiensten und anderen Gemeindeveranstaltungen fern.
Diser geistliche Autismus ist zum Glück heilbar; die Therapie finden wir in Gottes Wort. Wir finden sie hier am Anfang des Briefes, den der Apostel Paulus ursprünglich für die christliche Gemeinde in Philippi geschrieben hat. Dabei hätte Paulus selbst allen Grund gehabt, sich in einen geistlichen Autismus zurückzuziehen: Er war zu der Zeit nämlich ein Gefangener; wahrscheinlich befand er sich gerade in Rom und stand dort unter Hausarrest. Sein aktiv gelebter Glaube und seine Missionstätigkeit hatten ihn in diese Lage gebracht. Aber Paulus verkroch sich mit seinem Glauben nun keineswegs in ein Schneckenhaus, sondern machte das Beste aus seinen widrigen Lebensumständen; er sah nach links, nach rechts, nach hinten und nach vorn.
Der geistliche Blick nach links und nach rechts zeigte dem Apostel, dass er auch als Gefangener mit seinem Glauben nicht allein war. Er kannte ja unzählige Christen in vielen Gemeinden, mit denen er sich auch jetzt noch brüderlich verbunden fühlte; dazu gehörten die Philipper. Diese Verbundenheit bestand nicht nur in irgendwelchen Erinnerungen und Gedanken an sie, diese Verbundenheit äußerte sich vielmehr tagtäglich im Gebetsleben des Paulus. Er schrieb: „Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke – was ich allezeit tue in allen meinen Gebeten für euch alle, und ich tue das Gebet mit Freuden – ‚ für eure Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tag an bis heute.“ Wir sehen: Paulus tat in seinen Gebeten nicht nur Fürbitte, sondern auch Fürdank! Das ist sogar das Allererste, was er in seinem Brief nennt. Diese Verbundenheit im Gebet überwindet Gefängnismauern und überbrückt weite Entfernungen. Diese Verbundenheit im Gebet macht auch deutlich, was das Besondere an christlicher Gemeinschaft ist: Sie besteht nicht durch Verwandtschaft, Sympathie oder gemeinsame Interessen, sondern sie besteht durch das gemeinsame Anteilhaben am Evangelium von Jesus Christus. Die christliche Gemeinschaft ist ein stabiles Dreier-Bündnis mit den Eckpunkten Christus, Mitchrist, ich. Gemeinschaft im Glauben heißt, gemeinsam von Gott Beschenkte zu sein, Begnadete, Erlöste, zum ewigen Leben Berufene. Im Gottesdienst und im Heiligen Abendmahl kommt diese Gemeinschaft besonders schön zum Ausdruck: im gemeinsamen Hören auf den Herrn, im Empfangen des Leibes und Blutes Jesu, im Gebet, in Fürbitte und Fürdank. Aber auch in der geschwisterlichen Liebe äußert sich diese Gemeinschaft, im gegenseitigen Geben und Nehmen – je nachdem, wie einer Not oder Gaben hat. Auch die Philipper hatten ihren geistlichen Vater Paulus nicht vergessen. Sie wollten ihn in seiner schwierigen Lage unterstützen und hatten ihm deswegen ein Geldgeschenk in seine Gefangenschaft geschickt. Paulus erwiderte diese Gabe mit einem wunderschönen geistlichen Geschenk, eben mit dem Philipperbrief, der viel Trost und Evangeliumsfreude enthält. Darin gibt er den Philippern ein Zeugnis, wie verbunden er sich ihnen fühlte. Er schrieb: „Ich habe euch in meinem Herzen, die ihr alle mit mir an der Gnade teilhabt in meiner Gefangenschaft und wenn ich das Evangelium verteidige und bekräftige.“
Aber Paulus blickte nicht nur nach links und rechts, sondern auch nach hinten und nach vorn. Er blickte zurück auf die Anfänge der Gemeinde in Philippi und sprach von dem, „der in euch angefangen hat das gute Werk“. Er blickte voraus auf das Wiederkommen Christi und die ewige Seligkeit, also auf das gemeinsame Ziel aller Christen. Im Blick auf dieses Ziel verhieß er, dass Gott das begonnene gute Werk auch vollenden wird bis an den Tag Christi. Er legte den Philippern ans Herz, zwischen diesem Anfang und diesem Ziel den Weg des Glaubens treu weiterzugehen. Er wollte nicht, dass sie in geistlichem Autismus stehenbleiben, sondern dass sie innerlich wachsen, sich entwickeln, Fortschritte machen, reifen. Er schrieb ihnen daher auch: „Ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung, sodass ihr prüfen könnt, was das Beste sei, damit ihr lauter und unanstößig seid für den Tag Christi, erfüllt mit Frucht der Gerechtigkeit durch Jesus Christus zur Ehre und zum Lobe Gottes.“
Ebenso wie Paulus war auch Martin Luther kein geistlicher Autist. Manchmal wird das ja so verzerrt dargestellt, als ob Luther als Einzelkämpfer und herausragende Persönlichkeit das Werk der Reformation gestemmt hat. Das war aber keineswegs der Fall. Luther blickte sehr wohl nach links und nach rechts und nahm dankbar wahr, dass Gott ihm Gemeinschaft mit vielen Mitchristen und geistlichen Mitstreitern schenkte. Ohne sie hätte die Reformation nicht gelingen können. Bereits der Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 war keine einsame Protesthandlung, sondern eine Einladung an Mitchristen zum Gespräch. Luther wollte mit den Theologen seiner Zeit über den Ablasshandel diskutieren, um dann gemeinsam unter Bibelstudium und Gebet Gottes Wahrheit zu erkennen. Als sich die Kirchenoberen diesem Gespräch verweigerten und Luther sogar aus der Kirche ausschlossen, da standen ihm viele andere Mitchristen bei. Da gab es den hochgelehrten Philipp Melanchthon, der in allen Geisteswissenschaften zu Hause war und unter anderem das Hauptbekenntnis der Reformation verfasste, die Augsburger Konfession. Da gab es den politischen Gönner und Beschützer Friedrich den Weisen, den Kurfürsten von Sachsen, der gegen Papst und Kaiser zu Luther hielt und mit kluger Bündnispolitik dafür sorgte, dass der mutige Reformator nicht als Ketzer auf dem Scheiterhaufen endete. Friedrich der Weise war es auch, der Luther bei einem vorgetäuschten Überfall eine Weile von der Bühne des Zeitgeschehens holte und ihn auf der Wartburg versteckte. Und dann will ich hier aus den vielen anderen noch Hans Lufft herausgreifen, den Wittenberger Buchdrucker, Luthers Verleger. Er half mit, dass Luthers reformatorische Schriften und vor allem auch seine Bibelübersetzung sich in tausenden von Exemplaren schnell in ganz Europa ausbreiteten. Wir sehen: Das Evangelium kam durch die Reformation nur deshalb wieder ans Licht, weil Luther und seine Mitstreiter keine geistlichen Autisten waren, sondern weil sie unter dem einen Herrn und Heiland Jesus Christus ein mutiges Netzwerk bildeten. Diesem Netzwerk konnte der Teufel nichts anhaben.
Wie Paulus nach hinten und nach vorn gesehen hatte, so sah auch Luther nach hinten und nach vorn. Er hielt sich nicht autistisch für den Mittelpunkt aller christlichen Erkenntnis, sondern ging demütig bei den Aposteln und den Vätern der Kirche in die Schule. Er wollte nichts anderes lehren, glauben und bekennen, als was alle rechten Christen vor ihm bekannt hatten – ohne eigene Zusätze, aber auch ohne Abstriche. Die Reformation war für ihn keine Revolution und auch keine Einführung von Neuerungen, sondern das, was der Begriff eigentlich aussagt: eine Rück-Formation, eine Rückformung, eine Rückbesinnung auf die eine apostolische Kirche und auf die Lehre der Apostel. Dabei hat Luther zu keiner Zeit die Reformation als ein abgeschlossenes Werk betrachtet; das war sie ja auch nicht, so lange er lebte. Luther sah sich vielmehr immer auf dem Weg; er war ein Jünger, ein Lernender. Stets hat er die Bereitschaft bekundet, sich auf der Grundlage der Heiligen Schrift eines Besseren belehren zu lassen und eventuelle Irrtümer zu revidieren. Bei diesem Weg stand ihm genau wie Paulus das herrliche Ziel der ewigen Seligkeit deutlich und strahlend vor Augen. Über dieses Unterwegs-Sein zwischen Gestern und Morgen hat Luther selbst geschrieben: „Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Frommwerden; nicht Gesundsein, sondern ein Gesundwerden; nicht Sein, sondern Werden; nicht Ruhe, sondern Übung. Wir sind es noch nicht, wir werden‘s aber. Es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber im Gang und Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es blüht und glänzt noch nicht alles, es bessert sich aber alles.“
Liebe Brüder und Schwestern in Christus, Luther, Paulus und die Worte aus dem Philipperbrief sind auch für uns die richtige Medizin beziehungsweise Prophylaxe gegen geistlichen Autismus. Wie wunderbar und tröstlich ist es, dass wir nicht wie Einsiedlermönche leben müssen, sondern dass es um uns herum und auf der ganzen Welt Mitchristen gibt, die zusammen mit uns Anteil haben am Evangelium des Herrn Jesus Christus! Gemeinsam sind wir Beschenkte, Begnadete, Geheiligte und zum ewigen Leben Berufene. Wir erfahren es, wenn wir uns hier im Gottesdienst um das Wort unseres Herrn versammeln und ihn gemeinsam loben. Wir erfahren es in einzigartiger Weise, wenn wir zusammen am Altar knien, den einen für uns gebrochenen Leib des Herrn empfangen und aus einem Kelch sein Blut trinken zur Vergebung unserer Sünden. Wir erfahren es im täglichen Gebet, besonders bei Fürbitte und Fürdank: Wir dürfen andere um ihre Fürbitte bitten und sie ebenso wissen lassen, dass wir für sie beten. Wir dürfen uns gegenseitig helfen und dienen je nach Not und empfangenen Gaben. Wir dürfen uns gegenseitig beschenken, trösten, ermahnen und erfreuen. Auch wenn wir allein sind oder die einzigen Christen weit und breit, können wir uns doch daran erinnern, dass unsichtbare Bänder uns mit unzähligen anderen Christen in der ganzen Welt verbinden.
Dennoch kann es vorkommen, dass wir uns einsam, klein und schwach fühlen mit unserem Glauben. Wir sehen uns dann bedroht wie eine kleine Insel im Seesturm. Dann hilft es, nach hinten und nach vorn zu schauen: nach hinten zu den Aposteln und den vielen Christen, die vor uns den Weg gegangen sind unter großen Anfechtungen und die Gott doch ans gute Ziel geführt hat – wie zum Beispiel Paulus oder Martin Luther; nach vorn aber zu dem wunderbaren Ziel. Denn Gott hat uns ja versprochen, dass der Glaubensweg durch Kreuz und Leid nicht in den Untergang führt, sondern in seine Herrlichkeit. Lasst uns das nicht vergessen, sondern diesen Weg bejahen und freudig gehen. Gott will, dass wir auf diesem Weg wachsen und reifen; da gehört auch die Anfechtung mit dazu. Wenn wir uns von Gott immer wieder daran erinnern lassen, dann droht uns kein geistlicher Autismus, sondern dann wachsen wir gemeinsam auf die Vollendung unsers Heils hin. Amen.
PREDIGTKASTEN |